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"Die Zeit ist reif"

Gegen Korruption, für Frauenrechte: Fausia Kufi will erste Präsidentin Afghanistans werden. Die gestandene Parlamentarierin gilt nicht als chancenlos

Von Thomas Berger *

Das Jahr 2014 ist für Afghanistan wichtig: Das Parlament und das Staatsoberhaupt werden neu gewählt. Längst laufen die Vorbereitungen dafür, und der bisherige Machthaber im Präsidentenpalast, Hamid Karsai, bekommt Konkurrenz von ungewohnter Seite. Denn mit Fausia Kufi schickt sich auch eine gestandene Parlamentarierin an, nach dem höchsten Staatsamt zu greifen und dem Statthalter der US-Amerikaner und einer kleinen Clique von Warlords den Sieg streitig zu machen. Fausia Kufi ist nicht die erste Frau, die das versucht. Schon bei den ersten und zweiten Präsidentschaftswahlen gab es entsprechende Vorbilder. Doch weder Masooda Jalal, die 2004 kandidierte (mit 1,1 Prozent immerhin sechste unter 18 Bewerbern, danach zwei Jahre Frauenministerin in Karsais Regierung), noch Shala Afa und Frozan Fana als Kandidatinnen 2009 (mit 0,3 bzw. 0,5 Prozent der Stimmen) konnten einen Achtungserfolg verbuchen. Es war mehr das Signal, das zählte.

Die Kandidatur Kufis ist keineswegs ein Akt grenzenloser Selbstüberschätzung. Das wird beim näheren Blick auf diese außergewöhnliche Persönlichkeit schnell deutlich. Sie schaffte seinerzeit nicht nur als eine von ganz wenigen Frauen in direkter Wahl den Sprung ins Parlament und erreichte für eine zweite Legislaturperiode eine noch höhere Stimmenzahl. Kaum auf diesem seinerzeit noch ungewohnten Terrain der nationalen Politik angekommen, wurde sie überraschend sogar zur stellvertretenden Vorsitzenden des Parlaments gewählt, setzte sich dabei gegen eine Reihe weitaus bekannterer und einflußreicherer (männlicher) Kandidaten durch. Gegenwärtig führt sie die parlamentarische Frauenkommission und gehört zu den schärfsten Kritikerinnen von Amtsinhaber Karsai.

Es gibt nur wenige afghanische Frauen, deren Name im Ausland bekannt ist. Fausia Kufi gehört dazu – spätestens seit sie mit ihrem autobiographischen Buch »Letters to my Daughters«, auf deutsch unter dem Titel »Nur eine Tochter« erschienen, an die Öffentlichkeit getreten ist. In diesem Werk erzählt sie nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern illustriert zugleich, wofür sie als Präsidentschaftsanwärterin steht: den in vielerlei Hinsicht unterdrückten und dennoch im Alltag oftmals so starken Frauen ihres Heimatlandes eine Stimme zu geben, die Entwicklung in den Provinzen voranzubringen, für Aussöhnung einerseits und Aufarbeitung der Vergangenheit andererseits einzutreten sowie Mißwirtschaft und Korruption zu bekämpfen.

Geschundenes Land

Wer Afghanistan in seiner Komplexität, seinen aktuellen Herausforderungen und seinem langen Leidensweg auch nur ansatzweise verstehen will, für den ist »Nur eine Tochter« eine exzellente Einführungslektüre. Denn Fausia Kufi blickt darin zurück auf die ersten Modernisierungstendenzen im Land am Hindukusch, die es zunächst unter dem früheren König Sahir Schah und dann unter den volksrevolutionären Regierungen der 70er Jahre gegeben hatte. Eine Reminiszenz an eine Ära, in der zumindest in Kabul Studentinnen an der Universität sowie Frauen in gehobenen Positionen weitaus normaler waren als heute, da eine bis an die Zähne bewaffnete internationale Besatzertruppe namens ISAF Mädchen in manchen Fällen nicht einmal den ungefährdeten Grundschulbesuch zu sichern vermag. Fausia Kufi schildert aber auch die düstere Zeit all der internen Machtkämpfe, die eskalierten, als die Soldaten der sowjetischen Armee 1989 abzogen und das Land drei Jahre später mit dem Bruderkrieg der – von den USA mit Waffen versorgten – zerstrittenen Mudschaheddin-Fraktionen in völliges Chaos abglitt, das wiederum 1995 in der endgültigen Machtübernahme der radikalislamischen Taliban mündete.

