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Afghanistan, Tadschikistan: Flüchtlinge im Grenzgebiet

Von der Drogenfahnung zur Flüchtlingsbetreuung

Am 12. Oktober 2001 erschien im "Freitag" ein Bericht von Ulrich Heyden über die Flüchtlingskatastrophe im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Tadschikistan. Titel: "Einen Tag essen wir, einen Tag hungern wir". Wir dokumentieren den Bericht.

Vom Steilufer an der tadschikischen Grenze hat man einen wunderbaren Blick über die Steppe in Richtung Süden, hinein nach Afghanistan - irgendwo am Horizont schlängelt sich der Pjandsch mit seinen weit verzweigten Flussarmen. Wir befinden uns am Grenzpunkt Karaul Tube. In Rufweite dieses Vorpostens hat sich eine Einheit der 201. Division des russischen Tadschikistan-Korps in den trockenen Boden gegraben. Von einer Anhöhe aus soll sie das Tal unter Kontrolle und einem unberechenbaren Gegner standhalten. "Am heutigen Vormittag, als uns ein Fernsehteam aus Moskau in dieser Stellung drehen wollte, wurden wir plötzlich von Scharfschützen der Taleban unter Feuer genommen", erzählt ein Major, der seinen Namen "auf keinen Fall" nennen will. "Die Taleban sind ausgezeichnete Schützen, aber wir dürfen auf derartige Provokationen nicht reagieren. Lassen wir uns auf Gefechte ein, entfalten die Taleban eine solche Feuerkraft, das unser Stützpunkt nicht mehr sicher ist."

An der 1.300 Kilometer langen tadschikisch-afghanischen Grenze sind zur Zeit etwa 10.000 Soldaten der Grenztruppen stationiert, wobei die meisten Soldaten tadschikischer Nationalität sind, aber unter dem Kommando russischer Offiziere stehen. Nach einem 1993 zwischen den Regierungen in Moskau und Duschanbe unterzeichneten Vertrag werden derartige Kontingente von Russland und Tadschikistan gemeinsam finanziert und ausgerüstet. "Bis zum Beginn der amerikanischen Luftangriffe und der militärischen Geplänkel zwischen den Taleban und der Nordallianz", erzählt Nikolaj Bersinow, der Kommandeur des Grenzabschnitts Moskowskije, "da waren wir hier eher so etwas wie der verlängerte Arm der Drogenfahndung und mussten in diesem unübersichtlichen Steppengelände versuchen, die Rauschgiftschmuggler abzufangen. Im vergangenen Jahr haben wir so 400 Kilogramm beschlagnahmt. 2001 waren es bisher mindestens 800 ... "

Steppenkraut zu Suppe verarbeiten

Eingehüllt in eine riesige Staubwolke fahren wir mit einem UAS-Militärjeep ein Steilufer hinunter. Auf der kilometerweiten Fläche wächst trockenes Buschwerk, an einigen Stellen meterhohes Schilf. Wir durchqueren einen ausgetrockneten Flussarm des Pjandsch und gelangen auf eine der Pjandsch-Inseln, die zu afghanischem Territorium gehören. Hier leben seit einem Jahr über 10.000 Afghanen - sie sind aus einer Region im Norden geflohen, die zur Zeit von den Taleban kontrolliert wird. Die Familien leben unter notdürftig hergerichteten Behausungen mit Dächern aus Schilfstroh und geflochtenen Schilfwänden. Einige haben mit dem Bau von Häusern aus Lehm begonnen - doch auch das sind Provisorien.

