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NATO ist Teil des Problems

Bewegungskongress in Bonn brachte Afghanen zur Debatte zusammen

Von Marcus Meier *

In Bonn wurde schon manches Mal über die Zukunft Afghanistans verhandelt. Doch der Bewegungskongress »Wege zum Frieden in Afghanistan« brachte erstmals zivilgesellschaftliche Akteure an einen Tisch - deutsche Friedensbewegte und (Exil-) Afghanen aus unterschiedlichsten politischen Lagern nämlich.

»Seit 50 Jahren kämpfen Afghaninnen für Frauenrechte«, erinnert sich Shafiqa Rahim. Doch heute würden in dem südasiatischen Land Frauen gesteinigt, sei das Leben für sie schwerer als vor der NATO-Intervention. »Ich bin tief verletzt«, gesteht Rahim, eine afghanische Gym-nasiallehrerin, die vor 27 Jahren nach Deutschland floh. »Die wirklichen Verbrechen in Af-ghanistan wurden von Bush, Blair und ihren Nachfolgern verübt«, sagt sie schließlich. Sie berichtet aber auch sichtlich bewegt von einem Massaker durch Sowjetsoldaten, das sie mit eigenen Augen sah. 33 Jahre Krieg haben tiefe Spuren hinterlassen.

Mit Afghanen reden und nicht bloß über sie - das war das erklärte Ziel der Tagung »Wege zum Frieden in Afghanistan«, die gestern und vorgestern im Bonner LVR-Museum mit 200 Teilnehmern stattfand. Das Spektrum der Afghanen reichte dabei von konservativ bis kommunistisch. In der ehemaligen Bundeshauptstadt debattieren sie gemeinsam.

Brunnen bohren, Taliban in Schach halten, auch Mädchen den Schulbesuch ermöglichen? Im Frauenrechte-Workshop berichten Afghaninnen, wie es in ihrem Land zu Zeiten der NATO-Besatzung ausschaut: So habe in Kunduz, wo deutsche Soldaten stationiert sind, ein Vater seine Tochter gegen einen Hund eingetauscht. 57 Prozent der Frauen seien jünger als 16 Jahre, wenn sie verheiratet werden. Sehr viele Kriegswitwen seien aus Not zur Prostitution gezwungen - bei entsprechender »Nachfrage« durch die NATO-Soldaten, die im übrigen Gewalt gegen Frauen nicht verhindern würden. Konsens unter den rund 20 Diskutantinnen ist: Erst müssen die Truppen abziehen, dann können die soziale und ökonomische Lage ebenso wie die Bildung verbessert werden - und danach die Situation der Frauen.

Eigentlich sollte die Juristin Shukria Haider mit am Tisch sitzen und referieren. Doch der Staatsanwältin und Frauenrechtlerin wurde von der deutschen Botschaft in Kabul schlicht ein Visum verweigert. »Sie darf nicht einreisen. Dabei kämpft Deutschland doch angeblich für die Frauenrechte in Afghanistan«, ärgert sich Moderatorin Kristine Karch. Für einen Abzug der NATO-Truppen unter Verzicht auf ein militärisches Nachfolgemandat plädierten am Samstagabend Fachpolitiker von SPD, Grünen und Linkspartei.

Die Bundestagsabgeordneten Angelika Graf und Kathrin Vogler sowie der grüne Parteirebell Uli Cremer sprachen zudem für Verhandlungen mit Teilen der Taliban. Dazu rate sie einem potenziellen Kanzler Steinbrück, sagte die Sozialdemokratin Graf. »Ob er auf mich hört, weiß ich nicht.«

»Die NATO verursacht Flüchtlinge, die in Europa menschenrechtswidrigen Schikanen ausge-setzt werden«, monierte der deutsch-afghanische Jurist Karim Popal, Anwalt der Opfer des Tanklastwagen-Luftangriffs der Bundeswehr in Kunduz. Sieben Millionen Afghanen seien auf der Flucht, sie seien »die ärmsten Flüchtlinge der Welt«. Viele verlören auf der Flucht über das Mittelmeer ihr Leben, Überlebende müssten in Griechenland in Slums hausen, würden von Nazis angegriffen, während der Staat ihre Asylgründe ignoriere.

