Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Angst vor dem Weg zum Krankenhaus

Realitäten in und um Afghanistan: Von Zulagen für Soldaten und Problemen, verletzte Zivilisten zu versorgen

Von René Heilig *

In Afghanistan wird seit Jahrhunderten immer wieder Krieg geführt. Der jüngste, den die NATO ins Land getragen hat, dauert nun schon über neun Jahre. Fast täglich »fallen« Soldaten. Sie sind zumindest eine kurze Pressenotiz wert. Wie viele Zivilisten täglich umkommen, registriert niemand. Auch im Elend sind nicht alle gleich.

44 Bundeswehrsoldaten sind bislang in Afghanistan umgekommen. Der vorerst letzte Tote, ein Oberfeldwebel des Fallschirmjäger-Bataillons 313 aus Seedorf in Niedersachsen, wurde nur 26 Jahre alt. Wieder erklärte die herrschende Politikergilde, dass es erstens keine Alternative zum ISAF-Einsatz gebe und versprach zweitens, dass man alles Erdenkliche unternehmen werde, um die eingesetzten Soldaten mit dem größtmöglichen Schutz zu versehen.

Allzu oft wird Schutz mit Bestechung verwechselt. Man unternimmt viel, um den Soldatenberuf trotz zunehmender eigener Opferzahlen attraktiv zu halten. Natürlich läuft alles im Rahmen des Dienstrechtsneuordnungsgesetzes. Wer beispielsweise Dienst tut bei den Spezialkräften der Bundeswehr - dazu gehören jene KSK-Elitekämpfer, die nächtens auf Taliban-Beutefang gehen -, bekommt seit dem 1. April 2008 nach bestandener Aufnahmeprüfung 3000 Euro und nach abgeschlossener Ausbildung 10 000 Euro auf die Hand. Für jedes weitere Verpflichtungsjahr über sechs Jahre hinaus werden 5000 Euro aus dem Steuerhaushalt überwiesen.

Um die zusätzlichen Belastungen aller Soldaten im Auslandseinsatz zu mindern, gibt es für jeden Abkommandierten - steuerfrei - einen sogenannten Auslandsverwendungszuschlag, kurz AVZ genannt. Gezahlt wird er in sechs Stufen. Die erste beginnt bei 25,56 Euro, bei der ISAF in Afghanistan sind 110 Euro pro Tag drin.

Natürlich wird dieses Zubrot auch an die Realitäten in der Heimat angepasst. Beispiel: Der AVZ darf »nicht zur Berechnung des Einkommens einer Bedarfsgemeinschaft herangezogen werden, das heißt, lebt ein Soldat/eine Soldatin mit einem Partner zusammen, der Arbeitslosengeld II/ Sozialgeld nach SGB II beantragt, muss der AVZ unberücksichtigt bleiben«. So lautet das Amtsdeutsch.

Ein wesentliches Element jedes deutschen Auslandseinsatzes ist die medizinische Betreuung der Soldaten. Als immer mehr Ärzte der Bundeswehr den Rücken kehrten, handelte man entschlossen und zahlt auf sechs Jahre befristet eine Zulage von 600 Euro für Fachärzte und Rettungsmediziner.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Kein verlorenes Leben lässt sich in Geld aufwiegen. Weder das von Soldaten noch das von vergleichbaren Kämpfern. Gleiches gilt erst recht für das unschuldiger Zivilisten, die laut jüngster Auskunft des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) immer stärker zwischen die Fronten geraten. Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich nach Einschätzung des Roten Kreuzes dramatisch verschlechtert. Beispiel Kandahar. In den Monaten August und September seien ungefähr 1000 kriegsverletzte Zivilisten ins dortige IKRK-Hospital gebracht worden. Das sind doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum 2009.

»Und das ist nur die Spitze des Eisberges«, sagte Reto Stocker, Leiter der IKRK-Delegation in Kabul. So übersteige die Anzahl der Patienten, die wegen des Kriegs an anderen Verletzungen oder ansteckenden Krankheiten litten, die der direkten Kriegsverletzten deutlich. Es gebe Mütter, die ihre Kinder zu spät zu Ärzten bringen, weil sie sich nicht aus dem Dorf trauen, weil sie Angst haben vor immer mehr bewaffneten Horden auf beiden Seiten der nicht definierten Front. Viele holen ihre Angehörigen noch vor dem Abschluss der Behandlung aus den Krankenhäusern, denn es ist vielerorts gefährlich, sich von »fremden« Medizinern helfen zu lassen.

Zudem erschwere die Sicherheitslage eine Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten. Kinder würden so an eigentlich heilbaren Krankheiten sterben, schwangere Frauen immer öfter die Geburt ihres Kindes nicht überleben und gesunde Männer einfachen Infektionen erliegen. Tuberkulose, Tetanus und Masern - allesamt eigentlich beherrschbare Krankheiten - wachsen sich zum unbeherrschbaren Problem aus.

In all dem Elend ist es ein Erfolg, wenn das Rote Kreuz jüngst in der umkämpften Südprovinz Helmand ein neues Zentrum für Prothetik eröffnen konnte. Es ist das siebte in Afghanistan. Jedes behandelt jährlich rund 1500 Bedürftige.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Oktober 2010


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur Bundeswehr-Seite

Zurück zur Homepage