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Landstreitereien und korrupte Gerichte

Afghanistan: Auseinandersetzungen um Grund und Boden als Kampf auf Leben und Tod

Von Rebecca Murray, Nangarhar (IPS) *

Ein kleines Stück Land in der ostafghanischen Provinz Nangarhar hat einen zehnjährigen Streit ausgelöst, dessen Ende noch immer nicht absehbar ist. Auf der einen Seite steht Assadullah, der nach dem Sturz der Taliban 2001 in die Heimat zurückgekehrt ist, und auf der anderen Seite ein Holzunternehmer, der sich das Grundstück in Abwesenheit des Eigentümers überschreiben ließ. Assadullahs Geschichte ist schnell erzählt. Der Friseur, der Mitte der 1980er Jahre vor dem sowjetisch-afghanischen Krieg nach Pakistan geflohen war, fand 2001 auf seinem 450 Quadratmeter großen Land ein neues Haus vor, das von dem Geschäftsmann bewohnt wird.

Seither lebt Assadullah mit seiner Familie in einer Baracke am äußeren Ende des Grundstücks und wartet auf den Ausgang eines Gerichtsverfahrens. Vor seiner Flucht nach Afghanistan hatte er sich eine Besitzurkunde über sein Land ausstellen lassen. Doch die nützt ihm wenig, kann sein Rivale, der einflußreiche Politiker zu seinen Freunden zählt, doch ebenfalls ein entsprechendes Dokument vorlegen.

Seitdem kämpfen die beiden um die Besitzrechte über das Land, das mit den Jahren an Wert gewonnen hat. Wenn sie sich sehen, dann nur vor Gericht. Nachdem zwei Versuche gescheitert waren, den Fall durch eine Dschirga, einen traditionellen Gemeinderat, zu klären, reichte Assadullah Klage bei einem Regierungsgericht ein. Der Fall wurde zwar zu seinen Gunsten entschieden, das Urteil jedoch später von einem Berufungsgericht revidiert. Assadullah wartet nun auf den Spruch des Obersten Gerichtshofs, der letzten Instanz.

Nangarhar ist der Brotkorb Ost­afghanistans. Ressourcenreichtum und eine Straße, die Kabul mit Pakistan verbindet, das sind die Gründe, warum viele der ursprünglich aus den heute unruhigen Nachbarprovinzen stammenden Flüchtlinge, aber auch Hirten mit ihren Herden hierherkommen. Der Andrang hat die mehrheitlich von Paschtunen bewohnte Provinz zu einer der am dichtesten besiedelten Ecken des Landes gemacht.

Der Boom ließ die Grundstückspreise steigen. Die Böden im weitgehend ländlichen Afghanistan gehören zu fast 90 Prozent der Regierung. Für die Vergabe ist die Landbehörde »Arazi« zuständig.

Seit der US-geführten Invasion vor zehn Jahren hat die Gewalt im Zusammenhang mit Querelen um Land zugenommen. Deren Raub durch korrupte Regierungsvertreter und Warlords ist verbreitet. Brachliegende Grundstücke werden häufig ohne das Wissen der Eigentümer wiederverkauft oder in Besitz genommen.

An den Berghängen, die die Hauptstadt Kabul umgeben, leben die Menschen in primitiven Baracken, während sich die Mächtigen des Landes die besten und teuersten Grundstücke in der Innenstadt gesichert haben. Im vergangenen Sommer wurde der Bürgermeister der Stadt Kandahar, ­Ghulam Haider Hamidi, offenbar aus Rache getötet, weil er illegal auf Regierungsland errichtete Gebäude abreißen ließ.

»Es ist Teil unserer Kultur, daß sich Menschen gegenseitig umbringen, wenn sie um Land oder um Frauen streiten«, behauptet Rafiullah Bidar von der staatlichen Unabhängigen Menschenrechtskommission (AIHRC). In Dschalalabad, der Hauptstadt von Nangarhar, habe die AIHRC vor allem mit Landstreitigkeiten zwischen ethnischen Gruppen und der Regierung zu tun, berichtet er. Die Grundstückspreise stiegen ins Unermeßliche und die Korruption sei weit verbreitet.

Die Mehrheit aller Eigentümer wendet sich bei Landstreitigkeiten an die traditionellen Schiedsgerichte, weil sie weniger Zeit in Anspruch nehmen, um zu einem Urteil zu kommen. Die staatlichen Gerichte arbeiten langsam, verschlingen große Geldbeträge und gelten als korrupt.

Die gewalttätigsten Auseinandersetzungen um Grund und Boden in diesem Jahr wurden von zwei Untergruppen der Schinwari im südlichen Bezirk Achin ausgetragen. Der Fall zeigt, wie stark Landstreitigkeiten und Politik miteinander verwoben sind. Die Sepai und Alischerkhel kämpfen um einen 15 Quadratkilometer großen Wüstenstreifen. Obwohl als Agrarland nutzlos hat das Gebiet durch den Zustrom von Migranten und durch das Bevölkerungswachstum als Bauland an Wert gewonnen. Vor zwei Jahren hatten die USA die Sepai im Rahmen eines lokalen Stabilisierungsprogramms bewaffnet. Diese Waffen kamen nun bei den Zusammenstößen mit den Alischerkhel zum Einsatz, die wiederum beklagten, daß US-Truppen und afghanische Regierung für die Sepai Partei ergriffen hätten.

Nach der Bildung neuer Allianzen, der Unterstützung der Alischerkhel durch die Regierung und der Einberufung dreier hochrangiger Dschirgas zur Lösung des Disputs griffen Sepai im Oktober den Gouverneur von Nangarhar, Gul Agha Sherzai, an. Die Koalitionstruppen beantworteten die Attacke mit Bomben, die zahlreichen Sepai das Leben kosteten.

* Aus: junge Welt, 13. Dezember 2011


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