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"Niemand führt Krieg gegen Afghanistan"

Die Bundestagsrede des Außenministers zur Begründung des Einsatzes deutscher Soldaten

Im Folgenden dokumentieren wir die Rede von Bundesaußenminister Joschka Fischer vor dem Deutschen Bundestag am 8. November 2001 in Auszügen.

Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Der Bundeskanzler und die Vorredner haben darauf hingewiesen, dass es sich bei der jetzt anstehenden Entscheidung um eine der schwierigsten und auch schwerwiegendsten Entscheidungen des Deutschen Bundestages, der Bundesrepublik Deutschland in der Außen- und Sicherheitspolitik handeln wird. Diese schwierige und schwerwiegende Entscheidung wirft selbstverständlich die Frage auf, ob es nicht gangbare, verantwortbare Alternativen dazu gibt.

Es ist eine Entscheidung, die auf die Frage gründet: Krieg oder Frieden? Es ist die zentrale Entscheidung. Deutschland tut sich vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte besonders schwer. Nicht umsonst ist die Menschenwürde in Art. 1 des Grundgesetzes als unantastbar gesetzt worden: aufgrund der Erfahrungen mit Kriegen und furchtbarer, blutiger Diktatur. Diese Erfahrung sitzt, quer durch alle Generationen und quer durch alle politischen Lager, sehr tief; wir haben das im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg alle gespürt und erlebt. Der Krieg in diesem Land hat furchtbare Verheerung mit sich gebracht; an diesem Gebäude kann man es sehen. Aber vor dem Krieg war die Unterdrückung, war die Diktatur, wurde die Menschenwürde mit Füßen getreten. Das führte zur Zerstörung Deutschlands und auch dieses Gebäudes.

Insofern haben wir eine Verantwortung, die sich nicht nur auf dem Imperativ gründen kann, alles zu tun, um Gewalt zu vermeiden. Vielmehr müssen wir der Gewalt dort entgegentreten, wo sie die elementarsten Grundsätze friedlichen Zusammenlebens gefährdet.

Krieg ist widerwärtig. Es gibt keinen klinisch sauberen Krieg. Zum Wesen des Krieges gehört es vor allen Dingen, dass es auch unschuldige Opfer gibt. Oft werden, wie wir wissen, die Ungerechten zuletzt getroffen; es werden viele Gerechte getroffen. Angesichts der Tragweite der Entscheidung, vor der wir stehen, verstehe ich insofern all die Skrupel, verstehe ich auch die Emotionen. Aber ich möchte an diesem Punkt nochmals darauf hinweisen – das habe ich bei meinen jüngsten Reisen, auch in vielen Gesprächen, wiederholt erfahren –: Nicht Amerika hat angegriffen. Es ist Amerika, es ist das amerikanische Volk, das angegriffen wurde, und zwar nicht zum ersten Mal.

Am 11. September wurde das Furchtbare, das schon 1993 geplant war – nämlich mit einem mörderischen Attentat den Nordturm des World Trade Center auf den Südturm stürzen zu lassen –, Wirklichkeit. Auf diese versuchten Attentate haben die USA damals nicht militärisch reagiert. In den USA wird jetzt eine Debatte darüber geführt, ob das nicht ein Fehler war. Man hat polizeilich reagiert, man hat ermittelt, man hat die Beteiligten festgenommen, vor Gericht gestellt und rechtsstaatlich verurteilt. Das alles hat den 11. September nicht verhindert.

Niemand, meine Damen und Herren, führt Krieg gegen Afghanistan. Und so furchtbar es ist: Es gibt so etwas wie eine pazifistische realpolitische Konsequenz. Wir können nicht überall humanitär intervenieren, das Elend zwar sehen, unser Bestes mit endlichen Mitteln versuchen – aber nicht allerorts etwas dagegen tun.

