Zügel entglitten
Barack Obamas gerade verkündete Strategie für Afghanistan und Pakistan steht vor dem Aus. In Islamabad wankt die Zardari-Regierung
Von Rainer Rupp *
Kurz nach seinem Amtsantritt verabschiedete US-Präsident Barack Obama im
März dieses Jahres eine neue Strategie zur Befriedung von Afghanistan
und Pakistan, die er herablassend AfPak nannte. Das Konzept wurde
hochgelobt, hielt aber nicht lange. Bereits Anfang Dezember wurde mit
großem Trara ein neues beschlossen, das sich im Kern kaum vom ersten
unterscheidet. Nur die Zahl der zusätzlich nach Afghanistan geschickten
US-Kampftruppen steigt noch deutlicher. Kernelement der »neuen«
Obama-Strategie ist, das pakistanische Militär und die Regierung in
Islamabad verstärkt für die US-Kriegsziele in Afghanistan einzuspannen.
Insbesondere sollen den dort kämpfenden Taliban Rückzugsgebiete in den
unzugänglichen Bergregionen auf pakistanischer Seite versperrt
werden.
Zweierlei Taliban
Tatsächlich schickte Pakistans Präsident Asif Ali Zardari im Laufe
dieses Jahres 200000 Soldaten zum Kampfeinsatz in die nordöstlichen
Stammesgebiete. Aber für die Armee und den Geheimdienst ISI sind Taliban
nicht gleich Taliban. So ging das Militär einerseits mit großer Wucht
unter Einsatz von Luftwaffe und schweren Waffen gegen die in
Südwasiristan operierenden »bösen« Gruppierungen vor, weil sich die
islamistischen Eiferer zunehmend mit Bombenanschlägen und sonstigen
Attacken gegen Sicherheitskräfte und staatliche Institutionen
hervorgetan hatten. Andererseit blieben aber die in Afghanistan
operierenden »guten« Taliban-Gruppen, wie z.B. die von Jalaluddin
Haqqini, die laut US-Berichten angeblich die größte Bedrohung für NATO-
und US-Soldaten darstellten, bisher in ihren Rückzugsräumen in
Nordostwasiristan und Belutschistan von den pakistanischen Streitkräften
unbehelligt.
In einer Reihe von persönlichen Briefen machte Obama seinem
pakistanischen Amtskollegen deutlich, daß Washington im Gegenzug für die
versprochene US-Nothilfe in Höhe von 7,5 Milliarden US-Dollar zur
Abwendung von Pakistans Staatsbankrott mehr Einsatz gegen Haqqini und
die in Afghanistan kämpfenden Taliban erwartet. Zugleich besuchten in
den letzten Wochen eine Reihe von hochrangigen US-Beamten Pakistan,
darunter CIA-Direktor Leon Panetta und der höchste US-Offizier Admiral
Mike Mullen. Sie setzten ihren pakistanischen Kollegen gleichsam die
Pistole auf die Brust und erklärten, daß sie die US-Raketenangriffe mit
fliegenden Kampfrobotern vom Typ Predator nicht nur gegen Haqqini
weiterführen, sondern sie auch gegen verdächtige Ziele in Quetta, der
dicht besiedelten Hauptstadt von Belutschistan, ausdehnen würden, falls
die Armee Islamabads nicht selbst aktiver werde.
Immunität aufgehoben
Laut US-Medienberichten soll Zardari in einem Antwortbrief ein
schärferes Vorgehen gegen die »guten« Taliban versprochen haben. Das
aber komme »einem Rezept zur endgültigen Destabilisierung Pakistans«
gleich, zitierte der britische Guardian am Montag einen hochrangigen
Geheimdienstoffizier des ISI. So hat bereits das bisherige Vorgehen der
Armee Hunderttausende von Binnenflüchtlingen geschaffen, die nun ein
zusätzliches Unruhepotential in den größeren Städten bilden. Zugleich
waren die militärischen Operationen weitgehend ohne Ergebnis geblieben.
Am Wochenende schrieb der Landeskenner Eric Margolis in der Toronto Sun,
als Resultat der zahlreichen US-Raketenangriffe auf pakistanisches
Territorium und der steigenden Zahl ziviler Opfer sei vielmehr die
»antiamerikanische Wut« in der Bevölkerung stark gestiegen. Weit
verbreitet sei die Klage, daß Pakistan unter Zardari zu einem
»US-besetzten« Land, zu einer »drittklassigen Bananenrepublik« geworden
sei, die von »korrupten US-Handlangern« regiert werde.
