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Streitfrage: Welche Zukunft hat Afghanistan – nach dem Abzug der NATO-Truppen?

Es debattieren Dr. Matin Baraki, Marburg, und Thomas Gebauer, medico international

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Debatten-Beiträge, die am 1o. Juli im "Neuen Deutschland erschienen sind.



Wer A sagt, der muss nicht B sagen

Von Matin Baraki *

Es ist nicht neu, dass die Besatzer und ihre Apologeten für ihre militärische Präsenz am Hindukusch und ihren Krieg eine Legitimation suchen. Schon die Kolonialmächte wollten angeblich die »unterentwickelten« Völker kultivieren, später sollten die christlichen Missionare geschützt werden und dann die europäischen Händler. So versteckten sie ihre wahren Absichten.

In Afghanistan sollten die zuvor von den USA an die Macht gebrachten extremistischen Taliban beseitigt werden, weil sie dem Al Qaida-Führer Osama bin Laden das Gastrecht eingeräumt hatten und die Frauen unterdrückten. Die USA haben Bin Laden immer noch nicht gefunden oder nicht finden wollen. Auch die afghanischen Frauen sind nicht befreit, außer einer Handvoll Ameriko- und Euro-Afghaninnen. Im Gegenteil: Afghanistan ist seit der Besetzung zum größten Bordell Mittelasiens geworden.

Fakt ist jedoch, was lange verschwiegen wurde, aber mittlerweile von Ex-Präsident Bill Clinton öffentlich gemacht, dass auch er schon einen Krieg gegen Afghanistan geplant hat. Und der ehemalige pakistanische Außenminister Niaz Naik plauderte aus, dass die Bush-Administration schon im Juni 2001 seine Regierung über einen Krieg gegen Afghanistan informiert hatte. Der US-Regierung ging es um die Umsetzung der »Greater Middle East Initiative« (GMEI) der Neocons um George W. Bush und Dick Cheney, die gesamte Region von Nordafrika bis Bangladesch unter die Kontrolle der nun als einzig verbliebenen Weltmacht zu bringen. Außerdem sollten im Auftrag der US-Firma Unocal und der saudischen Deltaöl Bedingungen für die Durchführung einer Pipeline von Mittelasien über Afghanistan nach Südasien geschaffen werden. Der 11. September 2001 bot den willkommenen Anlass dafür. Hätte es ihn nichtgegeben, hätte er erfunden werden müssen.

Seit 2001 ist Afghanistan zu einem Militärprotektorat und einem unsinkbaren Flugzeugträger der USA und der NATO degradiert. Von hier aus können unter Umständen weitere Kriege geführt werden. Pakistan wird schon seit einiger Zeit permanent von US-Drohnen bombardiert. Das Land steht nicht mehr am Rande eines, sondern bereits mitten im Krieg. Barack Obama hat Präsident Asif Ali Zardari in Anwesenheit von Karsai am 6.5.2009 in Washington angedroht, entweder macht Ihr den Krieg gegen die Aufständischen in den afghanisch-pakistanischen Grenzregionen, ansonsten kommen wir.

Die 2001 vertriebenen Taliban sind als Widerstandsbewegung wieder da. Und nicht nur sie, nach UNO-Angaben kämpfen längst 2200 verschiedene Gruppen gegen die Besatzer. Sie kontrollieren bereits Teile des Landes, vor allem im Süden und Osten Afghanistans. Im Norden befindet sich die Bundeswehr in einem unerklärten Krieg mit zahlreichen Opfern auf beiden Seiten.

Die NATO ist nicht in der Lage, das Problem annähernd lösen zu können, weil sie selbst Teil des Problems geworden ist! Sie schützt das Karsai-Regime in Kabul, aber durch ihre Präsenz delegitimiert sie dieses auch. Die Bevölkerung nimmt Hamid Karsai, der verächtlich als Bürgermeister von Kabul bezeichnet wird, nur als Marionette des Westens wahr. Seine ganze Familie ist völlig diskreditiert. Sein Brüder Ahmad Wali Karsai, der dem Rat der Provinz Kandahar vorsitzt, kassiert jährlich 20 Millionen US-Dollar Schutzgelder von Drogenhändlern. Die Ablösung von Karsai würde von der Mehrheit der Bevölkerung mit Freude aufgenommen werden. In den letzten acht Jahren hat er für die Afghanen nichts getan, im Gegenteil. Durch die Politik der offenen Tür hat er die Grundlagen der afghanischen Nationalökonomie zerstört. Erst seit 2001 wurde der Drogenanbau in allen 32 Provinzen des Landes unter den Augen der NATO ausgeweitet. Zuvor waren nur im Osten und Süden des Landes Mohnfelder anzutreffen. Die größte Leistung Karsais besteht darin, Afghanistan zu einem US- und NATO-Militärprotektorat gemacht zu haben.

