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Nach zehn Jahren Krieg - Wie kann es in Afghanistans weiter gehen?

Es debattieren: Barbara Unmüßig, Heinrich-Böll-Stiftung, und Matin Baraki, Uni Marburg


Seit zehn Jahren wird am Hindukusch Krieg geführt - auch mit deutscher Beteiligung. Bis Ende 2014 sollen die internationalen Truppen weitgehend abgezogen sein. Doch wie soll es dann weitergehen? Diese Frage versuchte Anfang Dezember die sogenannte Petersberg-Konferenz in Bonn zu beantworten. Zehn Jahre nach der ersten Petersberg-Konferenz stand sie formal unter afghanischem Vorsitz.
Auf dem Petersberg wurde beschlossen, dass nach dem Abzug der Kampfeinheiten, die das Land nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York 2001 besetzt halten, eine Übergangphase von zehn Jahren beginnt. Ein Bestandteil dieser Phase ist die weitere Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte durch die westliche Staatengemeinschaft.

Im "neuen deutschland" erschienen am 17. Dezember 2011 zwei Debattenbeiträge, die sich mit sehr unterschiedlichen Prämissen und Schlussfolgerungen mit der Zukunft Afghanistans auseinandersetzen. Im Folgenden dokumentieren wir die beiden Positionen.



Stärkung der demokratischen Kräfte

Von Barbara Unmüßig *

Es ist beschlossene Sache: Die internationalen Truppen sollen bis 2014 aus Afghanistan abziehen. Es gibt Gründe für und gegen den Abzug. Die kriegsmüden westlichen Staaten haben ein klares Interesse an einem schnellen Abzug: Zu viele Tote, zu hohe Kosten, wenig sichtbare Erfolge weshalb der Einsatz vor den Parlamenten und der Öffentlichkeit kaum mehr vermittelbar ist. Der Übergang soll dann abgeschlossen sein, wenn die afghanische Regierung in der Lage ist, selbst Sicherheit im Land zu gewährleisten und sie für die Bevölkerung grundlegende Basisdienstleistungen bereit stellen kann. Die Bewertung, ob die afghanische Regierung für all das sorgen kann, wird weniger von Fakten denn von Zweckoptimismus geleitet sein. Die Zeit für die Übergabe der Sicherheitsverantwortung ist knapp. In drei Jahren soll das gelingen, was in den letzten Jahren zu schleppend voran kam: der zivile Wiederaufbau Afghanistans.

Das Risiko, dass Afghanistan in einen neuen Bürgerkrieg zurück- oder einem erneuten Taliban Regime anheimfällt, besteht. Deshalb stellt sich die Frage, in welche Richtung sich Afghanistan während der Transition bis 2014 und danach entwickeln könnte und welche Einflussfaktoren wirken. Davon gibt es zahlreiche - innerafghanische und regionale Machtkonstellationen, das internationale Engagement beim zivilen Aufbau und die Zukunft der militärischen Präsenz.

Um der Rücknahme einiger demokratischer Errungenschaften in Afghanistan entgegenzutreten braucht es eine Proliferation demokratischer Kräfte und Prozesse in Afghanistan. Politische Institutionen müssen gestärkt, vor allem das afghanische Parlament muss endlich ernst genommen werden. Korruption ist leider endemisch, und es mangelt an Transparenz, die es den Bürgerinnen und Bürgern erlauben würde, Entscheidungen nachzuvollziehen und als Ergebnis demokratischer Aushandlungsprozesse zu begreifen. Und schließlich muss sich die Diskrepanz zwischen den Rechten auf dem Papier und der tatsächlichen Umsetzung spürbar weniger werden.

Demokratie erfordert Partizipation, weshalb eine vitale Zivilgesellschaft zentral ist. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich in den letzten zehn Jahren entfaltet; sie müssen weiter in ihrer Unabhängigkeit gestärkt werden. Nichts fürchten die demokratischen Kräfte mehr, als dass sie ihre demokratischen Spielräume und ihre Menschen- und Frauenrechte nach dem Abzug verlieren. Sie fordern deshalb von der afghanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft den weiteren Bestand der afghanischen Verfassung. Frieden und Versöhnung ja, aber nicht auf Kosten fundamentaler Freiheiten und Rechte. Die Verfassung und die demokratischen Rechte sind nicht kompromissfähig. Zudem muss der Kultur der Straflosigkeit ein Ende gesetzt werden.

