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Flucht nach Kandahar

NATO-Großoffensive im Süden Afghanistans provoziert Flüchtlingselend. Regierung bittet die Vereinten Nationen um Hilfe

Von Knut Mellenthin *

In Afghanistan sind mehrere tausend Menschen auf der Flucht vor der NATO-Offensive in der Umgebung der Stadt Kandahar im Süden des Landes. Nachdem US-amerikanische Truppen in Begleitung afghanischer Einheiten zunächst den Distrikt Arghandab nach Aufständischen durchkämmt hatten, sind jetzt auch die Distrikte Schari und Pandschwai betroffen. Der Direktor der regionalen Flüchtlingsabteilung, Mohammad Azim Nawabi, gab am Mittwoch gegenüber der Nachrichtenagentur AFP die Zahl der aus Arghandab und Schari vertriebenen Familien mit über 900 an. Am Donnerstag sprachen afghanische Medien schon von mehr als 1000 Familien, und der Flüchtlingsstrom vor allem in die Provinzhauptstadt Kandahar nimmt immer noch zu.

Am Dienstag versammelten sich erstmals zahlreiche Vertriebene vor dem Büro der Flüchtlingsabteilung von Kandahar, um Hilfe zu fordern. Viele der überwiegend bäuerlichen Familien kommen praktisch mit leeren Händen, weil sie ihren gesamten Besitz zurücklassen mußten. Nachdem das Oberkommando der Besatzungstruppen die schon vor Monaten angekündigte Kandahar-Offensive mehrmals verschoben hatte, fallen die militärischen Operationen nun genau in die Erntezeit. Die Früchte, vor allem Weintrauben und Granatäpfel, von deren Verkauf die Familien normalerweise leben, müssen nun verfaulen. Schon am Dienstag hatte Nawabi gegenüber afghanischen Medien erklärt, daß die Kabuler Regierung allein nicht in der Lage sei, den Flüchtlingen ausreichend zu helfen. Er appellierte deshalb an das World Food Programme der UNO und an den Flüchtlingskommissar der Weltorganisation, den vertriebenen Familien beizustehen.

Bisher sind viele Flüchtlinge in der Stadt Kandahar bei Verwandten untergekommen und werden von diesen auch mit Lebensmitteln unterstützt. Die Regierung der gleichnamigen Provinz hatte im März, als bereits über die geplante NATO-Offensive und ihre Folgen gesprochen wurde, entschieden, daß im Krisenfall zwar Soforthilfe für 5000 Familien bereitgestellt werden sollte, aber daß man keine Auffanglager einrichten werde. Begründet wurde das damit, daß solche Lager nur Bedürftige aus anderen Landesteilen anziehen würden und es dann nach Abschluß der militärischen Operationen schwierig wäre, diese Einrichtungen wieder aufzulösen.

Auch während der Marjah-Offensive der US-Marines im Februar waren mindestens 10000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben worden. Diese Ziffer umfaßte indessen nur die offiziell registrierten Flüchtlinge; die wirkliche Zahl lag weit höher. Tausende mußten bei niedrigen Temperaturen in improvisierten Zelten oder sogar unter freiem Himmel kampieren. Viele bekamen tagelang keine Lebensmittel.

* Aus: junge Welt, 1. Oktober 2010


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