Afghanistan – die Dialektik eines prominenten Diskurses
von Thorsten Hinz *
Afghanistan gehört seit dem 11.
September 2001 zu den Ländern,
die in den internationalen Debatten
überpräsent sind. Diese Überrepräsentanz
hat vor allem mit dem militärischen
Engagement des Westens
zu tun. Es ist ein Diskurs, der über
die Jahre erschreckend wenig Fortschritte
und Ergebnisse für die viel
geplagte afghanische Zivilgesellschaft
erbracht, dafür aber umso mehr
Hoffnungen auf internationale Friedenslösungen
untergraben hat. Es
scheint das alte Wort von Max
Horkheimer und Theodor Adorno
zu gelten – es darf viel geredet werden,
aber niemand hört mehr hin.
Es ist ein Reden und Schreiben, das
in der Wirkungslosigkeit und im
Scheitern zynisch wird. Auch Nichtregierungs-
und Menschenrechtsorganisationen
sowie Hilfswerke müssen
sich im Falle Afghanistan fragen,
was sowohl ihre Arbeit als auch ihre
Kritik bislang für Folgen gezeitigt
hat, inwieweit sie nicht selbst Teil
eines sich im Kreise drehenden Diskurses
sind.
Terrorgefahr
Die Präsenz des westlichen Militärs in
Afghanistan wird durch die Terrorgefahr
legitimiert, die sich augenscheinlich im
Treiben von Al-Kaida und Taliban zeigt
und das als eine weltweite Gefahr gesehen
wird. Es ist zum einen dieses Terror-
und Bedrohungsargument, das zum
größten und teuersten Bundeswehr-Einsatz
außerhalb Deutschlands geführt
hat, mit mittlerweile rund 4.500 in
Afghanistan stationierten Soldaten und
Soldatinnen. Das Terrorargument wird
aber zugleich von der deutschen und
den anderen am ISAF-Mandat beteiligten
Regierungen durch das Schutz- und
Sicherungsargument ergänzt. ISAF steht
für International Security Assistance
Force und bezeichnet das militärische
Mandat, das der UN Sicherheitsrat mit
der Resolution 1386 nach dem Sturz
der Taliban zum Schutz der Karzai-Übergangsregierung
Ende 2001 ausgesprochen
hatte. Das UN-Mandat umfasste
damals 5.000 Soldaten. Nach der
Niederlage des Taliban-Regimes sollten
die im Dezember 2001 auf dem Petersberg
bei Bonn benannte Übergangsregierung
sowie die afghanische Zivilbevölkerung
beim Neuanfang, bei der
Neuordnung und dem Wiederaufbau
beschützt und begleitet werden.
In Reden über das Terror- bzw. Bedrohungsargument
wird von Politikern fast
aller Bundestagsfraktionen immer wieder
betont, dass die »westliche Freiheit und
Demokratie am Hindukusch verteidigt
werden müsse«. Die dortige Präsenz der
Bundeswehr leiste einen wichtigen Beitrag
zur Verhinderung von geplanten
Terroranschlägen in der westlichen Welt,
so der Tenor. Entsprechend folgerichtig
scheint auch die immer wieder mit einer
breiten Mehrheit erfolgende Verlängerung
des Afghanistan-Mandates im Bundestag
zu sein, zuletzt im Herbst 2008.
Interessanterweise widersprechen diese
Mehrheiten der durch zahlreiche Erhebungen
erfragten Stimmung in der deutschen
Bevölkerung. Bis zu 70% der Bürger
und Bürgerinnen haben sich Ende
2008 in verschiedenen Umfragen eindeutig
gegen das Engagement der Bundeswehr
in Afghanistan ausgesprochen.
Diese Ablehnung speist sich allerdings
weniger aus einer grundsätzlichen kritischen
Haltung gegenüber dem Bedrohungsargument
als vielmehr aus der Sorge,
dass die Bundeswehr sich in einen
endlosen Krieg mit zahllosen Opfern in
den eigenen Reihen verwickeln könnte.
