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Frieden mit Taliban und Hamas

In ihrem Gutachten für 2010 empfehlen Friedensforscher Verhandlungen mit allen Akteuren

Von Martin Lejeune *

Anstatt Akteure in Konflikten zu dämonisieren, sollten Anknüpfungspunkte gefunden werden. So lautet die Empfehlung des Friedensgutachtens 2010, das führende deutsche Friedensforschungsinstitute am Dienstag in Berlin präsentierten. »Die Bilanz nach fast neun Jahren Afghanistankrieg ist katastrophal«, urteilen die Gutachter einstimmig und attestieren der NATO, dass ihre »bisherige Afghanistanpolitik komplett gescheitert« sei.

Christiane Fröhlich von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg fordert als vorrangiges friedenspolitisches Ziel, »die Sicherheit der Menschen in Afghanistan zu verbessern, auch wenn dies bedeutet, dass Afghanistan weniger westlich ist als gedacht«. Sofern es überhaupt noch gelinge, das Land zu stabilisieren, müssten traditionelle afghanische Machtstrukturen stärker berücksichtigt werden, auch wenn dies Abstriche bei Demokratie- und Menschenrechtsstandards bedeute.

Andreas Heinemann-Grüder vom Internationalen Konversionszentrum in Bonn ist davon überzeugt, dass der Krieg in Afghanistan militärisch nicht zu gewinnen ist. Er fordert von der NATO, dass es Verhandlungen mit Taliban-Führern gebe müsse. »Hamid Karsai will diesen Weg gehen, und der Westen sollte ihm da keine Steine in den Weg legen«, lautet Heinemann-Grüders Ratschlag. »Ansonsten wächst unsere Sorge weiterhin, dass sich die andauernden Kämpfe im Süden bei Kandahar auf den Norden um Kunduz ausweiten und jegliche Entwicklungszusammenarbeit verhindern.« Margret Johannsen vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg fordert von der Friedenspolitik in Deutschland, sich mehr als bisher mit innergesellschaftlichen Kriegen zu befassen. Diese dauerten oft Jahre, forderten einen höheren Blutzoll und zerstörten die gesellschaftlichen Fundamente ohnehin schwacher Staaten. »Menschenrechte und Demokratie leiden nie so sehr wie im Krieg. Deshalb ist ein militärischer Einsatz das fatalste Mittel der Friedenspolitik«, so Johannsen.

Dem Gutachten zufolge ist auch die Verschärfung der Sanktionen im Nuklearstreit mit Iran wenig aussichtsreich. Das kürzlich getroffene Abkommen zwischen Iran, der Türkei und Brasilien zur Anreicherung iranischen Urans im Ausland hält Johannsen hingegen für einen »sehr guten und wichtigen Schritt. Dieser Initiative sollte der Westen unbedingt eine Chance geben.« Sie könne an Seriosität sogar noch gewinnen, wenn sie von den Beteiligten in ein Abkommen mit der Internationalen Atomenergie-Agentur überführt werde. »Iran ist umgeben von hochgerüsteten Nachbarn und hat schlechte Erfahrungen mit ausländischen Interventionen«, wirbt Johannsen für mehr Verständnis für den iranischen Standpunkt. Wenn Iran die Zusicherung bekäme, dass ein Regimewechsel von außen – hier meinen die Friedensforscher wohl die USA – nicht gewaltsam geplant sei und sich das Land nicht mehr so bedroht fühlen müsste, dann könnte es sich von sich aus mehr auf die friedliche Nutzung der Atomkraft konzentrieren, so die Gutachter, die auch die herausragenden Leistungen würdigen, die Iran bei der Bewältigung der großen Flüchtlingsströme aus Afghanistan erbringt.

Israel müsse in seinem Konflikt mit Iran deutliche Signale, wenn nicht von den USA, dann von der EU bekommen, dass ein gewaltsamer Alleingang gegen Iran keinesfalls geduldet werde. Der Beschluss der EU von 2003, die Hamas auf die Liste der terroristischen Akteure zu setzen, sei ein »großer Fehler« gewesen, heißt es in Bezug auf die Friedenspolitik in Palästina. Bis dieser Fehler behoben sei, müsse man auf indirektem Weg mit diesem wichtigen Akteur Kontakte knüpfen, so die Gutachter: »Ohne die Hamas ist ein Friedensprozess im Nahen Osten nicht möglich.«

* Aus: Neues Deutschland, 19. Mai 2010


Desaster in Kabul

Von Arnold Schölzel **

Beim schwersten Anschlag in Kabul seit mehr als einem Jahr sind in der afghanischen Hauptstadt 18 Menschen, darunter sechs NATO-Soldaten, ums Leben gekommen. 47 Zivilisten seien bei der heftigen Explosion am Dienstag verletzt worden, teilte das afghanische Innenministerium mit. Die Taliban bekannten sich zu dem Selbstmordanschlag, der sich gegen die »Invasoren der NATO« gerichtet habe. Das Attentat ereignete sich während des morgendlichen Berufsverkehrs im Westen der Hauptstadt, in der Nähe eines Krankenhauses und einer Anwerbestelle der afghanischen Armee. Die NATO teilte mit, daß fünf der getöteten Soldaten aus den USA stammten. Ein Attentäter hatte demnach sein Auto in der Nähe eines ISAF-Konvois in die Luft gesprengt. Seit Beginn des Jahres starben insgesamt mindestens 208 ausländische Soldaten in Afghanistan.

