Ehrenkodex bietet Chance zur Geiselbefreiung
Russische Afghanistan-Experten warnen vor Militäraktionen gegen Entführer von Zivilisten
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Russische Afghanistan-Experten, von denen einige auch an den sowjetischen Operationen in dem
Land am Hindukusch teilgenommen hatten, warnen vor Aktionen zur gewaltsamen Befreiung
entführter Zivilisten. Auch die Zahlung von Lösegeld bewerten sie als kontraproduktiv.
Der Erfolg von Operationen zur Geiselbefreiung hänge vor allem von Umfang und Qualität jener
Informationen ab, die die Aufklärung beschafft. Das jedenfalls meint Sergej Gontscharow, der aus
der eigenen leidvollen Erfahrung spricht. Heute Chef der Veteranenvereinigung von »Alpha«,
gehörte Gontscharow während Moskaus Afghanistan-Operation in den 80er Jahren zu den
Kommandeuren der Elite-Einheit. Die Sowjetunion, meint Gontscharow, habe es damals jedoch
erheblich leichter gehabt, sich zuverlässige nachrichtendienstliche Informationen zu beschaffen. Die
Unterstützung für das »prokommunistische Regime«, das damals in Kabul herrschte, und für dessen
Paten in Moskau sei seinerzeit erheblich größer gewesen als der Rückhalt, den die Anti-Terror-
Koalition und deren Führungsmacht USA momentan bei der afghanischen Bevölkerung genieße.
Der ehemalige KGB-General Gontscharow ist nicht der einzige, der sich vor dem Hintergrund
verschiedener Geiseldramen in Afghanistan in diesen Tagen zu Wort meldete. Ohne Häme und mit
echter Anteilnahme verfolgt Russland jede Bewegung im Schicksal der 21 südkoreanischen
Mitarbeiter einer christlichen Hilfsorganisation und des deutschen Ingenieurs Rudolf B. Russische
Medien ziehen Parallelen zu einer bereits lange zurückliegenden, fast anderthalbjährigen Geiselhaft
russischer Flieger. Nach offizieller Darstellung entkamen sie den Islamisten 1995 durch Flucht.
Zuvor indes hatten hochkarätige Unterhändler im Hintergrund die Fäden gezogen. Darunter war
auch Timur Akulow. Der heute 54-Jährige, selbst Muslim und studierter Arabist, ist außenpolitischer
Berater von Mintimer Schaimijew, dem Präsidenten der russischen Republik Tatarstan.
Mit den Taliban von einer Position der Stärke aus zu verhandeln, meint Akulow, sei ebenso
kontraproduktiv wie das Zahlen von Lösegeld. In der Tat lehnten die Taliban schon Moskaus
Lösegeldangebote ab. Durch illegalen Handel mit Drogen und Edelsteinen heute wie damals
finanziell abgesichert, ging und geht es den Islamisten, wie Akulow fürchtet, vor allem um
internationale Medienpräsenz. Die Taliban werden daher seiner Meinung nach die Verhandlungen
möglichst lange hinauszögern. Damit ist die Hoffnung verknüpft, von der Weltöffentlichkeit,
einschließlich der UNO, erneut als politische Kraft anerkannt zu werden.
Mit Vorsicht seien daher auch Forderungen an die Zentralregierung in Kabul nach Freilassung von
Extremisten zu genießen. Ihm, so Akulow, hätten die Taliban 1995 ebenfalls eine Liste mit den
Namen von über 2000 afghanischen Gotteskriegern übergeben, die während der sowjetischen
Besatzung in Gefangenschaft geraten und angeblich in russischen Lagern interniert gewesen sein
sollen. Bei der Überprüfung der Angaben habe sich jedoch herausgestellt, dass es sich bei den
Namen um pure Erfindungen gehandelt habe.
Südkorea wie auch Deutschland, so meint Akulow, müssten mit den Taliban direkt verhandeln und
zur Unterstützung ihrer Argumentation dabei weniger den Koran und die Scharia bemühen, von
denen die Taliban nur sehr ungefähre Vorstellungen hätten. Sie sollten sich vielmehr auf den
Paschtun Wali – den Ehrenkodex der Paschtunen – beziehen. Er sieht für Verstöße gegen das
Gastrecht drakonischen Strafen vor, was den Verhandlungsspielraum für Seoul und Berlin
beträchtlich erweitern könne. Von einer gewaltsamen Geiselbefreiung raten Akulow und andere
russische Experten dagegen dringend ab. Die Taliban seien heute darauf sehr viel besser
vorbereitet als zu Beginn der Anti-Terror-Operation 2001. Viele Tote seien bei einer solchen Aktion
daher nahezu unvermeidlich.
* Aus: Neues Deutschland, 7. August 2007
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