Die Veranstalter, ein Bündnis von 50 deutschen und 25 afghanischen Organisationen, werteten es als Haupterfolg, verschiedene (exil-)afghanische Fraktionen zum offenen Meinungsaustausch an einen Tisch gebracht zu haben. Das sei für ein Land im Krieg nicht selbstverständlich, heißt es in einer Abschlusserklärung. Die afghanische Realität sei geprägt von Krieg, Unterdrückung, Gesetzlosigkeit und Korruption, das verweise »alle Berichte der Bundesregierung in den Bereich der Schönfärberei«. Die deutschen und afghanischen Aktivisten wollen »weiter gemeinsam eintreten« für »unsere Vision eines Lebens in Frieden und Freiheit«.

Das wird nicht einfach. So wurde in Bonn über den Friedensplan des Stammesführers Naqibullah Shorish debattiert. Kritiker hielten ihm vor, er spreche für drei Millionen Men-schen, da der Stamm der Kharoti kleiner sei. Der Einwand, dass dies nichts über Sinn und Nutzen des Plans aussage, kam aus deutschem Mund. Immerhin wurde die Gründung eines Dachverbandes angekündigt, der über die politischen Lager hinweg die gemeinsamen Interes-sen der Exil-Afghanen in Deutschland vertreten soll.

* Aus: neues deutschland, Montag, 15. Oktober 2012


Drogen-Schutztruppe

Der NATO-Einmarsch konnte die Probleme Afghanistans nicht lösen. Er ist selbst zur größten Last für Land und Bevölkerung geworden

Von Sebastian Carlens, Bonn **


Der Opiumanbau ist längst einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Afghanistans geworden, schätzungsweise 85 Prozent des weltweit vertriebenen Heroins haben ihren Ursprung hier. Dramatisch nicht nur für die Abhängigen in Europa, sondern auch für die afghanischen Bauern: Sie werden von den mafiösen Strukturen, die die großen Profite aus dem illegalen Geschäft ziehen, mit Gewalt zum Anbau von Schlafmohn gezwungen – unter den Augen und Gewehren der deutschen Bundeswehr.

Seit elf Jahren, seit Beginn des »Krieges gegen den Terror« der NATO, hält die deutsche Armee ein eigenes Protektorat im Norden des Landes. Das Militär hat längst seinen Frieden mit der Drogenmafia gemacht. Der »Krieg gegen den Terror« ist ein bewaffnetes Schutzkommando für Drogenbarone geworden. Von den hehren Versprechen, die mit dem Bundeswehrmandat verknüpft waren – Demokratie, Gleichberechtigung für Frauen, Aufbau der geschundenen Wirtschaft –, ist nicht viel übrig geblieben. 2014 sollen ein Teil der westlichen Besatzungstruppen abziehen. Keineswegs alle natürlich, allein die USA wollen rund 35000 Mann auf Jahrzehnte in dieser geostrategisch wichtigen Region stationiert lassen. Doch wenigstens den Anschein einer funktionsfähigen Regierung will man wahren. Mit dem machtlosen Präsidenten Karsai, dessen Regierungsgewalt kaum bis in alle Vororte der Hauptstadt Kabul reicht, ist das nicht mehr zu schaffen.

Die Geschichte von der Opiumgewinnung unter deutscher Schutzmacht steht sinnbildlich für das Dilemma Afghanistans, für das Scheitern des »Demokratieexports«, der nie einer war, der wohl auch nie einer werden sollte. Aber Krieg verkauft sich schlecht, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist dafür immer noch nicht zu gewinnen, aller medialer Kampagnen und Friedensnobelpreise zum Trotz.

