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"Wir hassen sie dafür"

Nicht nur die Taliban wollen den Abzug der Ausländer aus Afghanistan

Die kritische Schweizer Wochenzeitung WoZ wirft verdienstvoller Weise auch wieder einen Blick über den Irak hinaus: diesmal auf Afghanistan.


Von Jan Heller, Kabul

«Soll ich ihn töten?», fragte der Bewaffnete über Satellitentelefon. Die Antwort lautete: «Ja.» Eine Salve aus der Kalaschnikow beendete am 29. März das Leben des 39-jährigen IKRK-Mitarbeiters Ricardo Munguia. Sein Auto war bei Kandahar in Südafghanistan gestoppt worden. Die Mörder liessen Munguias afghanische Begleiter laufen. Sie wurden gewarnt, dass auch sie beim nächsten Mal getötet würden, wenn sie weiter für die Karsai-Regierung arbeiten würden – denn Karsai sei ein «Sklave Amerikas».

Der Mord an Munguia ordnet sich in einen Trend zunehmender Aktivitäten von Gruppierungen ein, die Karsais Übergangsregierung und die Präsenz ausländischer Truppen in Afghanistan bekämpfen. Seit Monaten rufen Flugblätter zum Widerstand gegen die «Okkupantentruppen» auf. Am 1. April veröffentlichte die arabische Zeitung «al-Hajat» sogar eine entsprechende Fatwa von Taliban-Chef Mullah Muhammad Omar, die in Posterform inzwischen auch im Land selbst aufgetaucht ist. Anfang April brachten Bewaffnete in der Südprovinz Urusgan Hadschi Gailani und seinen Neffen um. Gailani hatte Karsai Ende 2001 Unterschlupf gewährt, als der in Urusgan mit US-Hilfe eine Anti-Taliban-Front aufbaute. In der Provinz Logar nahe Kabul sowie im Dorf Scheich Muhammadi in der Nähe von Kandahar wurden erneut Mädchenschulen niedergebrannt. In Scheich Muhammadi erschienen vermummte Bewaffnete, die sich als Kämpfer eines Dschaisch-e Muslimin (Heer der Muslime) bezeichneten. Sie zerschlugen Fenster der frisch renovierten Schule, stachen auf Bilder Karsais und des früheren Königs ein und zündeten Schulbücher an.

Vor diesem Hintergrund spekulieren westliche Medien darüber, dass die Taliban ihre Strukturen wieder belebt hätten. Der «Christian Science Monitor» sieht ein «militantes Dreieck» aus Neo-Taliban, Al-Kaida-Resten und der Partei des Radikalfundamentalisten Gulbuddin Hekmatjar. Es scheint ausser Frage, dass diese Gruppen tatsächlich wieder aktiver geworden sind. Aber ob und wie sie zusammenarbeiten, ist alles andere als klar. Sowohl Hekmatjar als auch Taliban-Führer erklärten übereinstimmend, dass es sich nicht um eine formale Allianz handle, sondern dass man ein gemeinsames Ziel verfolge – die Vertreibung der «ungläubigen» Ausländer. Daneben melden sich neue Gruppen zu Wort, die die Verantwortung für Aktionen gegen US-Truppen oder Soldaten der internationalen Schutztruppe übernehmen. Darunter sind die Schabab ul-Muslimin (Muslimjugend), die Mullah Omar als ihren Anführer anerkennen, aber behaupten, von den Taliban getrennte Strukturen aufgebaut zu haben, oder die in der vorigen Woche erstmals aufgetauchte Gruppe Saif-e Muslimin (Schwert der Muslime). Doch ob sie tatsächlich existieren oder nur Decknamen für Taliban- oder Pro-Hekmatjar-Gruppen sind und ob sie mehr tun, als Zeitungsredaktionen mit militanten Statements zu versorgen, ist unklar.

Auf den ersten Blick scheinen die Umstände des Mordes an Munguia auf die Taliban hinzudeuten. Ein Afghane, der bei dem Mord anwesend war, will am anderen Ende der Leitung Mullah Dadullah gehört haben – einen der berüchtigsten Schlächter des Taliban-Regimes, der für mehrere Massaker verantwortlich ist und auch eine Schlüsselrolle bei der Sprengung der Buddha-Statuen von Bamian gespielt haben soll. Er hat sich Ende März als erster Taliban-Führer seit dem 11. September 2001 mit Originalton interviewen lassen. Er sagte, dass die Taliban die Macht wieder erringen wollen und Mullah Omar ihn und einen weiteren Kommandeur zu Oberbefehlshabern der reorganisierten Taliban-Streitmacht ernannt habe. Aber auch hier ist unklar, ob es sich um Realität oder psychologische Kriegsführung handelt. Am Abzug der Ausländer sind aber nicht nur übrig gebliebene Taliban interessiert. Längst rufen Mullahs über die Lautsprecher der Moscheen und frühere Mudschaheddin-Führer wie Expräsident Burhanuddin Rabbani zu einem neuen Dschihad gegen die Fremden auf, die «unsere heilige Religion, den Islam» bedrohen, indem sie dem Land «Demokratie aufzwingen» wollen. Diese Anti-Taliban-Fundamentalisten dominieren die derzeitigen Regierungsstrukturen in Kabul, da die internationale Gemeinschaft es versäumte, nach dem Sturz der Taliban auch für eine Entwaffnung der anderen bewaffneten Gruppen zu sorgen. Zudem bestehen mehr oder minder heimliche Beziehungen zwischen den Neo-Taliban und diesen Fundamentalisten innerhalb des Regierungslagers.

Schliesslich spielen auch die Aktionen der US-Truppen diesen Kräften in die Hände. Innerhalb weniger Wochen führten sie mindestens vier grössere Offensiven aus, um führender Taliban habhaft zu werden. Dabei nahmen sie einige Talibanführer der zweiten Garde fest, erschossen einen ehemaligen Taliban-Minister und verhafteten einen weiteren Vizeminister. Aber die Führer der Bewegung sind nach wie vor auf freiem Fuss. In ihrer Frustration nehmen die US-Soldaten immer weniger auf örtliche Empfindlichkeiten Rücksicht: Bei Hausdurchsuchungen werden auch die für Männer tabuisierten Frauenquartiere gefilzt. Und am 9. April traf erneut eine US-Bombe eine Familie. Elf Menschen kamen in Schkin in der Provinz Paktika um. Auf einer Pressekonferenz mit Verteidigungsminister Donald Rumsfeld reichte es nur zu einem einzigen bedauernden Satz eines US-Generals. Die «New York Times» zitierte nach einem solchen Vorfall einen Ladenbesitzer in einem der betroffenen Dörfer mit den Worten: «Wir hassen sie dafür.» Einige der Angriffe auf US-Truppen sind wohl einfach Revancheaktionen von «nicht organisierten» Angehörigen der Opfer.

Obwohl die Lage in einigen Gebieten Afghanistans alles andere als stabil ist, handelt es sich immer noch um Aktivitäten vergleichsweise geringer Intensität. Uno, IKRK und andere nichtstaatliche Organisationen haben ihre Aktivitäten nach Anschlägen auch nur zeitweilig und regional suspendiert. Die Uno will zeigen, dass zumindest sie Wort hält und in Afghanistan langfristig engagiert bleibt – im Gegensatz zu einigen westlichen Ländern, die bereits Kapazitäten in Richtung Irak verlegen und auch in Afghanistan aktive Hilfsorganisationen dazu aufgefordert haben.

Aus: Wochenzeitung WoZ, 17. April 2003


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