Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Taliban wollen nicht bis zum Machtwechsel warten

Attacken der Aufständischen im afghanischen Machtzentrum Kabul – US-Botschaft unter Beschuss, keine Angaben über Tote und Verletzte

Von René Heilig *

Aufständische haben am Dienstag (13. Sept.) gegen 13 Uhr Ortszeit (9.30 Uhr MESZ) das schwer gesicherte politische Zentrum Kabuls angegriffen. Unter Beschuss lagen auch die US-Botschaft sowie das Hauptquartier der ISAF-Truppe. Präsident Hamid Karzai berief den Sicherheitsrat ein.

»Unsere Kämpfer sind gut ausgerüstet – mit Panzerfäusten, Sprengsätzen und Gewehren – und sie werden bis zum Ende kämpfen«, tönte Sabiullah Mudschahid, der wohl wichtigste Sprecher der Taliban. Kaum dass die Angriffe begonnen hatten, meldete sich seine clevere »Medien-Brigade« bei ausländischen Agenturen, um den Erfolg der kämpfenden Truppe auszubauen. Die Attacken, so gab er kund, richteten sich gegen verschiedene Ministerien, Gebäude des Geheimdienstes sowie gegen westliche Botschaften. Der Taliban-Sprecher erklärte in einer SMS weiter, dass man ein kampfstarkes Team in die Hauptstadt geschmuggelt habe, vorbei an allen Sicherheitsschleusen, die es gerade im Botschaftsviertel zahlreich gibt. Zudem schienen die Kämpfer bestens mit Munition versorgt zu sein.

Letzte Meldungen:

Der Angriff begann am 13. September und ging erst am Morgen des 14. September nach 20-stündigen Kämpfen zu Ende. Nach NATO-Angaben wurden dabei 27 Menschen getötet. Bei den Opfern handele es sich um elf Aufständische, fünf Polizisten und elf Zivilisten, darunter mehrere Kinder, erklärte der amerikanische NATO-Kommandeur General John Allen.
Sieben der Angreifer seien in dem Haus in der Nähe der US-Botschaft getötet worden, das die Aufständischen direkt zu Beginn ihrer Attacke besetzt hatten und von wo aus sie die anderen Gebäude beschossen, erklärte Allen weiter. Vier Angreifer seien Selbstmordattentäter gewesen. Nach dem Ende der Kämpfe war zunächst von sieben Toten die Rede gewesen. Mitarbeiter der NATO oder der US-Botschaft waren nicht unter den Opfern.
"Der Terroranschlag in Kabul ist vorbei", erklärte das Innenministerium am Morgen des 14. September. Die Lage in Kabul habe sich normalisiert, und alle Bürger könnten ohne Angst ihrem täglichen Leben nachgehen.
Presseagenturen 14. September 2001



Die Taliban hatten nicht geblufft, die afghanischen Sicherheitsbehörden daher Mühe, die Angreifer in Schach zu halten. Über Stunden waren Maschinenpistolensalven und Explosionen zu hören. Einige Aufständische verschanzten sich offenbar in einem Hochhausrohbau am Abdul Haq Platz. Von dort konnten sie ganze Straßenzüge beherrschen und hatten freies Schussfeld auf die nur rund 300 Meter entfernte US-Botschaft, berichtete die britische BBC. Der US-Nachrichtensender CNN zeigte Bilder des Hochhauses, in dem pausenlos Kugeln einschlugen.

Auf dem Dach der Botschaft hatten derweil US-Marineinfanteristen Stellung bezogen. Doch gegen aus Panzerbüchsen abgefeuerte Geschosse waren sie machtlos. Westliche Korrespondenten berichteten, vier Selbstmordattentäter hätten zuvor versucht, den Botschaftskomplex anzugreifen. Zwei seien erschossen worden. Das bestätigte auch Kabuls Polizeichef. Vor dem schwer gesicherten Gebäude lägen überall Glassplitter und Metallteile, erzählten Augenzeugen und sprachen von vier oder fünf Explosionen. Per Lautsprecher wurden alle Mitarbeiter der US-Botschaft aufgefordert, sich in Deckung zu begeben.

Bis zum Abend waren noch keine gesicherten Informationen darüber verfügbar, wie viele Menschen bei den Bombenanschlägen und durch die Schießereien getötet oder verwundet worden sind.

Afghanische Sicherheitskräfte riegelten den Stadtbezirk ab, die Armee beorderte Panzerfahrzeuge in das Kampfgebiet. Fernsehbilder zeigten Blackhawk-Hubschrauber der US-Armee über dem Diplomatenviertel.

Die afghanische Regierung wies die Mitarbeiter mehrerer Ministerien an, sich in ihren Büros zu verschanzen. Per Fernsehdurchsage forderte man Anwohner auf, ihre Häuser nicht zu verlassen und sich von Fenstern fern zu halten. Auf dem Gelände der ISAF-Sicherheitstruppe wurden Soldaten in gesicherte Räume geschickt.

Stunden nach dem Beginn der Attacke gab es weitere Explosionen in anderen Stadtteilen der afghanischen Hauptstadt. Eine heftige Detonation habe es im Westen gegeben, dort, wo die Polizeiakademie ist. Ein weiterer Selbstmordbomber sei vor einem Gymnasium gestoppt worden.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen verurteilte die Gewalt. Er wertete die Angriffe als Versuch, die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Behörden zu behindern. Doch das werde nicht gelingen, sagte der NATO-Chef. »Wir haben Vertrauen in die afghanischen Behörden.«

Doch Vertrauen reicht offenbar nicht. Die Angreifer haben abermals einen psychologischen Sieg errungen. Die Attacke zeigt, dass die Taliban zu jeder Zeit und überall in der Festung Kabul Angst und Schrecken verbreiten können.