Dieselben Kräfte haben in Ägypten zugeschlagen. Dieselben Kräfte haben in Algerien im vergangenen Jahrzehnt ein Desaster verursacht, das bis zu 100 000 bzw. 150 000 Toten führte. Wir sind betroffen; ich meine das mit tiefem Ernst. Aber wir können nicht überall eingreifen. Auch das himmelschreiende Unrecht in Afghanistan ist nicht der hinreichende Grund für die Abwägung aller Möglichkeiten, sondern die Tatsache, dass seit dem 11. September von Afghanistan in Verbindung mit al-Qaida und Bin Laden eine Gefahr für den Weltfrieden und damit auch für uns ausgeht.

Dies hat und muss Konsequenzen haben; wir müssen jetzt eingreifen. Ich sage das besonders vor dem Hintergrund der Grundüberzeugung meiner Partei und meiner Fraktion, die gerade aus der Forderung "Nie wieder Krieg!" hervorgegangen ist.

Herr Westerwelle, es geht hier – das haben auch Sie gesagt; ich weiß, dass wir hier die gleiche Position haben – um die elementaren Grundwerte unserer Demokratie. Aber dazu gehört eben auch, dass es immer wieder junge Menschen geben wird, die das Recht auf Sitzblockaden wahrnehmen wollen. Das ist auch gut so; das ist richtig so. (...) Ich rufe hier nicht zu Sitzblockaden auf. Vielmehr stelle ich fest: Zum Wesen einer offenen Gesellschaft, einer Demokratie gehört es auch, dass junge Menschen Sitzblockaden machen. Man wird mit ihnen diskutieren und ihnen entgegentreten. Da, wo sie das Recht übertreten, wird das Recht durchgesetzt werden. (...)

Die entscheidenden Konsequenzen, die wir aus dem 11. September ziehen müssen, beruhen auf der Grundlage der Sicherheitsratsresolutionen der Vereinten Nationen.

In den Sicherheitsratsresolutionen 1368 und 1373 wird klar gemacht, dass es hier um eine Gefahr für den Weltfrieden geht, dass wir in der Tat alles tun müssen, um dem derzeit bestehenden terroristischen Netzwerk das Handwerk zu legen und all denen, die angegriffen werden, Beistand zu leisten. Das wurde durch Ausrufen des Bündnisfalles gemäß Art. 5 des NATO-Vertrages deutlich gemacht; der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen.

Die entscheidende Frage – das ist die Kernfrage –, vor der wir stehen und um deren Beantwortung wir uns nicht drücken können, ist – man mag viel über die Strategie, die die USA eingeschlagen haben, diskutieren und sie meinetwegen auch kritisieren; die USA tun das selbst –: Können wir in dieser Situation, in der die Bevölkerung und die Regierung der Vereinigten Staaten angegriffen wurden, unseren wichtigsten Bündnispartner, der auf diesen Angriff antwortet und sich gegen diesen Angriff auf klarer völkerrechtlicher Grundlage zur Wehr setzt, allein lassen, ja oder nein? Diese Entscheidung hat dieses Haus zu treffen.

Wenn diese Entscheidung mit Nein beantwortet wird, wird das weitreichende Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland, für deren Sicherheit und deren Bündnisfähigkeit haben. Ich füge hinzu: Dies wird weitreichende Konsequenzen auch für die weitere Entwicklung Europas haben. Denn alle unsere Partner in Europa führen die gleiche innenpolitische Diskussion. Alle – eingeschlossen Großbritannien – haben die gleiche innenpolitische Stimmung. Aber alle wichtigen Partner kommen zu der Konsequenz, dass es für sie, für Europa und für unsere gemeinsame Sicherheit ein fataler Fehler wäre, wenn wir die USA alleine ließen. Deswegen werden wir uns jetzt dieser Frage zuwenden müssen. Auch an diesem Punkt geht es nicht darum, irgendein Ziel auszusuchen, sondern es ist für mich eindeutig, wer die Haftung für die Anschläge vom 11. September dieses Jahres zu übernehmen hat. Er hat sie übernommen. Es ist eindeutig, dass das Talibanregime nicht nur die eigene Bevölkerung unterdrückt, sondern dass das Talibanregime Osama Bin Laden und sein Netzwerk aktiv unterstützt und ihm Rückzugsmöglichkeiten bietet.

An dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei. Wir meinen es ernst damit, dass es sich hier um eine Gefahr für den Weltfrieden handelt. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir nichts tun, werden weitere Aktionen folgen. Es wird nicht so sein, dass Zuwarten irgendetwas positiv verändern wird. Auch wenn wir uns in anderen Bereichen politisch und humanitär engagieren, wird es nicht so sein, dass irgendetwas anders werden wird. Wir werden mit dieser Herausforderung fertig werden müssen. Das ist die ganze bittere Wahrheit.

Dazu wird gehören, dass man die Rückzugsgebiete dieses terroristischen Netzwerkes nicht mehr akzeptiert, dass man dort die notwendigen militärischen Maßnahmen ergreift und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, basierend auf den Grundwerten, für die wir einstehen, alles tut, damit dieses Netzwerk zerschlagen und zerstört wird und nicht weiter das Leben unschuldiger Menschen gefährden kann.

In diesem Zusammenhang hat der Bundeskanzler ein Gesamtkonzept vorgestellt. Besonderes Augenmerk verdient eine große internationale Anstrengung. Ich werde in New York nochmals mit allem Nachdruck in der Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen und in den vielen Gesprächen, die dort zu führen sind, ansprechen, dass wir eine große humanitäre Anstrengung für das afghanische Volk in seiner Bedrängnis leisten und dass wir eine politische Lösung – dabei werden die kommenden Gespräche in den vor uns liegenden Tagen in New York eine zentrale Rolle spielen – voranbringen.

Mit diesem Krieg, der schon 22 Jahre andauert, muss Schluss sein. Das afghanische Volk braucht eine Perspektive zum Wiederaufbau in Frieden. Es darf nicht mehr hingenommen werden, dass in diesem Land die höchste Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen weltweit herrscht, dass dieses Land eine dauerhafte Katastrophe für die Menschen darstellt, in dem Interessen von regionalen Mächten und Kriegsherren sowie die Unterdrückung durch die Taliban dazu geführt haben, dass dieses Volk seit 22 Jahren keine Perspektive hat.

Auch dem müssen wir uns verpflichtet fühlen, wenn wir uns entscheiden, gemeinsam mit unseren Partnern militärisch einzugreifen. Ich denke, diese politische Perspektive ist gemeinsam mit der humanitären Unterstützung von zentraler Bedeutung.

Lassen Sie mich an diesem Punkt etwas ansprechen: die Lösung der Regionalkonflikte. Ich will es anders formulieren: Ich halte es für ziemlich verantwortungslos, wenn behauptet wird, der Nahostkonflikt sei die Ursache für Bin Laden und Israel trage an der Entwicklung des islamistischen Terrorismus Schuld. Ich halte dies für eine verantwortungslose These, weil Israel an der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan nicht schuld gewesen ist. Israel ist am Kaschmir-Konflikt nicht schuld. Israel ist an den innenpolitischen Problemen auf der arabischen Halbinsel und in anderen Staaten nicht schuld. Israel ist an der Katastrophe von Algerien nicht schuld. All das muss man wissen. Auch muss man wissen, (...), dass Israel seit seiner Gründung in der arabischen Welt instrumentalisiert wird.

Dies möchte ich eindeutig klarstellen. Wir sollten all jenen, die in der Öffentlichkeit etwas anderes behaupten, entgegentreten. Der Bundeskanzler hat zu Recht gesagt: Wenn wir morgen den Nahostkonflikt gelöst hätten, wäre das Problem des islamistischen Terrorismus mitnichten gelöst. – Dennoch ist es sehr wichtig, dass wir die Regionalkonflikte lösen. Das ist der entscheidende Punkt. Wir müssen im Nahostprozess vorankommen. Wir setzen darauf, dass unsere amerikanischen Partner im Rahmen dieser Antiterrorkoalition erneut die Führung übernehmen, und zwar auf der Grundlage gemeinsamer Positionen. Diese Chance zur Zusammenarbeit mit Europa, mit Russland und dem VN-Generalsekretär hat es noch nie gegeben. Das sehen wir als einen ganz entscheidenden Punkt an.