Es ist unbestritten, dass Al-Kaida ein
hochgefährliches Terror-Netzwerk ist,
das nachweislich in aller Welt schreckliche
Attentate mit zahllosen Opfern verübt
hat, insbesondere unter der Zivilbevölkerung.
Richtig ist auch, dass in Zeiten
des Taliban-Regimes Al-Kaida unter
Führung von Osama Bin Laden in
Afghanistan Unterschlupf gesucht und
gefunden hat. Mit dem 11. September
2001 und dem Sturz des Taliban-Regimes
ist allerdings eine radikale Wende
der Gesamtsituation eingetreten. Al-
Kaida und andere weltweit operierende
Terror-Netzwerke sind heute extrem
mobile und flexible Strukturen, die
überall zuschlagen können. Es sind Einheiten,
die immer stärker ohne Anbindung
an eine Hierarchie agieren, die
keinem spezifischen Befehl folgen und
die unter bestimmten Bedingungen in
nahezu jeder mitteleuropäischen Kleinstadt
entstehen können. Die Londoner
Bombenanschläge vom 7. Juli 2005
wurden von solcherart Attentäter durchgeführt.
Auch die 2008 enttarnte »Sauerland-
Gruppe« spiegelt diese ganz andere
Bedrohungssituation wider. Es ist
eine Bedrohung, die kein afghanisches
oder pakistanisches Hinterland mehr
braucht. Der Journalist und Taliban-Experte
Ahmed Rashid hat in gut recherchierten
Beiträgen immer wieder erläutert
wie diese moderne »omnipotente
Bedrohung«, oder konkreter: ein „weltumfassender
Dschihad“, ihren Anfang
nahmen mit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion. Islamistische Kreise hatten
damals die westliche Welt als negative
Bedrohungs- und Projektionsfläche entdeckt.
Selbstredend spielt bei den weltweit
vernetzten Terror-Netzwerken
auch die »elektronische Globalisierung« eine maßgebliche Rolle. Das Internet
bietet unzählige Optionen, um
sich virtuell zu treffen, zu besprechen
und voneinander zu lernen. Baupläne
für Bomben und Sprengfallen, Anschlagsaufrufe
sowie Attentats-Konzepte
kursieren in großer Zahl und lassen sich
selbst von Computer-Amateuren mit
entsprechenden Sprachkenntnissen relativ
leicht finden. Natürlich ist unumstritten,
dass in hochsensitiven Konflikt-
und Krisenregionen wie beispielsweise
in Kaschmir, Palästina, Jemen, Sudan,
Somalia, Kongo, Kolumbien oder
eben auch Afghanistan asymmetrische
Terrorstrukturen viel leichter gedeihen
und wachsen als in stabilen sozial-ökonomischen
Verhältnissen. Die knappe
und bei weitem unvollständige Aufzählung
zeigt allerdings das Dilemma, in
das die USA die Welt mit ihrem Aufruf
zum »war against terror« gestürzt hat. Es
ist ein Aufruf, der verlangen würde, dass
überall dort, wo sich Terror-Netzwerke
aufhalten oder aufhalten könnten, militärisch
interveniert werden müsste. Der
Aufruf hat eine Hybris entfesselt, in die
unter anderem der Irak-Krieg, der Libanon-
Krieg zwischen Israel und Hizbollah
und die heftigen Konflikte mit dem
Iran als einer aus westlicher Sicht potenziell
gefährlichen Mittelmacht zu subsumieren
sind.
Die Debatte über so genannte »humanitäre
militärische Interventionen«, sich
berufend auf die UN-Resolution 60/1
(2005), ist seit den »Balkan-Interventionen
« und dem Scheitern der Weltgemeinschaft
beim Genozid in Ruanda
eine der großen Themen auf der Ebene
der Vereinten Nationen. Verkürzt dargestellt
geht es um die Klärung folgender
Frage: Was sind die Eindämmungs- oder
Verhinderungspotentiale der Weltgemeinschaft
im Falle regionaler oder nationaler
massiver Menschenrechtsverletzungen?