Kaum haben wir den Wagen verlassen, werden wir von Kindern und Männern in langen braunen Gewändern und weißen Turbanen umringt. Sie tragen Plastiklatschen, ihre Füße sind staubbedeckt. Mit leiser Stimme stellt sich ein Lehrer aus der Kleinstadt Dschora vor: "Es gibt hier kein Mehl, kein Fett, keinen Arzt. Man kann nicht leben, man kann nur versuchen zu überleben. Die letzte Nahrungsmittellieferung gab es vor sieben Monaten." Weil diese Flüchtlinge noch auf afghanischem Gebiet leben, gelten sie als internal displaced persons. Demzufolge betrachtet sich das UN-Ernährungsprogramm, das Flüchtlinge in Tadschikistan versorgt, für die auf den Pjandsch-Inseln Gestrandeten als nicht zuständig. Auch von der durch Wladimir Putin gerade in Moskau zugesagten humanitären Hilfe ist nichts zu sehen. Dschora: "Wir müssen Steppenkraut zu Suppe verarbeiten. Einen Tag essen wir, einen Tag hungern wir. Das Wasser holen wir aus dem Boden." Dschora ist einer der wenigen Flüchtlinge, die Russisch sprechen. Der 47-Jährige hat in Kiew Elektronik studiert und dann am Polytechnikum von Kabul unterrichtet. Von dort flüchtete er 1998 über mehrere Stationen nach Norden. "Wenn die Taleban einen Lehrer sehen, rufen sie: Gib deine Waffe her. Aber ich besaß nie eine Waffe, das ist eine der üblichen Provokationen. Willst du mit ihnen auskommen, musst du dir einen Bart wachsen lassen, eine Kappe tragen, deinen Beruf aufgeben und auf dem Land arbeiten."

Kämpfer des Internationalismus

Unter einem Schilfdach haben sich 20 Jungen versammelt. Sie sitzen auf einer Matte vor einer Tafel. Dort steht: "Unsere Heimat ist Afghanistan. Die ganze Welt kennt unser Vaterland." Vor sich haben sie weiße UNICEF-Folien mit Heften und Unterrichtsmaterial liegen. Die kleine Schule werde von 95 Kindern besucht, versichert Guftan Gulaga, ein schmaler Afghane in schlohweißem Gewand, der die Jungen im Alter bis zwölf unterrichtet. Warum Afghanen gegen Afghanen kämpfen? "Das ist kein Kampf zwischen Afghanen", erklärt er sofort. Die Taleban, das seien vor allem vom pakistanischen Geheimdienst eingeschleuste Pakistani, die ausschließlich zur Volksgruppe der Paschtunen gehörten. Er selbst komme aus dem Süden und habe - wie andere Männer in diesem Camp auch - einst gegen die sowjetischen Truppen gekämpft. "Aber so ist das, früher kämpften wir gegen die Russen, heute essen wir ihr Brot." - Gulaga lacht aus vollem Herzen. "Damals führten wir einen nationalen Krieg gegen die Invasoren. Jetzt ist es völlig anders. Russland ist daran interessiert, der Nord-Allianz beizustehen. Irgendwann könnten ja auch die russischen Grenzen in Gefahr sein."

Das Lager Sufa liegt sechs Kilometer vom Grenzposten Nikolaj Bersinows entfernt. Bis zur Front sind es noch 20 Autominuten. Wegen der gespannten Lage verfügt das Lager neben einem Ältestenrat auch über eine Militärverwaltung und ein Waffendepot, das uns allerdings nicht gezeigt wird. Zwischen den Schilfzelten patrouilliert mit Sufi Abdulmanun ein Feld-Kommandeur der Nord-Allianz. Der 38-Jährige will 4.000 Mann unter seinem Kommando haben. "Wir kontrollieren hier einen Streifen von 65 Kilometern und sind mit Kalaschnikows und Raketen ausgerüstet. Nur Panzer haben wir nicht. Wir könnten sie ohnehin nicht über den Fluss bringen."

Später sprechen wir mit Wladimir Reschetow von der Presseabteilung der Grenztruppen. An seinem Jackenaufschlag trägt er ein rotes Abzeichen mit Stern und dem Schriftzug "Kämpfer des Internationalismus". Das weist ihn als Afghanistankämpfer der Jahre nach 1981 aus. Auf die Frage, mit welchen Gefühlen er sich an diese Zeit erinnere, meint Reschetow ohne zu zögern: "Schade, dass wir nicht gesiegt haben. Ich weiß, so darf man sich nicht äußern. Aber Krieg ist Krieg ..."

Aus: Freitag, Nr. 42, 12. Oktober 2001

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