Wir diskutieren hier über die Frage von Krieg und Frieden. Die Angriffe des islamistischen Terrorismus auf New York und Washington waren kalte Berechnung. Der Tod Tausender Menschen wurde kalt berechnend in Kauf genommen, um einen großen Konflikt in der islamisch-arabischen Welt, im Nahen und Mittleren Osten, auszulösen. Weitere Anschläge werden folgen, wenn wir sie nicht verhindern können, wenn wir den Terroristen nicht das Handwerk legen. Europa ist ein Nachbar dieser Region. Zu meinen, dass wir zuwarten könnten, ist ein großer Irrtum; denn wenn die Terroristen erfolgreich wären, dann würden wir in einem Maße mit der Frage von Krieg und Frieden konfrontiert werden, wie es sich die meisten Menschen – Gott sei Dank – heute noch nicht einmal träumen lassen.

Wir sind an dieser Konfliktregion zu nah dran, als dass wir uns der Illusion hingeben könnten, wir könnten uns heraushalten. Der Einsatz von Gewalt ist die Ultima Ratio und muss immer die Ultima Ratio bleiben. Aber wenn man mit Gewalt konfrontiert wird und weiß, dass sie hinter der nächsten Ecke lauert, dann wird man sich gegen sie wehren müssen. Aber dabei dürfen wir, wie gesagt, nie vergessen, dass der Einsatz von Gewalt die Ultima Ratio ist. Wir dürfen vor allen Dingen auch nicht vergessen, dass die Probleme in dieser Region politisch und humanitär gelöst werden müssen; denn im Kern sind sie politische Probleme.

Wenn wir uns etwas vorzuwerfen haben, dann ist es die Tatsache, dass wir im vergangenen Jahrzehnt die Illusion hatten, eine Friedensdividende einnehmen zu können, ohne Investitionen in den Frieden vorzunehmen.

– Nein, ich möchte Ihnen erklären, woran das liegt – ich hoffe, Sie wollen jetzt nicht eine Debatte führen, die an diesem Punkt unangebracht wäre –: Der Rückzug der Ersten Welt in den Unilateralismus – die USA haben ihn Schritt für Schritt vollzogen – ist durch die Anschläge vom 11. September unterbrochen worden. Für mich ist eine der Lektionen des 11. Septembers, dass die USA nicht wieder in den Unilateralismus zurückgestoßen werden dürfen. Wer das nicht einsieht, der verkennt, dass die USA gemeinsam mit Europa eine große Chance haben, Konflikte zu lösen, und der begreift nicht, dass Friedenspolitik im 21. Jahrhundert vor allen Dingen multilaterale Verantwortungspolitik bedeutet, dass wir nie wieder einen Rückzug der reichen Welt zulassen dürfen – wenn man vor der Entscheidung steht, ob man militärisch handeln soll oder nicht, ist es meistens schon zu spät –, dass wir uns vielmehr im Rahmen einer präventiven Friedenspolitik mit der Lösung der Probleme der Dritten Welt, insbesondere in Asien und Afrika, beschäftigen müssen – ich betone: präventiv, nicht militärisch – und dass die Länder der reichen Welt das gemeinsam tun müssen.

Wir müssen die Vereinten Nationen deshalb stärken. Sie werden in Afghanistan eine bedeutende Rolle spielen. Ich behaupte, die Debatte über die Reform der Vereinten Nationen beginnt jetzt erst. Auch hier haben wir im Rahmen unserer Entscheidungsbefugnisse Verantwortung zu übernehmen. Die Entscheidung "Deutschland nimmt nicht teil" würde auch eine Schwächung Europas bedeuten und würde letztendlich bedeuten, dass wir keinen Einfluss auf die Gestaltung einer multilateralen Verantwortungspolitik hätten. Genau darum wird es in den kommenden Jahren gehen.

Ich bedanke mich.

Quelle: Homepage des Bundesaußenministeriums

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