In der Diskussion um das Terrorargument
muss nicht zuletzt darauf hingewiesen
werden, dass die Taliban eine eindeutig
regionale, aber durchaus heterogene
Bewegung sind, die vor allem zwei Dinge
eint: erstens ein radikal sunnitisch geprägter
Islam wie er in den Madrassas im
afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet
gelehrt wird und zweitens das Ziel,
Afghanistan von jeglicher Fremdherrschaft
frei zu halten. Die Taliban haben
keine globale Perspektive und taugen
entsprechend nur sehr begrenzt für die
Bedrohungsszenarien, die in Westeuropa
und den USA als Rechtfertigung für den
Einsatz dienen.
Schutz und Sicherheit
Das zweite entscheidende Argument für
die Präsenz des Westens am Hindukusch
dreht sich um den Schutz der
afghanischen Bevölkerung. Es ist ein
Schutz- und Sicherungsargument, das
sich sowohl im militärischen ISAFMandat
ausdrückt als auch im zivilen
UNAMA-Mandat (UNAMA = United
Nations Assistance Mission in Afghanistan).
Beide Mandate sind Ergebnisse
der Bonner Petersberg Konferenz und
haben bis heute den Auftrag, die afghanische
Regierung zu schützen und zu
unterstützen. Die obige kurze Reflexion
über die Taliban hat bereits angedeutet,
dass das Phänomen »Taliban« mit dem
durch US-Kräfte massiv unterstützten
Sieg der Nordallianz im Herbst 2001
nicht sein Ende gefunden hat. Die
Rückkehr und Machtentfaltung der Taliban
ist für viele westliche Beobachter
ein Absurdum, sollte doch gerade der
afghanischen Bevölkerung das Leid aus
den Jahren von 1996 bis 2001 – symbolisiert
mit Begriffen wie Burka, Scharia
und Steinigungen – noch sehr bewusst
sein. Übersehen wird dabei, dass es gerade
unverhältnismäßige westliche Militär-
Aktionen sind, die die afghanische
Bevölkerung verunsichern, ihr den Eindruck
einer Besatzung vermitteln und
sie für Taliban-Offerten anfällig macht.
Allein im Jahr 2008 ist die ohnehin bereits
hohe Zahl der Zivilopfer um weitere
40% angestiegen. Hier wirkt auch
das kollektive Trauma der sowjetischen
Okkupationszeit (1979-1989) nach.
Die Gewaltspirale in den Kämpfen zwischen
ISAF/NATO- und OEF-Verbänden
gegen Taliban und andere Aufständische,
bei denen es in den letzten acht
Jahren mehrere Tausend zivile Opfer zu
beklagen gibt, tut ein Übriges. Viele
Afghanen sehen sich inzwischen in
Kriegszeiten zurückgekehrt. Es ist ein
Krieg, bei dem sie sich von denen, die
sie eigentlich schützen sollten, nicht geschützt
fühlen. Sie sehen NATO-Truppen,
die sich in ihren Camps und Kasernen
verbarrikadiert haben und kaum
noch Kontakt zur Zivilbevölkerung zulassen.
Schließlich sind sie mit einer
jungen afghanischen Armee und Polizei
konfrontiert, in denen Korruption, willkürliche
Gewalt und Überläufertum
grassieren.