Am Wochenende fand in Bonn ein Kongreß unter dem Motto »Stoppt den Krieg – Wege zum Frieden in Afghanistan« statt, der nach elf Jahren Krieg, nach Möglichkeiten für eine Versöhnung des Landes suchen wollte. Veranstaltet von der »Koordination für den Frieden«, einem Bündnis aus über 50 deutschen Friedensgruppen, konnte sich die Konferenz rühmen, mehr Vertreter der afghanischen Gesellschaft an einen Tisch gebracht zu haben als die offiziellen Veranstaltungen auf dem Bonner Petersberg, die 2001 eine Übergangsregierung unter dem jetzigen Präsidenten Karsai inthronisierte. Mehr als dreißig afghanische Parteien, Organisationen und zivilgesellschaftliche Gruppen folgten der Einladung. Die Meinungspalette war dementsprechend groß, doch in einer Frage herrschte Einmütigkeit unter den Teilnehmern: Ohne Frieden ist Afghanistan nicht zu helfen. Und dieser Frieden muß zwangsläufig mit einem Ende der Besatzung des Landes beginnen.

Am Samstag abend debattierten drei deutsche Parlamentarier mit den Konferenzteilnehmern. Uli Cremer für die Grünen, Kathrin Vogler von der Linkspartei und Angelika Graf, SPD, konnten sich auf die Bedingung, daß Frieden nicht alles, aber ohne Frieden alles nichts ist, einigen. Doch dort beginnen auch die Widersprüche: Soll die BRD im Alleingang aus Afghanistan abziehen, den USA gar die Nutzung ihrer deutschen Stützpunkte untersagen? Nein, ein Ausscheren aus der NATO könne sie sich nicht vorstellen, meint Graf. Sebastian Hermler von den Piraten sitzt ebenfalls mit am Podium, er ist aktiver Bundeswehroffizier, bis vor kurzem selbst am Hindukusch stationiert. Und er vertritt mit Abstand die radikalsten Forderungen von allen anwesenden Politikern: Raus aus Afghanistan, sofort; die Präsenz der Bundeswehr richte schließlich nur Schaden an. Hermler muß es wissen. Auch wenn manche seiner Ideen etwas naiv klangen – die Befreiung der afghanischen Frau dürfte z. B. nicht von allein kommen, wenn die Interventen verschwunden sind –, der Applaus der anwesenden Afghanen war ihm sicher. Seine Forderung nach sofortigem Abzug der deutschen Truppen war allemal realistischer als die grünen Gedankenspiele Cremers über erneuerbare Energien, die man in der afghanischen Wüste gewinnen könne. Unter deutschen Weltverbesserern hat Afghanistan lange genug leiden müssen. Und schlechter als das, was jetzt ist, kann es kaum werden.

* Aus: junge Welt, Montag, 15. Oktober 2012


»Die Invasion ist gescheitert«

Kein einziges deutsches Versprechen für Afghanistan wurde eingehalten. Ein Gespräch mit Gulam Mohsenzada ***


Vor elf Jahren fand in Bonn die erste »Petersberger Konferenz« statt, die eine afghanische Übergangsregierung unter dem jetzigen Präsidenten Karsai bildete. Was ist das Resultat aus elf Jahren »Petersberg-Prozeß« für Afghanistan?

Was auf der Petersberger Konferenz beschlossen wurde, fand ohne Beteiligung der afghanischen Gesellschaft statt. Die Beschlüsse dieser Konferenz haben negativ auf Afghanistan gewirkt, denn ein großer Teil der afghanischen Bevölkerung war schlicht nicht mit einbezogen. Vor allem die Intellektuellen und die Zivilgesellschaft waren ausgeschlossen.

Die jetzige Veranstaltung »Stoppt den Krieg – Wege zum Frieden in Afghanistan« findet ja nicht zufällig auch in Bonn statt. Was für ein Signal will der Friedenskongreß senden?