Ursprünglich galt Afghanistans Hauptstadt Kabul als »befriedet«. Ein Irrtum.

  • Januar 2010: Zwölf Tote bei einem Angriff auf Regierungseinrichtungen und Einkaufszentren.
  • Februar 2010: Mindestens 17 Menschen werden getötet bei einem Bombenanschlag auf ausländische Vertretungen.
  • Januar 2011: Acht Tote nach Selbstmordanschlag auf einen Supermarkt.
  • April 2011: Zwei Soldaten werden bei einem Angriff auf das Verteidigungsministerium getötet.
  • Juni 2011: Sieben Menschen sterben bei einer Attacke auf das Hotel Intercontinental, wo eine internationale Konferenz zur Zukunft Afghanistans stattfand.
  • August 2011: Bewaffnete stürmen das Hauptquartier des British Council, zwölf Menschen sterben.


* Aus: Neues Deutschland, 14. September 2011


Krieg zurück in Kabul

Taliban-Kommando startet Angriffe in afghanischer Hauptstadt: NATO-Hauptquartier, US-Botschaft und Geheimdienst unter Raketenbeschuß

Von Rüdiger Göbel **


In einer großangelegten militärischen Operation haben die Taliban zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen Ziele in Kabul angegriffen und damit demonstriert, daß die Besatzer nicht einmal die afghanische Hauptstadt unter Kontrolle haben. Am Dienstag waren das Hauptquartier der NATO-geführten Afghanistan-Truppe ISAF, die US-Botschaft und andere diplomatische Vertretungen sowie der Sitz des afghanischen Geheimdienstes mit Raketen beschossen worden. Die symbolische Wirkung ist enorm, sind es doch die am besten gesicherten internationalen Einrichtungen am Hindukusch. Neben einer Reihe von starken Detonationen waren am Nachmittag Agenturberichten zufolge im Zentrum auch Gefechte mit Schußwaffen zu hören. Reuters berichtete von zwei Selbstmordattentaten im Westen der Stadt. Die afghanische Polizei bestätigte gegenüber AFP Kämpfe unweit der stark gesicherten US-Botschaft.

Laut afghanischem Innenministerium wurden bei den Gefechten mindestens drei der Angreifer sowie ein Polizist und eine Zivilperson getötet. 22 weitere Menschen wurden verletzt. Die Kämpfe dauerten bis zum Abend. Verletzte auf seiten der Besatzungstruppen, die mit Kampfhubschraubern im Einsatz waren, soll es bis jW-Redaktionsschluß nicht gegeben haben.

Laut AFP bekannten sich die Taliban zu dem Vorstoß in Kabul. Ziel der »massiven Selbstmordangriffe« seien Vertretungen afghanischer und ausländischer Geheimdienste, erklärte Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid in einer SMS an die Nachrichtenagentur. Reuters sprach von einer neuen Qualität des Vorgehens: Zwar hätten die Taliban schon öfter Kabul angegriffen. »Es ist aber das erste Mal, daß sie eine Reihe von Anschlägen gleichzeitig in entlegenen Teilen der Stadt organisierten«, so die Agentur. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen reagierte mit Kriegsstehsatz auf den militärischen Coup: Die Taliban versuchten, die Übergangsphase zu stören. Dies werde ihnen aber nicht gelingen. Am Sonntag hatten die Taliban einen NATO-Stützpunkt in der Provinz Wardak, etwa 50 Kilometer südlich von Kabul attackiert und dabei 77 Besatzungssoldaten verletzt. Zwei Afghanen wurden getötet, 25 weitere verletzt.

Die Taliban werden von den Besatzern mittlerweile als ernstzunehmender militärischer und politischer Faktor wahr- und ernstgenommen. Wie die britische Zeitung The Times am Montag meldete, sollen die afghanischen Aufständischen bis Ende des Jahres eine politische Vertretung im Golfemirat Katar eröffnen. Entsprechende Pläne würden von den USA unterstützt. Der Schritt solle es dem Westen ermöglichen, formale Friedensgespräche mit der islamistischen Bewegung zu beginnen, sagten demnach Diplomaten. Das Verbindungsbüro des selbsternannten Islamischen Emirats Afghanistan wäre die erste international anerkannte Vertretung der Taliban seit ihrer Vertreibung von der Macht in Afghanistan durch die US-Truppen 2001. »Es wird keine Botschaft und kein Konsulat sein, sondern ein Sitz, an dem sie wie eine politische Partei behandelt werden können«, wird ein westlicher Diplomat zitiert. Ziel sei es, die Taliban zur Versöhnung mit der NATO-gestützten afghanischen Regierung zu bewegen und dann den Abzug der internationalen Truppen zu ermöglichen. Im Dezember soll in Bonn eine internationale Afghanistan-Konferenz (»Petersberg II«) stattfinden, zu der etwa 1000 Teilnehmer erwartet werden. Ob auch Taliban-Vertreter darunter sind, ist unklar.

** Aus: junge Welt, 14. September 2011


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zurück zur Homepage