Astrid Suhrke beschreibt in einem
Aufsatz von 2008 wie sich die NATO,
die das ISAF-Mandat leitet und maßgeblich
ausübt, von der ursprünglich
gewollten Stabilisierungs- und Schutzrolle
in einen Krieg hat manövrieren lassen,
wie aus einem militärischen „light
footprint“ ein „heavy footprint“ wurde,
mit jetzt mehr als 61.000 NATO-Soldaten
in Afghanistan (Stand: 13. März
2009). Einen der entscheidenden Gründe
hierfür sieht sie in der immer enger
gewordenen Verflechtung von ISAF- und
OEF-Mandat (Suhrke 2008). Auch
wenn Politiker formell und aus gutem
Grund auf die Trennung der beiden
Mandate hinweisen, ist diese »Trennung
« aus Sicht der afghanischen Bevölkerung
nicht mehr existent. Die Bevölkerung
sieht keinen Unterschied mehr
zwischen Einsätzen, bei denen »Terroristen
« gejagt werden, oder solchen, bei
denen sie selbst eigentlich geschützt
werden sollte und doch im Rahmen der
Aufstandsbekämpfung immer wieder
die höchsten Opferzahlen zu beklagen
hat. Suhrke rät deshalb der NATO dringend
größere Kampfeinsätze, Luftangriffe
und Offensiven künftig zu vermeiden,
will sie nicht den letzten Rest
an Vertrauen und Hoffnung bei der Zivilbevölkerung
verspielen. Fatal wirken
auch Äußerungen von hochrangigen
US-Militärs, die immer unverhohlener
eine Zusammenführung von ISAF- und
OEF-Mandat fordern und damit zusätzlich
den eigentlichen Schutz- und Sicherungsauftrag
der ISAF untergraben.
Bei der Entsendung der deutschen »Tornados
« nach Afghanistan war auch nicht
von ungefähr eine der kritischsten Fragen,
inwieweit diese nicht eher den
OEF-Truppen nützen als den ISAF-Truppen.
Manche europäische Politiker
und Militärs mögen über die zunehmende
Feindschaft und Ablehnung innerhalb
der afghanischen Zivilbevölkerung
alarmiert sein. Sie verhindern damit
nicht, dass die Glaubwürdigkeit des
Westens immer weiter und immer
schneller erodiert. Theodor Fontane hat
nach einer von drei gescheiterten britischen
Afghanistan-Invasionen eine lyrische
Mahnung formuliert, die höchst
aktuell klingt:
„Die hören sollen, sie hören
nicht mehr/ Vernichtet ist das ganze
Heer,/ Mit dreizehntausend der Zug begann,/
Einer kam heim aus Afghanistan.“
Schwierige Hilfe
Das kurze Nachdenken über die Legitimierung
der westlichen Präsenz in Afghanistan
gibt ein besseres Verständnis für die
problematischen Rahmenbedingungen, in
denen Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen
sowie Hilfswerke ihrem
humanitären Mandat in Afghanistan
zu entsprechen versuchen. Es ist ein Kontext,
der in den letzten Jahren immer
schwieriger und politischer geworden ist.
Es ist ein Kontext, in dem die humanitären
Mandate ihre Unabhängigkeit immer
wieder neu behaupten müssen.
Die Afghanistan-Konferenz in Paris
im Juni 2008 hatte Vertreter von 90
Staaten und internationalen Organisationen
zusammengerufen, um Bilanz über
den Stand von Wiederaufbau, Entwicklung
und Stabilisierung zu ziehen. Während
der Konferenz wurde auch die so
genannte Nationale Afghanische Entwicklungsstrategie
(ANDS) vorgestellt.
In ihr hat die afghanische Regierung einen
Plan für die wichtigsten Bereiche des
Wiederaufbaus bis zum Jahr 2012 ausgearbeitet.
Das, was die afghanische Regierung
im Zusammenspiel und mit Unterstützung
von UNAMA und den Unterstützer-
Staaten im zivilen Bereich über
das »National Solidarity Program« (NSP)
und die »Afghanistan National Development
Strategy« (ANDS) an Aufbau und
Entwicklung zu verwirklichen versuchte,
ist allerdings bis heute nur wenig erfolgreich
gewesen.
Nach wie vor lebt die überwiegende
Mehrheit der Bevölkerung in extremer
Armut und hat nur geringe Aussichten,
dem Kreislauf der Not zu entkommen.