In dieser Situation schlug in der letzten Woche im politischen
Establishment Islamabads die Nachricht wie eine Bombe ein, daß der
oberste Gerichtshof Pakistans das sogenannte Amnestiegesetz kassiert
hat. Es war auf Druck der USA zustande gekommen, um nach der Ermordung
der ehemaligen Ministerpräsidentin Benazir Bhutto am 27. Dezember 2007
deren Ehemann Zardari den Weg an die Spitze des Staates freizumachen.
Zardari, der in der Regierung seiner Ehefrau für die Vergabe von
Aufträgen an Industrie und Handel verantwortlich gewesen war, hatte sich
wegen außergewöhnlicher Korruptheit seinerzeit den Spitznamen »Mister
Zehn Prozent« erworben. Nach dem Sturz seiner Frau 1996 konnten er und
viele seiner engsten Freunde sich nur durch die Flucht ins Ausland vor
langjährigen Gefängnisstrafen retten.
Mit dem Verlust der Immunität sind nun Hunderte Haftbefehle gegen die
wichtigsten Stützen der Zardari-Regierung, u.a. gegen den Innen- und den
Verteidigungsminister, ergangen. Zardari selbst ist nur noch durch sein
Präsidentenamt geschützt. Täglich entgleiten ihm die Zügel der Macht
mehr, seine Fähigkeit, sich gegen Militär und Geheimdienst
durchzusetzen, schwindet. Damit aber ist Obamas neuste AfPak-Strategie
nicht einmal einen Monat nach ihrer Inkraftsetzung bereits Makulatur
geworden.
* Aus: junge Welt, 23. Dezember 2009
Hintergrund: Geopolitischer Sieg Indiens
Unter den vielen US-Verbündeten in Afghanistan dürfte Indien das einzige
Land sein, das die Fortsetzung des zunehmend prekären
Afghanistan-Abenteuers mit Enthusiasmus begrüßt. Der indische
Ministerpräsident Manmohan Singh hatte sich unlängst während seines
Staatsbesuchs in Washington nachdrücklich für den amerikanischen
Verbleib und die Eskalation in Afghanistan ausgesprochen. Zugleich
spielte Indiens eigene Präsenz in Afghanistan in den
Obama-Singh-Gesprächen eine große Rolle. Dabei wurde die einem Bericht
des US-Oberkommandierenden in Afghanistan, General Stanley McChrystal,
im September geäußerten Bedenken, daß die Ausweitung des indischen
Einflusses im Land am Hindukusch kontraproduktiv auf Pakistan wirken
würde, rundum verworfen. Statt dessen hat Obama Medienberichten zufolge
Premier Singh nicht nur für die indischen Aktivitäten in Afghanistan
gedankt, sondern ihm auch deren Fortführung nahegelegt.
Aus der Sicht Washington füllt Indien in Afghanistan ein Vakuum. Es
entstand dadurch, daß westliche Unternehmen, Experten und Facharbeiter
immer weniger bereit sind, unter desolaten Wirtschafts- und
Sicherheitsbedingungen in dem Land zu arbeiten, besonders wenn es sich
um schlecht bezahlte und schmutzige Tätigkeiten handelt. »Wir brauchen
Indiens Hilfe in Afghanistan«, titelte Forbes Magazine denn auch Mitte
November 2009, um den Enthusiasmus Neu Delhis weiter anzustacheln, auch
wenn das (noch nicht) bereit ist, Soldaten zu schicken.
Tatsächlich hat Indien auf Grund seiner historischen Bindungen und
kulturellen Affinität zu Afghanistan demonstriert, daß es bei der
praktischen Arbeit vor Ort über einzigartige und effektive Möglichkeiten
verfügt. Auch vom Volumen her hat es bereits eindrucksvoll zivile Hilfe
geleistet. Mit bisher 1,2 Milliarden US-Dollar Unterstützung ist es
Afghanistans fünftgrößter Geldgeber. Zugleich hat es viele Projekte in
den Bereichen Energie, Medizin, Landwirtschaft und Bildung unterstützt.
Sogar Afghanistans neues Parlament wird von einer indischen Firma
gebaut, während indische Fachleute afghanische Beamte ausbilden und
indische Ingenieure weitgehend unbehelligt im unsicheren Süden an
Straßenbauprojekten arbeiten.
