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Chronik des Krieges gegen Afghanistan

Juli 2002

  • Bei einem US-Luftangriff ist am 1. Juli eine afghanische Hochzeitsgesellschaft bombardiert worden. Dabei sollen mindestens 40 Personen getötet und 70 verletzt worden sein. Die afghanische Nachrichtenagentur AIP meldete sogar 100 Tote. Die Bombardierung habe gegen 1 Uhr Ortszeit nordöstlich der Stadt Kandahar inn der Urusgan-Provinz stattgefunden. Die US-Streitkräfte hätten aus Kampfhubschraubern und Flugzeugen etwa zwei Stunden lang das Haus beschossen, in dem die Hochzeitsfeier stattfand. Das Pentagon gab zwei Versionen des Vorfalls heraus. Nach der einen sei die Besatzung eines Aufklärungsflugzeugs unter Artilleriefeuer geraten, sodass andere Maschinen des Verbands das Feuer erwidert hätten. Nach der anderen Version ist eine Bombe vom Ziel abgekommen.
    Auf einem von US-Truppen genutzten Flughafen im Osten Afghanistans sind am 1. Juli zwei Granaten explodiert. Es gab keine Verletzten.
  • Der afghanische Präsident Karsai bestellte am 2. Juli ranghohe US-Militärs ein. Er forderte die USA in "ungewöhnlich scharfer Form" auf, zivile Opfer künftig zu vermeiden.
  • Nach dem US-Bombenangriff auf eine afghanische Hochzeitsgesellschaft hat der Gouverneur der betroffenen Provinz die US-Truppen in Afghanistan vor einem Aufstand seiner Landsleute gewarnt. Sollten die US-Soldaten bei ihrer Suche nach Taliban- und Al-Qaida-Kämpfern weiter Zivilisten töten, werde sein Volk einen Heiligen Krieg gegen die Amerikaner führen, zitierte die Nachrichtenagentur AP am 5. Juli Dschan Mohammed Khan.
    Afghanische und US-amerikanische Ermittler sind bei der Suche nach Opfern des Bombenangriffs auf die Hochzeitsgesellschaft (1. Juli) nicht fündig geworden. Die Dorfbewohner haben sich geweigert, sie zu den Gräbern zu führen. Dagegen konnten Journalisten der Nachrichtenagentur AP die Gräber von 25 Opfern besichtigen. Journalisten von "Stars and Stripes" wurde ebenfalls angeboten, sie zu den Gräbern zu führen.
    330 von insgesamt 1.700 britischen Marines der Sondereinheit 45 Commando sind aus Afghanistan wieder in die Heimat zurückgeflogen. Offiziell ist damit die "Operation Jacana", der größte militärische Einsatz der Briten seit 1991, beendet, doch bleiben mehr als 2.000 Soldaten weiter im Land.
  • Am 6. Juli wurde der afghanische Vizepräsident und Minister für Infrastruktur Hadschi Abdul Kadir bei einem Attentat ermordet. Er wurde nach Verlassen seines Büros in seinem Auto von zwei oder drei Attentätern erschossen. Die Täter konnten flüchten. Der Paschtune Kadir galt als enger Vertrauter Karsais und war einer der einflussreichsten Männer Afghanistans. Nach der Machtergreifung der Taliban schloss er sich der Nordallianz an. Der Kabuler Polizeipräsident ließ nach der Tat zehn Sicherheitsleute des Ministeriums festnehmen. Er sei sich "hunderprozentig sicher", sagte er, "dass diese Leute darin verwickelt sind, sagte der Sicherheitschef des Innenministeriums.
    Die USA haben vor, ihre 7.000 Soldaten in Afghanistan verstärkt zur Sicherung der Kabuler Regierung einzusetzen. Militärschläge sollen weiter von kleinen Eliteeinheiten koordiniert werden, durchgeführt werden sollten sie aber von afghanischen Verbündeten. Dies berichtete die Washington Post (nach Frankfurter Rundschau vom 08.07.2002).
    Die US-Regierung plane keine verstärktes Engagement in Afghanistan, sagte der Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer, am 7. Juli (Ortszeit).
    Bei den Luftangriffen am 1. Juli sind nach einem afghanisch-amerikanischen Untersuchungsbericht, der am 7. Juli vorgelegt wurde, mindestens 48 Menschen getötet und 117 verletzt worden. Die Bomben hatten eine Hochzeitsgesellschaft getroffen.
