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Irrtum mit Todesfolge

US-Truppen beschossen afghanische Soldaten / Schwere Gefechte *

Die US-geführte Koalition hat im Osten Afghanistans am Mittwoch (22. Okt.) irrtümlich neun afghanische Soldaten getötet und drei weitere verletzt. Zahlreiche Opfer gab es auch bei Gefechten in den Südprovinzen des Landes. Die Leichen der beiden getöteten Bundeswehrsoldaten wurden unterdessen nach Deutschland geflogen.

Die von den USA geführten Koalitionstruppen haben nach Angaben des afghanischen Verteidigungsministeriums versehentlich neun afghanische Soldaten getötet und damit Spannungen zwischen beiden Ländern ausgelöst. Drei weitere Soldaten der afghanischen Armee seien bei dem Luftangriff am Mittwochmorgen im Distrikt Sayedchail in der östlichen Provinz Chost verletzt worden, teilte das Verteidigungsministerium in Kabul mit. Einer der Verletzten schwebe in Lebensgefahr. Das afghanische Ministerium verurteilte den Angriff »aufs Schärfste«. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.

Nach Angaben der US-Armee waren Koalitionstruppen in dem Distrikt in mehrere Gefechte verwickelt. Als Folge seien afghanische Soldaten getötet und verletzt worden, hieß es in einer Mitteilung der amerikanischen Streitkräfte. Erste Berichte der Truppen in der Gegend deuteten darauf hin, dass der Zwischenfall auf eine »Verwechslung auf beiden Seiten« zurückzuführen sei. Die US-Truppen kündigten eine gemeinsame Untersuchung mit der afghanischen Nationalarmee an.

Auch in Südafghanistan hielten die Kämpfe an. Nach offiziellen Angaben wurden zahlreiche Taliban-Kämpfer getötet. Der Polizeichef der Provinz Urusgan, Dschuma Gul Hemat, sagte am Mittwoch, mehr als 150 Aufständische hätten in der Nacht zuvor das Verwaltungszentrum des Distrikts Deh Rawood angegriffen. Über 35 Rebellen und drei Polizisten seien getötet worden. Die Aufständischen seien geflohen, als NATO-Kampfhubschrauber am Ort der Kämpfe eintrafen.

Wie das afghanische Verteidigungsministerium am Mittwoch mitteilte, seien auch in der südafghanischen Provinz Helmand »Dutzende« Rebellen getötet oder verletzt worden. Die Leichen von fünf bekannten Taliban-Kämpfern seien gefunden worden. Afghanische Soldaten hätten aus der Luft von Koalitionstruppen Unterstützung erhalten. Die US-Truppen teilten mit, in Helmand sei bereits am Montag ein Taliban-Kommandeur bei einem Luftangriff ums Leben gekommen.

Unterdessen hat der afghanische Außenminister Rangin Dadfar Spanta kürzlich in Saudi-Arabien geführte informelle Gespräche mit den radikalislamischen Taliban erstmals bestätigt. »Aber wir sind am Anfang des Prozesses«, sagte Spanta am Mittwoch bei einem Besuch in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad. Spanta betonte, ein Versöhnungsprozess könne nur gelingen, wenn die Aufständischen »bereit sind, ihre Waffen niederzulegen«.

Trotz des Todes der beiden deutschen Soldaten, die am Montag nahe Kundus bei einem Anschlag ums Leben kamen, hält auch die Bundesregierung an ihrem militärischen Engagement in Afghanistan fest. Ohne Sicherheit sei ein Wiederaufbau nicht möglich, sagte der stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg am Mittwoch in Berlin. Kurz zuvor hatte die Bundeswehr in Kundus mit einer Trauerfeier Abschied von den Getöteten genommen. Nach der Feier startete ein Flugzeug mit den Särgen Richtung Deutschland.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Oktober 2008