Als Echo auf die Attacke kamen aus dem Hauptquartier des Kriegsbündnisses in Brüssel Durchhalteparolen. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen erklärte, die NATO sei weiter »entschlossen, ihre Mission zu erfüllen, die im Schutz der afghanischen Bevölkerung und in der Stärkung der Fähigkeit Afghanistans zur Verteidigung gegen den Terrorismus besteht«.

Sowohl die Vorwände für den Feldzug wie auch dessen Strategie werden derzeit fast täglich in Frage gestellt. Am Dienstag kritisierten die fünf deutschen Friedensforschungsinstitute bei Vorlage ihres Gutachtens 2010 in Berlin die widersprüchliche Haltung der Bundesregierung. Nach Einschätzung der Wissenschaftler ist ein dauerhafter Frieden in Afghanistan nur in Zusammenarbeit mit afghanischen Stammesführern zu erreichen. Dazu gehöre, die am Hindukusch fest verankerten Machtstrukturen und »Regelsysteme« zu respektieren. Bei der Lösung von Konflikten sollten zudem auch Afghanistans Nachbarn sowie große Investoren wie China und Rußland künftig stärker eingebunden werden, meinte Bruno Schoch von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Jochen Hippler vom Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) kritisierte, einerseits werde der Aspekt des Wiederaufbaus betont, andererseits stehe die Regierung von CDU/CSU und FDP aber hinter der amerikanischen Politik der Aufstandsbekämpfung. Dabei sei der Krieg in Afghanistan »militärisch nicht zu gewinnen«.

Im aktuellen Spiegel weist dessen außenpolitischer Experte Erich Follath darauf hin, »worum es in Afghanistan wirklich geht«: Milliardengeschäfte mit Transitleitungen für Erdgas und Bodenschätze, die »das bitterarme Land zu einem potentiell reichen machen«. Nachgewiesen seien »bedeutende Vorkommen an Gold und Kupfer, Eisenerz und Lithium«. Die »Nichtkämpfer« seien schon da: China habe mit der Ausbeutung von Kupfer begonnen und plane ein »gigantisches Eisenbahnnetz«. Rußland erkunde Gasfelder, plane drei Wasserkraftwerke und wolle eine Eisenerzmine kaufen: »142 in Sowjetzeiten gebaute und teilweise stillgelegte Projekte sollen wieder in Gang gebracht werden.« Follaths Kommentar: Berlins Gefolgschaft zu Washington verbiete zwar »ein schnelles - wünschenswertes - Ausscheren aus der NATO-Solidarität«: »Aber strategische Interessen gar nicht anzusprechen zeugt von Feigheit vor dem Volk.«

Am Dienstag (18. Mai) berichtete die Nachrichtenagentur IPS: »Der US-Senat debattiert zur Zeit über ein ergänzendes Haushaltsgesetz im Umfang von 59 Milliarden US-Dollar. Mehr als die Hälfte der Mittel soll für die weitere Finanzierung des Kriegs in Afghanistan verwendet werden.«

** Aus: junge Welt, 19. Mai 2010


Gescheitert

Von Olaf Standke ***

Als wollten die Taliban die Einschätzung deutscher Friedensforscher bestätigen, sorgten sie am Dienstag (18. Mai) für den schwersten Anschlag in Kabul seit über einem Jahr. 18 Menschen - darunter sechs »Invasoren der NATO«, so die Islamisten in ihrer Bekennerinformation - sind jetzt in der afghanischen Hauptstadt ums Leben gekommen. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen bekundete umgehend die Entschlossenheit des größten Militärbündnisses der Welt, die Mission am Hindukusch unbeirrt fortzusetzen. Genau das befürchten auch die wichtigsten Konfliktforschungsinstitute der Bundesrepublik, die gestern in Berlin ihr jährliches Friedensgutachten vorlegten. Die Wissenschaftler sehen die NATO-Strategie und die Afghanistan-Politik der Bundesregierung als gescheitert an und auch den zuletzt von Berlin propagierten Kurs, zivile und militärische Maßnahmen enger miteinander zu verknüpfen, sehr kritisch. Entwicklungshilfe dürfe nicht militärischen Zielen untergeordnet werden. Sie machen nur noch einen Ausweg aus dem zuallererst für die Zivilbevölkerung tödlichen Dilemma aus: Keine Konfliktpartei dürfe von vornherein von Verhandlungen ausgeschlossen werden. Das heißt, für einen dauerhaften Frieden in Afghanistan wird man nicht mehr um Gespräche auch mit den Taliban herumkommen. Zu katastrophal ist die Bilanz nach fast neun Jahren Krieg, der »militärisch nicht zu gewinnen« sei, wie das Friedensgutachten 2010 betont.

*** Aus: Neues Deutschland, 19. Mai 2010


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