Hier ist eine viel breitere Vertretung nicht nur der afghanischen, sondern auch der europäischen Zivilgesellschaft versammelt. Natürlich ist hier eine sehr breite Palette von Meinungen vertreten; viele sehr unterschiedliche Kräfte unterstützen diesen Friedenskongreß. Doch trotz aller Meinungsverschiedenheiten über die weitere Entwicklung unseres Landes ist die große Mehrheit der Teilnehmer darin einig, daß die Beendigung des Krieges, die Herstellung friedlicher Verhältnisse die Voraussetzung für einen Wiederaufbau des Landes ist.

Was ist dabei die Aufgabe der deutschen Friedensbewegung, wie kann diese Forderung unterstützt werden?

Die Friedensbewegung kann eine große Rolle spielen, indem sie den Menschen hier die Auswirkungen der deutschen Politik vor Augen führt und zeigt, daß Krieg keine Lösung der Probleme mit sich bringt. Mit Gewalt kann man nirgendwo Demokratie schaffen; die deutsche Militärpräsenz ist selbst Teil der Probleme Afghanistans. Ich bin mir sicher, daß die Afghanen in der Lage sind, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen; das haben sie schon mehrmals in der Geschichte bewiesen - und das werden sie auch jetzt tun. Doch die Probleme des Landes werden internationalisiert, für verschiedenste Interessen instrumentalisiert. Die internationale Gemeinschaft sollte helfen: finanziell, auch mit Know-How - aber nicht mit Soldaten.

Auch Vertreter der SPD und der Grünen, die sich gegen den Krieg aussprechen, setzen auf westliche »Entwicklungshilfe« für den Hindukusch. Schafft das nicht ganz neue Abhängigkeiten?

Bei der Frage nach dem Nutzen solcher Projekte ist es immer wichtig, die Interessen der Afghanen zu berücksichtigen. Die Erfahrungen der letzten elf Jahre haben gezeigt, daß die Fehlinvestitionen, die in Afghanistan getätigt wurden, einen Großteil der Arbeitsplätze vernichtet haben. Auch die Umwelt hat dabei großen Schaden genommen. Solche Projekte haben nur Sinn, wenn damit die Gesellschaft entwickelt wird, wenn Menschen aus bislang wenig erschlossenen Gegenden davon profitieren. Solche Projekte müssen die nationalen Gegebenheiten und die ökologischen Interessen Afghanistans berücksichtigen.

Was ist das Resultat der bisherigen deutschen Politik gegenüber Afghanistan?

Die Erfahrungen der Menschen entsprechen überhaupt nicht den Versprechungen, die mit der Stationierung des deutschen Militärs verbunden wurden. Die Invasion ist ein gescheitertes Projekt. Als der deutsche Bundestag die Stationierung der Bundeswehr in Afghanistan beschlossen hat, wurde dies mit der Forderung, eine demokratische Gesellschaft zu errichten, die Wirtschaft wieder aufzubauen und den Menschen das Recht auf Selbstbestimmung zu geben, verknüpft. Nichts von alldem ist geschehen; nach dem Beschluß konnte man sehen: Es ging nur um eine militärische Intervention. Die Invasion hat auf deutscher, aber vor allem auf afghanischer Seite viele Opfer gefordert. Sie hat ihre eigenen Ziele nicht erfüllt.

Ihre Partei, die Volkspartei Afghanistans, beteiligt sich als Unterstützer an diesem Friedenskongreß. Was sind ihre Forderungen?

Die Volkspartei tritt für eine demokratische Entwicklung meines Landes ein, für ein breites Bündnis progressiver Kräfte. Wir wollen von unten einen demokratischen Prozeß in Gang setzen. Für uns stehen dabei die Interessen der arbeitenden Menschen im Mittelpunkt; derjenigen, die unter der despotischen und falschen Politik der letzten elf Jahre gelitten haben.

Interview: Sebastian Carlens, Bonn

Dr. Gulam Mohsenzada ist Mitglied der Volkspartei Afghanistans

*** Aus: junge Welt, Montag, 15. Oktober 2012


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