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Schluß mit Kriegsmandat

Afghanische und deutsche Friedensaktivisten fordern Ende der Besatzung und Kommission zur Aufklärung von Kriegsverbrechen durch NATO- und US-Militärs

Von Markus Bernhardt *

Während immer mehr Bundesbürger den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan fordern und sich für ein Ende der völkerrechtswidrigen Besatzung stark machen, will die Bundesregierung den von ihr unterstützten Angriffskrieg weiter forcieren. So ist für den Herbst eine Aufstockung der deutschen Truppen um 1000 Soldaten geplant. Zudem sprach sich Peter Struck, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, am Donnerstag (4. September) für die Entsendung von AWACS-Aufklärungsflugzeugen nach Afghanistan aus. Zwar muß der Bundestag darüber befinden, ob dem zunächst inoffiziell geäußerten Wunsch der NATO, der dem Parlament seit Juli bekannt ist, entsprochen wird, die Zustimmung gilt jedoch entgegen dem Mehrheitswillen der Bevölkerung als sicher.

Das derzeitige Mandat für den Einsatz der deutschen Angriffskrieger in Afghanistan läuft zwar am 13. Oktober aus, jedoch wird damit gerechnet, daß das Kabinett Anfang Oktober eine Verlängerung beschließen wird, der danach noch der Bundestag zustimmen müßte.

Daß Menschenleben in den Augen der bundesdeutschen Regierungskoalition offenbar keinen allzu großen Stellenwert haben, wurde indes an einer weiteren Aussage Strucks deutlich: »So ein Einsatz kann es mit sich bringen, daß Menschen getötet werden«, konstatierte der SPD-Politiker bezüglich des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr.

Gegen eben diese Art der Kriegspropaganda sprachen sich am Donnerstag (4. Sept.) gleich zwei bedeutende Friedensorganisationen aus. So legten die Kooperation für den Frieden, der über 50 Organisationen - darunter der Aachener Friedenspreis e. V., die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die ver.di-Jugend und Pax Christi - angehören, gemeinsam mit der Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans der Öffentlichkeit eine gemeinsame »Erklärung für den Frieden« vor (siehe Kasten). Die Nationale Friedens-Jirga war Anfang Mai 2008 von über 3000 Stammesvertretern, Intellektuellen und Politikern aus allen Teilen Afghanistans gegründet worden und repräsentiert vor allem die kriegsmüde Bevölkerungsmehrheit im Süden und Osten des von den sogenannten westlichen Demokratien geschundenen Landes.

Ottmar Steinbicker, Sprecher der Kooperation für den Frieden und Vorsitzender des Aachener Friedenspreises e. V., forderte die Bundesregierung unter anderem angesichts der hohen Anzahl von Besatzern getöteter Zivilisten auf, die Bundeswehrsoldaten umgehend aus Afghanistan abzuziehen und die »Rolle eines ehrlichen Maklers zwischen den Konfliktparteien« einzunehmen. Dies beinhalte explizit, auch Gespräche mit den Taliban zu führen. Ebenso äußerte sich Naqibullah Shorish, Sprecher der Nationalen Friedens-Jirga für internationale Beziehungen. Wer Frieden wolle, müsse mit den Gruppen verhandeln, die vor Ort zugegen seien. Die Bundesregierung habe sich nunmehr zu entscheiden, ob sie weiterhin Kriegspartei bleiben oder eben treibende Kraft für einen Friedensprozeß werde wolle.

Reiner Braun, ebenfalls Sprecher der Kooperation für den Frieden, warf Bundesverteidigungsminister Jung »unerträglichen Zynismus« vor. Vor dem Hintergrund der Leugnung des Krieges durch Jung frage er sich, ob Krieg erst dann stattfinde, wenn eine Atombombe falle. Braun wies zudem den wiederholt erhobenen Vorwurf zurück, daß ein sofortiger Abzug der Besatzer aus Afghanistan das Land in einen Bürgerkrieg stürzen würde. Die intensive Zusammenarbeit deutscher Kriegsgegner mit der in Afghanistan einflußreichen Nationalen Friedens-Jirga widerlege dies eindrucksvoll. Die Selbstbestimmung der Afghanen sei die erste Vorraussetzung, um das Land endlich zum Frieden zu bringen. Keinesfalls dürfte versucht werden, den »Afghanen die sogenannten westlichen Werte überzustülpen« und die Traditionen und Gepflogenheiten des Landes zu mißachten. Braun sprach sich des weiteren für eine unabhängige Kommission aus, die »die Verbrechen und Lügen der US- und NATO-Soldaten in Afghanistan« aufarbeiten solle. Schließlich sei kein Geheimnis, daß der Krieg gegen Afghanistan ein Krieg um Ressourcen und eben kein Krieg im Sinne der Humanität sei.