Ein guter Schritt zur Einbindung und Unterstützung der afghanischen Zivilgesellschaft ist im Zuge der Internationalen Afghanistan-Konferenz Anfang Dezember in Bonn getan worden. Im Vorfeld hat die afghanische Zivilgesellschaft einen inklusiven und transparenten Meinungsbildungsprozess in Afghanistan organisiert. Sie haben nicht nur ihre Politikempfehlungen mit Blick auf die Konferenz in Bonn formuliert, sondern haben außerdem 34 Delegierte aus ihrer Mitte gewählt, die nach Bonn - zum Zivilgesellschaftliche Forum Afghanistan als auch zur Außenministerkonferenz - gereist sind. Alleine die Tatsache, dass sich unterschiedlichste afghanische Zivilgesellschaftsvertreter/innen in einen langen Austausch begeben haben, ist ein großer Wert an sich. Es war seit langem das erste Mal, dass sich die Akteure vernetzt haben. Denn es ist kein Geheimnis, die afghanische Zivilgesellschaft ist - wie überall auf der Welt - heterogen. Sie ist vielfältig in ihren politischen Interessen und Werten und nicht frei von ethnischen und religiösen Spaltungen.

Die afghanische Zivilgesellschaft überlegt nun, auf diesem Prozess aufzubauen und vereint den gesamten Übergangsprozess bis 2014 kritisch zu begleiten. Die Außenminister und die afghanische Regierung haben in ihrer Abschlusserklärung von Bonn versprochen, die Zivilgesellschaft zu stärken und weiterhin in die Zukunftspläne für Afghanistan einzubeziehen. Die Regierungen der Welt müssen für ihre Versprechungen, Afghanistan nicht sich selbst und den Taliban und Warlords zu überlassen - wie es nach dem Abzug der Sowjetunion in den 90er Jahren der Fall war -, zur Rechenschaft gezogen werden. Dazu braucht es mehr denn je eine lebendige afghanische und internationale Zivilgesellschaft, die sich für Menschenrechte und ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit einsetzt.

* Barbara Unmüßig, Jahrgang 1956, ist seit 2002 gemeinsam mit Ralf Fücks im Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.


Unsinkbarer Flugzeugträger der Besatzer

Von Matin Baraki **

»Wer nicht um drei Ecken denken kann, soll sich lieber nicht mit Afghanistan befassen«, konstatierte ein Journalist. Wer den Afghanistan-Konflikt tatsächlich verstehen will, müsste dabei die geostrategische Bedeutung dieses Landes berücksichtigen. Afghanistan ist abgesehen von etwas Erdgas und Kupfer relativ arm an leicht zugänglichen Bodenschätzen, die für die internationalen Konzerne von großem Interesse wären. Das einzige, was das Land seit jeher zum Objekt der Begierde gemacht hat, war, ist und bleibt seine geostrategische Lage. Sie ist für das Land und seine Völker schon immer ein Verhängnis gewesen.

Seit der Einverleibung der DDR hegt die politische und militärische Klasse Deutschlands erneut Großmachtambitionen. Zur Grenze der Verteidigung Deutschlands wurde die ganze Welt erklärt. Auch Afghanistan wurde erneut als Schachbrett für die globalen Ambitionen Deutschlands eingeplant. Es brauchte jedoch nur noch einen geeigneten Anlass und der 11. September 2001 war dafür geradezu ideal. Hätte es ihn nicht gegeben, man hätte ihn erfinden müssen.

Nach der Vertreibung der Taliban 2001 bestand eine reale Chance, die Staatlichkeit Afghanistans wiederherzustellen. Aber auf der Petersberger Konferenz im Dezember 2001 waren größtenteils die Warlords vertreten, die von 1992 bis 1996 an der Zerstörung Kabuls mitgewirkt hatten, bei der über 50 000 Zivilisten ums Leben kamen. Mit Abdul Hamid Karsai, der seit 1980 enge Verbindungen zur CIA hatte, und seiner Administration wurde eine Mörderbande durch eine andere abgelöst. Da es ihr an Rückhalt in Afghanistan fehlte, wurde sie von einer Schutztruppe, der »International Security Assistance Force« (ISAF), nach Kabul begleitet. Damit wurde wieder eine »militärische Lösung« des Konfliktes favorisiert, deren Scheitern ich schon vor Beginn der NATO-Operation vorausgesagt habe.