Truppe wird kriegsmüde

Von Jörn Boewe **

Der Bundeswehrverband hat die Afghanistan-Politik der Regierung nach dem tödlichen Anschlag auf eine deutsche Patrouille scharf kritisiert. »Die Bundesregierung trägt eine Mitverantwortung« sagte der stellvertretende Vorsitzende des Verbandes Oberstleutnant Ulrich Kirsch der Neuen Passauer Presse (Mittwochausgabe). Der Offizier begründete dies mit der Ausrichtung des Einsatzes: »Es war falsch, nur auf die militärische Karte zu setzen. Die USA sind damit gescheitert.« Die große Koalition betone zwar ständig, daß die »Aufgabe in Afghanistan zu 80 Prozent durch zivilen Aufbau gelöst werden« müsse, sagte Kirsch, die Realität sehe jedoch anders aus: »80 Prozent der deutschen Gelder fließen in den Militäreinsatz.« Kirsch forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf, in einer Regierungserklärung einen Zeitpunkt für das Ende des Afghanistan-Einsatzes zu nennen.

Die Bundesregierung wies die Kritik umgehend als »geschmacklos« zurück. Das »verantwortungslose Gerede« Kirschs sei im Kabinett auf »gänzliches Unverständnis« gestoßen, erklärte der stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg am Mittwoch in Berlin. »Es wäre angemessen, wenn das mit dem Ausdruck des Bedauerns sehr schnell zurückgenommen wird.« Steg bekräftigte, die Regierung werde keine Abstriche an ihrem »Afghanistan-Konzept« machen.

Ein Selbstmordattentäter hatte am Montag (20. Okt.) bei Kundus zwei Bundeswehrsoldaten und fünf afghanische Kinder mit in den Tod gerissen. Zwei weitere Soldaten und ein Kind wurden verletzt. Die beiden Männer, der 25jährige Stabsunteroffizier Patrick B. und der 22 Jahre alte Stabsgefreite Roman S., gehörten zum Fallschirmjägerbataillon 263 aus Zweibrücken, das zuletzt Ende August einen 29jährigen Hauptfeldwebel bei einem Anschlag mit einer Sprengfalle verloren hatte. Nach einer Trauerfeier in Kundus wurden ihre Leichen gestern nach Deutschland überführt.

Ebenfalls am Mittwoch töteten US-Truppen neun afghanische Soldaten und verletzten drei weitere. Die afghanischen Militärs waren als Sicherheitskräfte für die Registrierung der Wähler für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr in der östlichen Provinz Chost stationiert, wie das afghanische Verteidigungsministerium in Kabul mitteilte. Der Beschuß durch Hubschrauber ereignete sich den Angaben zufolge um 02.00 Uhr Ortszeit (Dienstag 23.30 Uhr MESZ). Das Ministerium kritisierte den Angriff scharf und kündigte an, »die Übeltäter werden nach den geltenden Gesetzen verfolgt«. Ein Sprecher des US-Militärs erklärte, die Afghanen seien »womöglich irrtümlicherweise« getötet worden.

Offenbar geraten Besatzungstruppen und einheimische Sicherheitskräfte immer öfter gewaltsam aneinander. Erst vor einer Woche hatte ein afghanischer Polizist eine US-Patrouille beschossen und einen US-Soldaten mit einer Handgranate getötet. Es war nach amerikanischen Militärangaben bereits das zweite Mal innerhalb eines Monats, daß US-Truppen von afghanischen Polizisten angegriffen wurden.

Heftige Kämpfe aus dem Süden vermeldete gestern AFP. Etwa hundert Aufständische hätten in der Provinz Urusgan eine Offensive gestartet, um den Distrikt Di Rawud einzunehmen, zitierte die Nachrichtenagentur den regionalen Polizeichef. Bei Gefechten seien drei Soldaten und rund 35 islamistische Rebellen getötet worden.

** Aus: junge Welt, 23. Oktober 2008


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