  • Am Wochenende des 6. und 7. Juli trafen sich in Aktau (Kasachstan) die Regierungschefs Turkmenistans, Kasachstans, Russlands, Usbekistans, Kirgistans und Tadschikistans zu einem informellen Treffen. Hauptthema war die Entwicklung in Afghanistan, der Heroinschmuggel (der vor allem aus Afghanistan kommt) und die dortige Sicherheitssituation. So vetrrat der Regierungschef Kasachstans, Nursultan Nasarbajew die Ansicht, in Afghanistan stünden noch immer 80.000 Taliban unter Waffen. Die fünf Staatschefs der zentralasiatischen GUS-Staaten (ferngeblieben war nur der Alleinherrscher Turkmenistans, Saparmurad Nijasow ["Turkmenbaschi"]) vereinbarten im Kampf gegen den "Terrorismus" zusammenzuarbeiten und die Kooperation in der Erdöl- und Erdgasindustrie zu verbessern.
  • Auf Wunsch der afghanischen Regierung schaltet sich die UN-Truppe ISAF in die Ermittlungen um den am 6. Juli ermordeten Vizepräsidenten Kadir ein. Dies solle eine neutrale, faire und professionelle Untersuchung gewährleisten, sagte ein Sprecher des Präsidenten Karsai am 8. Juli.
  • Am 8. Juli (Ortszeit) verlautete aus Washington, die USA wolle nun doch ihren Einsatz in Afghanistan verstärken. Ziel sei ein erhöhtes humanitäres Engagement und die Gewährleistung von Sicherheit. Es hätten schon konkrete Verhandlungen mit afghanischen örtlichen Stammesführern über die Stationierung von Soldaten der sog. Antiterror-Koalition stattgefunden. Eine Teilnahme an der UN-Truppe ISAF lehnt die US-Regierung aber weiter ab.
    Das Mitglied des Generalstabs im Pentagon, General Gregory Newbold, sagte zu dem irrtümlichen Angriff auf eine Hochzeitsgesellschaft am 1. Juli, der Angriff sei "gerechtfertigt" gewesen in Anbetracht dessen, "was wir in diesem Moment wussten" (zit. n. FR, 10.07.2002).
  • In der Schlusserklärung der in Berlin tagenden Parlamentarischen Versammlung der OSZE, die am 10. Juli von über 300 Delegierten aus 55 Ländern einstimmig verabschiedet wurde, wurde die Einhaltung der Menschenrechte im Kampf gegen den Terror angemahnt. Der Kampf gegen den Terror dürfe nicht "als Vorwand für die Unterdrückung von Menschenrechten oder für andere politische Ziele" benutzt werden.
    Der Deutsche Entwicklungsdienst (ded) will die Zahl seiner Helfer in Afghanistan von derzeit 15 bis zum Jahresende 2002 auf 30 verdoppeln, sagte der Vorsitzende des Verwaltungsrats, Uwe Runge, am 10. Juli in Berlin. Anlass war die Vorstellung des ded-Jahresberichts. Ferner gab Runge bekannt, dass in den nächsten 12 Monaten Entwicklungshelfer auch nach Usbekistan und Tadschikistan entsandt werden sollen.
  • In der Nähe des Orts, wo vor zwei Wochen US-Militär versehentlich eine Hochzeitsgesellschaft bombardiert hatte, sind US-Soldaten am 12. Juli unter Beschuss geraten. Auf die Truppen nahe der Ortschaft Tarin in derr südafghanischen Provinz Urusgan sind Schüsse abgefeurt und Granaten geworfen worden, sagte ein US-Sprecher. Verletzt worden ist niemand.
    Tadschikistan verstärkt seine Grenztruppen an der Grenze zu Afghanistan. Als Grund wird angegeben, auf der afghanischen Seite der Grenze sammelten sich Al-Qaida-Terroristen.
  • Am 14. Juli sind im Süden Afghanistans vier afghanische Soldaten bei einem Raketenbeschuss ums Leben gekommen, meldete die afghanische Nachrichtenagentur AIP. Die Soldaten seien in einem Militärfahrzeug auf der Suche nach Schmugglern gewesen.
  • Nach einer Mitteilung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR vom 16. Juli kehren zur Zeit täglich etwa 8.000 Afghaner in ihre Heimat zurück. Insgesamt seien bisher etwa eine Million Flüchtlinge zurückgekehrt, insbesondere aus Pakistan und dem Iran. Das UNHCR sprach davon, dass die Situation in Afghanistan nun sicher sei. Die Flüchtlinge hätten keinen Bürgerkrieg mehr zu befürchten.