Um aus dieser Niederlage dennoch als Gewinner hervorzugehen, versuchen die Regierungen der NATO-Länder der Kriegsmüdigkeit ihrer Bevölkerungen mit dem angeblichen Abzug der Soldaten aus Afghanistan bis 2014 zu begegnen. Fakt ist jedoch, dass zunächst nur die logistischen und dann nur die Kampfeinheiten abgezogen werden sollen. Mit der Formel, wir werden auch nach 2014 den Afghanen zur Seite stehen, will die NATO auf unabsehbarer Zeit in Afghanistan präsent sein. Auf der letzten NATO-Tagung am 20. November 2010 hat Karsai zusammen mit NATO-Generalsekretär Rasmussen eine Erklärung unterschrieben, in der eine unbegrenzte NATO-Präsenz in Afghanistan festgeschrieben wird. Berücksichtigt man die Gesamtstrategie des Bündnisses, wird Afghanistan zu einem unsinkbaren Flugzeugträger für künftige Operationen in der Region umfunktioniert.

Auch Petersberg II dient nur dem Ziel, eine langfristige NATO-Präsenz am Hindukusch abermals festzuschreiben. Diese Konferenz kann mit Fug und Recht als die afghanische »Kongokonferenz« bezeichnet werden, auf der 1884 in Berlin die Grundlage für die Aufteilung Afrikas in Kolonien gelegt wurde. Mit einem Unterschied: Auf der Kongokonferenz waren die Afrikaner selber nicht anwesend.

Die »freie Welt« führt seit mehr als dreißig Jahren einen verdeckten und seit zehn Jahren einen offenen Krieg gegen Afghanistan. Damit hat sie das gesamte gesellschaftliche Gefüge zerstört, die Infrastruktur, die ökonomischen, politischen und sozialen Fundamente des Landes vernichtet bzw. so aus dem Gleichgewicht gebracht, dass es eine funktionsfähige Gesellschaft am Hindukusch auf unabsehbare Zeit nicht geben wird. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es längst an der Zeit ist, über Alternativen zum NATO-Krieg nachzudenken. Folgende Vorschläge sollen dazu als Diskussionsgrundlage dienen:
  1. Ein einseitiger und bedingungsloser Waffenstillstand der NATO, zunächst für die Dauer von mindestens sechs Monaten.
  2. Ablösung der NATO-Einheiten durch eine Blauhelmtruppe bestehend aus Einheiten der islamischen und blockfreien Staaten.
  3. Auflösung aller NATO-Basen und Stützpunkte sowie diesbezüglich geschlossener Verträge mit der Kabuler Administration.
  4. Auflösung aller militärischen, paramilitärischen Verbände der Warlords sowie der privaten Sicherheitsfirmen.
  5. Vorbereitung von landesweiten Wahlen zu einer nationalen Loya Djerga (Ratversammlung) unter der Kontrolle unabhängiger internationaler Organisationen.
  6. Konstituierung einer vom Volk gewählten Loya Djerga, jedoch keine Ernennung von Abgeordneten durch den Präsidenten.
  7. Auf dieser Loya Djerga sollen eine provisorische Regierung und Kommissionen zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes basierend auf der Abschaffung des Präsidialsystems sowie eines Wahl-, Parteien- und Gewerkschaftsgesetzes gewählt werden.
  8. Durchführung von allgemeinen, freien und von unabhängigen Gremien kontrollierten Parlamentswahlen.
  9. Wahl einer neuen Regierung durch das Parlament ohne Vorschlag des noch amtierenden Interimsministerpräsidenten.
  10. Abschaffung der Politik der offenen Tür und Einleitung einer auf das nationale Interesse basierenden Wirtschafts-, Finanz-, Zoll- und Steuerpolitik.
  11. Als vertrauenbildende Maßnahme soll Afghanistan als erstes Land nach etwa fünf Jahren seine nationale Armee auflösen.
** Dr. Matin Baraki, 1947 in Afghanistan geboren, ist Politikwissenschaftler und hat unter anderem an den Universitäten in Marburg und Gießen gelehrt.

Beide Beiträge erschienen in: neues deutschland, 17. Dezember 2011


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