Matt Waldman, der Afghanistan-Experte
der britischen Hilfsorganisation »Oxfam
«, hat im Vorfeld der Pariser Afghanistan-
Konferenz gemeinsam mit der
Dachorganisation der in Afghanistan
engagierten Nichtregierungsorganisationen
ACBAR (Agency Coordinating
Body For Afghan Relief ) die Studie
»Falling Short. Aid Effectiveness in
Afghanistan« veröffentlicht (Waldman
2008). Die Studie kommt zu einem vernichtenden
Urteil über die bislang geleistete
Hilfe: 100 Millionen US-Dollar
an täglichen Militärkosten für die US-Streitkräfte
stehen sieben Millionen USDollar
an täglichen zivilen Hilfen aller
Geldgeber gegenüber. Von 39 Milliarden
US-Dollar, die die internationale
Staatengemeinschaft für die Jahre 2002
bis 2011 an Hilfe zugesagt hat, wurden
bislang nur 40 Prozent eingelöst. Länder
wie Indien, Spanien oder Frankreich
kommen ihren Zusagen nur sehr schleppend
nach. Auch die Asiatische Entwicklungsbank
hat bislang nur ein Drittel
ihrer Zusagen eingelöst. In den Jahren
2002 und 2003 betrug die Pro-
Kopf-Hilfe für Afghanistan jährlich 57
US-Dollar. Das kontrastiert beispielsweise
mit Ländern wie Bosnien oder
Ost-Timor, in denen die jährliche Pro-
Kopf-Hilfe in den ersten zwei Einsatzjahren
679 US-Dollar beziehungsweise
233 US-Dollar betragen hatte. In den
Jahren 2007/2008 zeigte sich, dass
afghanische Kriegsprovinzen wie Helmand,
Zabul, Nimroz und Uruzgan
eine Pro-Kopf-Hilfe von jährlich rund
200 US-Dollar erhalten haben. Relativ
friedliche Provinzen dagegen, die zudem
zu den ärmsten in Gesamtafghanistan
zählen, wie beispielsweise Sari Pul, Daikundi
oder Takhar, empfingen in diesen
Jahren dagegen nur etwa 60 US-Dollar
Pro-Kopf-Hilfe. Dieser Umstand hat zu
Recht die Bewohner dieser Regionen
fragen lassen, ob Krieg ein Kriterium
für die Vergabe von zivilen Leistungen
sei.
Besonders kritisch ist zudem, dass in
Afghanistan große Teile der ohnehin
spärlichen Entwicklungshilfe für sicherheitsrelevante
Bereiche verausgabt werden
und damit nicht mehr der Armutsbekämpfung
zur Verfügung stehen.
Über die Zivil-Miliärische Zusammenarbeit
erfolgt dabei eine hochproblematische
Vermischung, teilweise bis hin zu
dem Punkt einer direkten Kriegsunterstützung.
Ein Beitrag im »Small Wars
Journal« (Mann 2008) mit dem bezeichnenden
Titel »Die Integration von
Spezialeinheiten und USAID in Afghanistan
« etwa beschreibt, auf welche Weise
die US-Entwicklungshilfeagentur
dort einen direkten Beitrag zur Aufstandsbekämpfung
leistet. Sie vergibt
gezielt Gelder als „Belohnung für Gemeinden,
die Aufständische hinausgeworfen
haben“ und zur „Stärkung der örtlichen
Bereitschaft und der Fähigkeiten,
sich den Aufständischen zu widersetzen.“
Weiter gehe es für USAID darum, die
„Aufständischen von der Bevölkerung zu
isolieren.“ Der Beitrag endet folgerichtig
mit dem Fazit: „Die Entwicklungshilfeagenturen
müssen die Samthandschuhe
ausziehen.“
Vor diesem Hintergrund kritisierte
»Caritas international« (2008),
dass „die Ausschüttung der Hilfsgelder
nicht an den tatsächlichen Hilfs-Bedarf gekoppelt
ist, sondern sich vielmehr an der
Aufstandsbekämpfung orientiert.“ Damit
verlieren zivile Organisationen, selbst
die, die eine solche Kooperation ablehnen,
ihre – für die Gewährleistung humanitärer
Hilfe und für die Sicherheit
der Helfer essenzielle – politische Neutralität.