Ein sofortiger Abzug der NATO-Einheiten und die Wiederherstellung der Souveränität Afghanistans sind die Voraussetzungen für eine friedliche Entwicklung am Hindukusch. Der beste und einzig gangbare Weg zur Befriedung Afghanistans wäre die Bildung einer wirklich repräsentativen Regierung in Afghanistan und eben nicht irgendwo im Ausland. Wir brauchen auch kein »zweites Petersberg«, wie manche westdeutschen Politiker ins Gespräch brachten, sondern ein »erstes Afghanistan«. Unter strengster Kontrolle nicht durch die am Krieg beteiligten Nationen, sondern der 118 Blockfreien Staaten, der aus 57 Mitgliedern bestehenden Konferenz der Islamischen Staaten, der internationalen Gewerkschaften, von Friedens-, Frauen- und Studentenorganisationen sollten Wahlen für eine Loya Jirga (Ratversammlung) durchgeführt und auf dieser repräsentativen Versammlung eine provisorische Regierung und Kommissionen zur Ausarbeitung einer Verfassung sowie von Parteien- und Wahlgesetzen gewählt werden. Eine Regierung, vom Volk gewählt, hätte auch in Kabul kaum etwas zu befürchten. Im schlimmsten Fall sollte, wenn für kurze Zeit Militärschutz benötigt würde, eine International Security Assistance Force ausschließlich aus Staaten kommen, denen das Land nahe steht, wie den Blockfreien und den islamischen Staaten. Bekanntlich gehört Afghanistan zu den Gründungsmitgliedern beider Staatengruppen. Damit wäre auch dem islamistischen Widerstand der Wind aus den Segeln genommen, denn Afghanistan wäre dann nicht von »ungläubigen Christen« und dem »großen Satan« besetzt.

Der NATO-Krieg am Hindukusch dauert jetzt schon länger als der Zweite Weltkrieg, ohne dass ein Ende absehbar wäre. Die NATO bombardiert in Afghanistan flächendeckend, wobei viele Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder getötet sowie die Infrastruktur, ganze Dörfer mitsamt Moscheen zerstört werden, was wiederum zur Stärkung des Widerstands führt. Nach westlichen Angaben sollen seit 2001 etwa 6000 Menschen getötet worden sein. Die Afghanen vor Ort gehen jedoch von über 50 000 Toten aus. Die Eskalation des Krieges seit der Amtsübernahme Obamas wird zu noch mehr Toten und weiterer Zerstörung führen.

Mit »Durchhalte«- und »Kurshalte«-Parolen sowie noch mehr Militär, wie der frühere UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tom Koenigs, verlangte, wird es in Afghanistan jedenfalls weder Frieden noch Wiederaufbau, geschweige denn ein »nation-buil-ding« geben, die Geschichte Afghanistan bestätigt dies eindrucksvoll. »Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.« Diese Erkenntnis Bertolt Brechts muss die politische und militärische Klasse der NATO-Länder beherzigen und die Fehler ihres Afghanistanabenteuers korrigieren.

* Dr. Matin Baraki, 1947 in Schina bei Kabul/Afghanistan geboren, lehrt internationale Politik am Institut für Politische Wissenschaften, am Zentrum Naher und Mittlerer Osten und am Zentrum für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Buchveröffentlichungen: »Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland 1945-1978« und »Kampffeld Naher und Mittlerer Osten«.


Höchste Zeit zur Umkehr

Von Thomas Gebauer **

Acht Jahre nach Beginn des Militäreinsatzes ist der Frieden in Afghanistan in weite Ferne gerückt. In allen Landesteilen eskaliert der Krieg. Seine Leidtragenden sind diejenigen, in deren Namen die Intervention 2001 öffentlich begründet wurde. Auf alarmierende Weise ist die Zahl der zivilen Opfer bereits angestiegen. Mit jeder Bombe, die heute fällt, stirbt auch die Hoffnung auf Wiederaufbau und Entwicklung. Nicht Demokratie, Rechtsstaat und Wohlstand hat die Intervention den Menschen in Afghanistan gebracht, sondern Respektlosigkeit, Willkür und Gewalt.

2200 bewaffnete Gruppen operieren heute auf afghanischem Boden: nationalistische Paschtunen, Dschihadisten aus dem Ausland, Taliban, Privatarmeen der Drogenbarone, Warlords, Kriminelle. Weil sich die NATO in ihrem Bemühen um Durchsetzung eines globalen Gewaltmonopols keine Niederlage leisten kann, steuert der Krieg am Hindukusch unaufhaltsam in ein menschliches Desaster. Wer es aufhalten will, muss alles daran setzen, das verlorene Vertrauen der Afghanen zurückzugewinnen.