* Aus: junge Welt, 5. September 2008

Dokumentiert **

Erklärung der Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans und der Kooperation für den Frieden

Gemeinsam appellieren wir an die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Afghanistan, an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und des afghanischen Parlamentes, der Wolesi Jirga, sowie an die Zivilgesellschaften Deutschlands und Afghanistans, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um eine weitere Eskalation des Krieges zu stoppen und einen Friedensprozeß in Afghanistan einzuleiten. (...)

Die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans und die Kooperation für den Frieden fordern die Bundesregierung auf:
  1. keine weiteren Kampfhandlungen auf dem Territorium Afghanistans durchzuführen und die Einsätze der Tornado-Staffeln abzubrechen. Diese Einsätze kosteten bisher schon Millionen Euro und sie trugen mit dazu bei, daß allein im Juli 2500 Zivilisten, die meisten davon Frauen und Kinder, ums Leben kamen. Die Zahl der in Afghanistan stationierten Bundeswehrsoldaten darf nicht erhöht werden, sondern es muß eine konkrete Planung mit festen Daten für einen raschen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan vorgelegt werden.
  2. durch eigene Schritte, eventuell gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen, islamischen und blockfreien Ländern, in Gesprächen mit den unterschiedlichen Gruppierungen der afghanischen Opposition einschließlich der Taliban und mit der afghanischen Regierung eine neue Tür für Verhandlungen zu öffnen und einen Verhandlungsprozeß nach Kräften zu fördern. Deutschland genießt noch immer bei vielen Afghanen ein historisch gewachsenes hohes Ansehen, das auch die derzeitigen Konfliktparteien respektieren. Nur durch eine militärische Deeskalation einschließlich eines Truppenabzugs kann die Bundesregierung die von der Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans und der Kooperation für den Frieden gemeinsam gewünschte Rolle eines »ehrlichen Maklers« zwischen den Konfliktparteien in Afghanistan spielen.
  3. zivile Hilfe je nach Bedarf bis zu dem Betrag aufzustocken, der durch den Abzug der Truppen frei wird. Das sind etwa 500 Millionen Euro jährlich. Diese Mittel sind für Entwicklungsprojekte in Afghanistan einzusetzen, die von Orten und Regionen des Landes gemeinsam für wichtig und nützlich gehalten werden und tatsächlich die Lebensbedingungen der Menschen vornehmlich auf dem Lande verbessern. (...)
  4. durch eigene diplomatische Schritte, eventuell gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen, islamischen und blockfreien Ländern die Perspektive einer internationalen Konferenz Afghanistans und seiner Nachbarstaaten (Pakistan, Iran, Usbekistan, Tadschi­kistan u.a.) zu eröffnen, um die Souveränität Afghanistans wiederherzustellen und einen Weg zu Frieden und Sicherheit in der Region zu ebnen. Vor allem Staaten wie Indien, China, Rußland, USA, die europäischen Länder sowie die Islamische Konferenz und blockfreie Länder müssen als Beobachter und Garantiemächte an einer solchen Konferenz teilnehmen, um künftige Interventionen auszuschließen.
Unabdingbare Bedingung für erfolgreiche Verhandlungen ist die Festlegung konkreter Daten, an denen der Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan beginnt und endet. Nur so kann auch im Lande eine eigenständige Struktur geschaffen werden. Die Bekanntgabe fester Abzugsdaten würde in der afghanischen Bevölkerung Vertrauen wecken und somit auch zum Frieden beitragen.

Die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans und die Kooperation für den Frieden fordern die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf, die Mandate für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan nicht zu verlängern. (...)

Die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans und die Kooperation für den Frieden fordern die Regierung Afghanistans auf:
  1. die Korruption entschieden zu bekämpfen, die außer Kontrolle geraten ist und die ärmeren Bevölkerungsschichten an der Wahrnehmung ihrer Rechte hindert.
  2. die Kriegsverbrecher vor ein (internationales) Gericht zu stellen. Gegenwärtig leben viele Kriegsverbrecher in Afghanistan in Freiheit und genießen großen Einfluß auch bei ausländischen Botschaften und internationalen Organisationen.
  3. entschieden gegen den Drogenanbau und Drogenhandel vorzugehen, in den gegenwärtig auch Regierungskreise verwickelt sind. Mit der internationalen Gemeinschaft und den internationalen Hilfsorganisationen sind Alternativprojekte für die afghanischen Bauern zu entwickeln.
  4. den demokratischen Staatsaufbau Afghanistans zu entwickeln. Dazu gehören auch von Parlament und Justiz kontrollierte Sicherheitskräfte, die die Einhaltung der Gesetze - auch durch die Regierung - gewährleisten.
  5. die Einheit des afghanischen Volkes zu fördern. Gegenwärtig ist bei den afghanischen Volksgruppen (Pashtunen, Usbeken, Tadschiken, Hazara u.a) das verbindende Bewußtsein, Afghanen zu sein, noch gering entwickelt.

** Aus: junge Welt, 5. September 2008




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