Fausia Kufi ist heute 37. Es ist ein Wunder, daß sie überhaupt noch lebt: Als Tochter war sie ihren Eltern zunächst nicht willkommen, und selbst ihre Mutter ließ das Neugeborene zunächst in der prallen Sonne liegen. Das Verhältnis wandelte sich etwas später zu einem ganz innigen, und ihre Mutter wurde in vielerlei Hinsicht zu Fausias Vorbild. Das schildert die Politikerin ebenso eindrucksvoll wie den Überlebenskampf der ganzen Familie in immer unruhigen Zeiten. Schon Fausias Vater war Parlamentsabgeordneter, die Politik ist ihr somit quasi in die Wiege gelegt worden, wie sie anmerkt. Doch nach seiner Ermordung durch Mudschaheddin geriet das Leben der zuvor wohlhabenden Kufis völlig aus den Fugen. Aus der Heimatprovinz Badachschan im Norden fliehen Mutter und Kinder bis in die Hauptstadt Kabul. Fausia setzt gegen den Willen ihrer Brüder die Heirat mit dem Mann durch, den sie liebt, verliert diesen aber nach relativ kurzer Ehe, weil er an den gesundheitlichen Folgen seiner Haft und Mißhandlungen in den Kerkern der Taliban stirbt. Noch vor deren Sturz wird Fausia Kufi, die als erstes Mädchen aus ihrer Familie studiert hat, die einzige einheimische weibliche Führungskraft bei der UNICEF-Mission im Land, setzt sich für Bildungschancen und Gleichberechtigung ein.

Anschläge überlebt

»Die Zeit ist reif für eine Präsidentin«, glaubt die Mutter zweier Töchter im Teenageralter, denen sie in Briefform ihre Mission, aber auch die ständige Gefahr näherbringt, in der sie schwebt. Mehr als einmal ist sie Attentatsversuchen entkommen. Wie das etlicher anderer afghanischer Frauen, die öffentlich ihre Stimme erheben, ist auch ihr Leben bedroht. Doch Fausia Kufi will sich nicht einschüchtern lassen. »Mein größter Fehler ist offensichtlich, daß ich eine Frau bin«, sagte sie gegenüber dem Spiegel. Doch eine Frau »mit breiten Schultern« könne sogar das höchste Staatsamt ausfüllen und glaubhaft einen Neuanfang verkörpern. Denn es seien eben nicht ihre Geschlechtsgenossinnen gewesen, die das Land immer wieder mit Bürgerkrieg, Tod und Zerstörung an den Rand des Abgrunds brachten. »Ich denke, Afghanistan braucht neue Führer, denn die gleiche Gruppe von Leuten regiert das Land seit Jahrzehnten, gar Jahrhunderten«, betonte sie im Interview mit dem britischen Guardian. In ihrer Wahlkampagne setzt sie nicht nur auf die Stimmen der Frauen, sondern der jungen Generation insgesamt, die immerhin knapp 60 Prozent der Wahlberechtigten stellt. Menschen überall im ganzen Land, die einen echten Wandel statt nur den Austausch einiger Gesichter wollten, wie Fausia Kufi unter anderem im Gespräch mit Central Asia Online Anfang Oktober unterstrich. Sie wäre, sollte die Sensation 2014 gelingen, nicht nur die erste Frau im Präsidentenamt. Anders als Hamid Karsai, der lange Zeit im Ausland gelebt hat, und viele weitere Politiker pflegt sie die engen Verbindungen in ihre Heimatprovinz Badachschan, eines der infrastrukturell rückständigsten Gebiete des Landes. Jene Region im Nordosten, wo sie als neunzehntes von 23 Kindern zur Welt kam, die ihr Vater mit sieben Frauen hatte, und wo sie mit ihrem Überleben schon einmal ein Wunder schaffte.

Fausia Kufi: Nur eine Tochter. Eine Frau verändert Afghanistan, Kailash-Verlag (Random House), München 2011, 352 Seiten, 19,99 Euro; Taschenbuchausgabe von Goldmann, 9,99 Euro

* Aus: junge Welt, Freitag, 15. Februar 2013


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