Sie werden in den Augen der
afghanischen Bevölkerung zu integralen
Bestandteilen des Besatzungsregimes und
damit zu Gegnern. Zu einemähnlichen
Schluss gelangt auch die »Stiftung Wissenschaft
und Politik« (Hoffmann 2008,
S. 49):
„Die Verquickung staatlicher und
nichtstaatlicher Ansätze raubt der zivilen
Hilfe zunehmend jene Eigenständigkeit,
die sie gerade ihrem nicht-staatlichen Charakter
verdankt, und lässt sie als Teil der
politisch-militärischen Strategie der in
Afghanistan präsenten Staaten erscheinen.“
All diese Faktoren tragen dazu bei,
dass in Afghanistan erschreckenderweise
weiterhin 4,5 Millionen Menschen unter
extremem Mangel an Nahrungsmitteln
und Trinkwasser leiden. Eine Millionen
Kleinkinder und Babys sind unterernährt
und haben weltweit gesehen mit die
schlechtesten Chancen, ihr fünftes Lebensjahr
zu erreichen. Auch im achten
Jahr der internationalen Hilfe für Afghanistan
zählt die Mütter- und Kindersterblichkeit
zu den höchsten in der
Welt. Nahezu fünf Millionen mehrheitlich
unfreiwillige Rückkehrer aus den
Nachbarstaaten Pakistan und Iran wissen
nicht, wie sie ihren täglichen Lebensunterhalt
bewältigen und wie sie in einem
Land mit zerstörter Infrastruktur soziale
und wirtschaftliche Perspektiven aufbauen
können.
Auswege
In zwei Positionspapieren fordern die in
Afghanistan engagierten deutschen Hilfsorganisationen
folgerichtig von der internationalen
Staatengemeinschaft dreierlei,
will man nicht alsbald in Afghanistan
scheitern (VENRO 2008/2009): Erstens
muss in gemeinsamen Anstrengungen
der Teufelskreis der Gewalt durchbrochen
und eine realistische Exit-Strategie
für das Militärengagement definiert werden.
Zivile und militärische Mandate
dürfen nicht vermischt werden, was in
der Konsequenz bedeutet, dass »Regionale
Wiederaufbauteams« (PRT) und »Regionale
Beraterteams« (PAT) aufzulösen
sind. Insbesondere wird auch vor Überlegungen
gewarnt, dass die Zivil-Militärische
Zusammenarbeit künftig von
Afghanistan „auf andere Konflikt- beziehungsweise
Post-Konfliktszenarien übertragen
wird“
(VENRO 2009). Zweitens
muss sich sowohl finanziell als auch in
den Aktivitäten ein klarer Vorrang von
zivilem Aufbau und nachhaltiger Entwicklung
zeigen. Drittens sollen sich alle
Seiten dafür einsetzen, Menschenrechte
zu schützen und Versöhnung anzuregen.
Dazu gehört, dass das von der Karzai-Regierung
verabschiedete und von den
USA unterstützte Amnestiegesetz zurückgenommen
wird. Gerade die Kooperationen
von NATO-Truppen und afghanischer
Regierung mit ehemaligen
Kriegsverbrechern und aktuellen Warlords
sorgen für hohe Frustration innerhalb
der afghanischen Zivilbevölkerung.
Diese drei Hauptanliegen benennen
einen Rahmen, in dem die humanitäre
Hilfe in Afghanistan neu gedeihen und
ihre Kompetenz und ihre Nähe zur
afghanischen Bevölkerung für eine bessere
Zukunft einsetzen könnte. Durch
eine erfolgreiche und von der afghanischen
Bevölkerung anerkannte humanitäre
Hilfe, Menschenrechts- und Entwicklungszusammenarbeit
kann ein Beitrag
geleistet werden, der insgesamt das
Ansehen des Westens in ein vielschichtigeres
und positiveres Licht hebt. 2009
wird für Afghanistan ein Schicksalsjahr.