  • Die New York Times berichtete am 20. Juli, dass in Afghanistan durch militärische Fehlschläge der amerikanischen Luftwaffe oder den übertriebenen Einsatz von Bomben Hunderte Zivilisten getötet worden seien. Auch beim Beschuss von militärischen Zielen seien oft Zivilisten ins Visier geraten. Die Zeitung bezog sich dabei auf die sechsmonatige Untersuchung von elf Orten, an denen 400 Zivilisten getötet worden seien. Die Organisation Global Exchange hatte der Zeitung berichtet, sie habe bei ihren Recherchen eine Liste mit 812 getöteten Zivilisten erstellt. Diese Zahl werde sich vermutlich weiter erhöhen, wenn auch die Bewohner abgelegenerer Dörfer erreicht würden. Das Pentagon wies den Bericht zurück. "Wir prüfen die Gefahr für Zivilisten sorgfältig", sagte ein Sprecher der US-Streitkräfte. Ziele würden vor einem Angriff eindeutig identifiziert. (SZ, 22.07.2002)
  • Afghanistans Präsident Hamid Karsai hat seine afghanische Leibwächter entlassen und durch US-Soldaten ersetzt. Er begründete diese Maßnahme am 22. Juli damit, dass seine Leute als Sicherheitsbeamte nicht geübt seien. Rund 50 US-Soldaten sollen nun für die Sicherheit Karsais sorgen.
  • Laut einem Bericht der New York Times am 23. Juli hat der Pressesprecher des afghanischen Präsidenten Karsai, Tajeb Dschawad, erklärt, seine Regierung schätze die Zahl der zivilen Todesopfer während des Afghanistan-Krieges auf "weniger als 500". US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sagte, das Pentagon habe keine offiziellen Zahlen über zivile Opfer. Dies liege daran, dass es so schwierig sei, in betroffene Gebiete vorzudringen und die "wahren Umstände" zu ermitteln. Rumsfeld betonte aber, dass die Zahl der Opfer, "die wir oder irgendjemand anderes finden konnte, stets weniger war, als es in ersten Berichten hieß". Die USA könnten sich mit dem Gedanken beruhigen, dass der Afghanistan-Krieg "weniger Zivilisten das Leben gekostet hat als vermutlich irgendeind Krieg der Moderne". (FR, 24.07.2002)
  • Die USA haben am 24. Juli angekündigt, eine Abstimmung in den Vereinten Nationen über das Zusatzprotokoll zur Anti-Folter-Konvention zu blockieren. Das Zusatzprotokoll soll zu einem Kontrollmechanismus zur Einhaltung der Anti-Folter-Kommission beitragen. So soll z.B. ein Expertengremium geschaffen werden, das unabhängige Untersuchungen in Gefängnissen durchführen darf. Der Anti-Folter-Konvention sind 130 Staaten, darunter auch die USA, beigetreten. Die USA lehnen Kontrollbesuche in US-Gefängnissen oder speziell auf dem Militärstützpunkt Guantánamo auf Kuba ab. - Das Protokoll muss im UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) angenommen werden und kann erst dann der UN-Vollversammlung zur Abstimmung zugeleitet werden. Anschließend müsste es von mindestens 20 Staaten ratifiziert werden, bevor es in Kraft tritt.
  • Am 25. Juli hat der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) gegen den Willen der USA das Zusatzprotokoll zur Anti-Folter-Konvention mit 35 gegen acht Stimmen (bei 10 Enthaltungen) verabschiedet. Zu den Befürwortern gehörten alle EU-Staaten sowie die meisten lateinamerikanischen, karibischen und afrikanischen Staaten. An der Seite Washingtons (das sich der Stimme enthielt) stand eine illustre Koalition aus China, Kuba, Ägypten, Pakistan und Libyen u.a.
    Die zentralasiatische Republik Tadschikistan will ihre Grenze zu Afghanistan besser sichern. Die Grenztruppen werden von derzeit 10.000 auf 30.000 erhöht, hieß es am 25. Juli aus der Hauptstadt Duschanbe. Grund: Auch nach dem Ende des Taliban-Regimes führt die Hauptroute für afghanisches Heroin über Tadschikistan nach Europa.
    Die Kommission der Europäischen Union teilte am 25. Juli mit, sie wolle ihre Finanzhilfen für Afghanistan für dieses Jahr um 70 Mio auf insgesamt 250 Mio Euro aufstocken. Die zusätzlichen Mittel müssten aber noch von den 15 Mitgliedern der Union und vom Europäischen Parlament gebilligt werden.
  • Der neue deutsche Verteidigungsminister Peter Struck ist kurz nach seiner Vereidigung am 26. Juli nach Afghanistan aufgebrochen. Dort vertrat er die Ansicht, dass die Bundeswehr sogar eine Führungsrolle der UN-Truppe Isaf einnehmen könne.
  • Die Vereinten Nationen haben einen stärkeren Schutz von Zivilpersonen gefordert. In einer Erklärung des Büros der VN in Kabul vom 29. Juli heißt es, Rücksicht auf menschliches Leben müsse bei den US-Militäroperationen an erster Stelle stehen.
    Am 29. Juli soll nach afghanischen Regierungsangaben ein Anschlag auf die Regierung in Kabul vereitelt worden sein. Ein Ausländer sei nach einem Verkehrsunfall festgenommen worden; in seinem Auto befanden sich 500 Kilo Sprengstoff, hieß es.


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