Angesichts dieser Erfolgsstory in Afghanistan verhält sich Islamabad
noch paranoider als zuvor. Dabei muß sich Indien selbst in Afghanistan
nicht besonders anstrengen, um Pakistan zu destabilisieren. Es genügt,
daß das westliche Abenteuer in Afghanistan andauert, um im Inneren
Pakistans eine selbstzerstörerische Kräftekonstellation herbeizuführen.
Allein das bedeutet für Indien bereits einen geopolitischen Sieg.
(rwr)
Aus: junge Welt, 23. Dezember 2009
Strategisches Hinterland
Die Taliban als Pakistans »strategischer Aktivposten«
Von Rainer Rupp **
Mit wachsender Frustration verfolgte Washington in den letzten Jahren, daß allem Druck und allen Geldgeschenken zum Trotz die pakistanische Militärführung und der ISI-Geheimdienst nicht dazu zu bringen waren, in Nordwasiristan gegen den ehemaligen US-verbündeten Talibanführer Jalaluddin Haqqini und andere in Afghanistan kämpfende Taliban-Gruppierungen vorzugehen. Die Sicherheitskräfte bekämpften nur die »bösen« Taliban, nämlich jene, die sich gegen den pakistanischen Staat und seine Institutionen gewendet hatten. »Der Grund dafür ist Indien«, erklärte jüngst der Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperte Rifaat Hussain von der Quaid-I-Azam Universität in Islamabad.
Pakistans Erzfeind Indien baue nämlich unter US-Schutz seit Jahren seine Präsenz in Afghanistan aus. Das aber werde von Pakistan als strategisches Hinterland in einem Konflikt gegen Indien gesehen. Da es jedoch eine ausgemachte Sache ist, daß früher oder später die USA und die NATO Afghanistan den Rücken kehren werden, sähen Pakistans militärische Planer und der Geheimdienst ISI in den ausschließlich in Afghanistan kämpfenden Taliban »ihre Verbündeten«. Sie seien ein wichtiger »strategischer Aktivposten, um im post-amerikanischen Szenario« die Entwicklungen in Afghanistan zugunsten Pakistans zu lenken, so Professor Hussain.
Es wäre nicht das erste Mal, daß Pakistan die Taliban zu diesem Zweck benutzt hätte. Bereits in den 90er Jahren unterstützte der ISI-Geheimdienst die Taliban massiv, um sie in die Lage zu versetzen, den Bürgerkrieg in Afghanistan zu beenden, die Kriegsherren unterschiedlichster Couleur zu verjagen und in Kabul ein Pakistan freundlich gesonnenes Regime zu installieren. Auch die USA sind sich inzwischen über die Denkweise und Zielstellungen der Pakistani im klaren. Der US-Oberkommandierende in Afghanistan, General Stanley McChrystal, gab z.B. in einem vielbeachteten Bericht für US-Präsident Barack Obama zur Lage in Afghanistan vom September dieses Jahres zu bedenken, daß »die Verstärkung des indischen Einflusses in Afghanistan aller Wahrscheinlichkeit nach die regionalen Spannungen verstärken und zu pakistanischen Gegenmaßnahmen führen wird«. Trotz dieser Einsicht verlangen die USA von Islamabad, seine eigenen nationalen Sicherheitsinteressen hinter die Washingtons zu stellen, koste es, was es wolle.
Zugleich stellt die Administration des Kriegsnobelpreisträgers Obama den Pakistani ein Ultimatum: Entweder ihr stellt eure Streitkräfte unter unsere (amerikanische) strategische Kontrolle und geht gegen alle Taliban vor, auch gegen Haqqini, oder wir bombardieren eure Städte. Laut Los Angeles Times denken »hochrangige US-Regierungsbeamte«, daß das eine gute Idee sei. Immer mehr sprechen sich demnach für Angriffe auf Quetta aus, die Hauptstadt Belutschistans. Militärische Quellen in Pakistan werden aber mit der Formulierung zitiert, dadurch würden die Amerikaner »die rote Linie« überqueren. Dennoch ist zu erwarten, daß die USA über die ganze Region noch mehr Verheerung bringen. Einziger Lichtblick: Das US-Imperium wird dabei immer weiter geschwächt.
** Aus: junge Welt, 23. Dezember 2009
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