Es ist das Jahr, in dem der neue amerikanische
Präsident Barack Obama neue
Weichen für Afghanistan stellen will
und in dem die afghanische Bevölkerung
einen neuen Präsidenten wählt. Es
ist ein Jahr, in dem die internationale
Staatengemeinschaft endlich eine positive
»Afghanisierung« zulassen sollte und
in dem sie den schon lange verkündeten
Strategiewechsel in konkrete Aktivitäten
in den Bereichen Koordination,
Ownership, Transparenz, Wiederaufbau
und Sicherheit münden lassen sollte.
Afghanistan braucht nicht mehr internationale
Soldaten, sondern Geld und
Investitionen, Geduld und Vertrauen,
Koordination und Weitsicht – kurzum
einen abgestimmten politischen Willen
aller wichtiger Akteure.
Um diesen Willen zu rufen und einzufordern,
müssen Menschenrechtsund
Nichtregierungsorganisationen
künftig noch viel deutlicher machen,
dass sie ausschließlich auf der Seite der
bedrohten und verletzten afghanischen
Zivilbevölkerung stehen, dass sie nicht
Teil einer wie auch immer zu verstehenden
okzidentalen Bedrohung sind (Buruma/
Margalit 2005). Um ihre Unabhängigkeit
zu wahren und Vertrauen zu
gewinnen, müssen sie sich gegen jedwede
Instrumentalisierung wehren. Sie
dürfen sich weder in einer zynischen
Dialektik verlieren noch dort hineindrängen
lassen. Es ist Zähigkeit und
Phantasie gefragt, um den vielfältigen
Bedrohungen zu widerstehen, um mit
den Menschen in Afghanistan neue
Wege der Hoffnung zu beschreiten. Peter
Rühmkorf hat für das Widerstehen
unvergessene Worte gefunden:
„Widersteht! im Siegen Ungeübte,
zwischen Scylla hier und dort Charybde
schwankt der Wechselkurs der Odyssee ...
Finsternis kommt reichlich nachgeflossen;
aber du mit – such sie dir! – Genossen!
teilst das Dunkel, und es teilt sich die Gefahr,
leicht und jäh –
Bleib erschütterbar!
Bleib erschütterbar – und widersteh.“
Literatur-
Buruma, Ian/Margalit, Avishai (2005): Okzidentalismus:
Der Westen in den Augen seiner Feinde.
-
Caritas international 2008: Caritas fordert Strategiewechsel
für Afghanistan.
-
Hoffmann, Claudia (2008): Das Problem der Sicherheit
für NGOs in Afghanistan, in: Schmidt,
Peter (Hg.): Das internationale Engagement in
Afghanistan, SWP Studie, S. 49-55.
-
Mann, Sloan (2008): The Integration of Special
Operation Forces and USAID in Afghanistan,
in: Small Wars Journal, August 2008.
-
Suhrke, Astrid (2008): A Contradictory Mission?
NATO from Stabilization to Combat, in: International
Peacekeeping, 15 (2): 214-236.
-
VENRO (2008): Perspektiven für Frieden, Wiederaufbau
und Entwicklung in Afghanistan.
Deutsche Hilfsorganisationen ziehen nach einem
Jahr Bilanz. VENRO-Positionspapier.
-
VENRO (2009): Fünf Jahre deutsche PRTs in
Afghanistan: Eine Zwischenbilanz aus Sicht der
deutschen Hilfsorganisationen.
-
Waldman, Matt (2008): Falling short: aid effectiveness
in Afghanistan, in: ACBAR advocacy series.
* Dr. Thorsten Hinz, Ethnologe und Philosoph,
ist Afghanistan-Experte bei Caritas
international, dem Hilfswerk der
Deutschen Caritas, mit Sitz in Freiburg
im Breisgau.
Dieser Beitrag erschien in: Wissenschaft & Frieden 2/2009, S. 53-56.
Die Zeitschrift Wissenschaft & Frieden erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
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