Acht Jahre Intervention haben Afghanistan wieder zu einem Pufferstaat werden lassen, der in erster Linie den Interessen der Interventionsmächte dient, nicht aber denen der afghanischen Bevölkerung. Für die USA mag der Luftwaffenstützpunkt in Bagram von unverzichtbarer Bedeutung im »Greater Game« um die Vormachtstellung in der Region sein, aus menschenrechtlicher Perspektive wirkt er wie ein Außenposten von Guantanamo.

Acht Jahre Intervention haben Afghanistan nicht aus der Armut geführt – im Gegenteil. Soziale Not und Arbeitslosigkeit greifen um sich, von Wiederaufbau kaum eine Spur: 4,5 Millionen Afghanen sind von Engpässen in der Nahrungsmittel- und Trinkwasserversorgung bedroht. Einer Million Kindern mangelt es an ausreichender Ernährung. Allein die Drogenwirtschaft floriert. Der Aufbau einer nachhaltigen Ökonomie ist den neoliberalen Vorgaben der Invasoren zum Opfer gefallen. Deutlich wird, dass die wohlmeinende Idee einer globalen Verantwortung für den Schutz der Menschenrechte (»responsibility to protect«) solange bloße Ideologie bleibt, wie das Bemühen um materielle Unterfütterung der Menschenrechte als Wirtschaftsprotektionismus abgetan wird.

Unter solchen Umständen wundert es nicht, dass die Menschen das Vertrauen in die Karsai-Regierung, die zu 90 Prozent vom Ausland ausgehalten wird, verloren haben. Mit der Verelendung des Landes und dem Scheitern des Staatsaufbaus aber gehen die zentralen Voraussetzungen für den Erfolg der internationalen Truppen verloren. Die Enttäuschung der afghanischen Bevölkerung ist groß, der Westen und die von ihm gestützte Karsai-Regierung zunehmend diskreditiert. Der Marktradikalismus in Verbindung mit dem »Krieg gegen den Terror«, der in Afghanistan monatlich 2,6 Milliarden Dollar verschlingt, spielen in die Hände der Gegner: Sie nützen den Warlords, den ehemaligen Mudjahedin-Führern und den Taliban, während die demokratisch gesinnten Afghaninnen und Afghanen, die so sehr eines internationalen Schutzes bedurft hätten, zwischen den Fronten aufgerieben werden.

Frieden gründet sich nicht auf Krieg, Elend und Angst; Frieden braucht Vertrauen und soziale Entwicklung. Unter der fortgesetzten militärischen Besatzung aber gibt es für Afghanistan keine Zukunftsperspektive. Ein umfassender Strategiewechsel ist notwendig, nicht aber die Ausweitung des militärischen Engagements. Nur wer den Abzug der Truppen im Blick hat, kann Selbstständigkeit fördern. Die Fehler, die in den zurückliegenden Jahren in Afghanistan gemacht wurden, sind immens. Die von erschreckender Unkenntnis und Eigennutz geprägte Intervention hat viel Schaden angerichtet. Es ist höchste Zeit zur Umkehr.

Dazu braucht es starker Signale, die zuallererst das Eingeständnis bisheriger Fehler meinen. Ein Neubeginn ist notwendig, der das, was bisher nur zur Rechtfertigung der Kriegsziele herhalten musste, zum tragenden Konzept macht. Statt militärischer Aufstandsbekämpfung ist zivile Konfliktlösung gefragt. Unerlässlich ist, überall dort, wo Entwicklung entsteht, auf regionaler und lokaler Ebene mit allen relevanten Kräften, auch den Taliban, in Verhandlungen zu treten. Nur wenn es gelingt, im Konsens getragene Gemeinde- und Provinzverwaltungen aufzubauen, werden auch Wirtschafts- und Sozialprogramme fruchten und hätte der Frieden eine Chance.

Unter solchen Umständen, und nur dann, könnte auch an eine befristete Entsendungen von (UN-geführten) Soldaten gedacht werden. Zur Unterstützung der noch fragilen afghanischen Polizei bei der Gewährleistung von Rechtssicherheit, wobei sich eines der heikelsten Probleme stellen wird: die Entwaffnung der Warlords, auf die sich der Westen bisher maßgeblich gestützt hat. Es geht um einen Strategiewechsel, der sich nicht mit ein paar Millionen mehr fürs Zivile begnügt (um am Ende damit doch nur die Wirksamkeit des militärischen Engagements zu steigern), sondern um »disengagement«, das den Weg frei macht für eine politische Lösung, die von der afghanischen Bevölkerung weitgehend selbst bestimmt wird.

Gefordert ist eine Politik, die die Logik des Krieges durchbricht und der Verantwortung gegenüber den Menschen in Afghanistan gerecht wird. Ein »Weiter so!« ist ebenso wenig akzeptabel wie die Haltung, Afghanistan gehe uns nichts an. In dem Maße, wie der Westen seine Augen vor dem Leiden der Menschen in Afghanistan verschließt, verrät er auch seine eigenen Grundsätze

Mit dem militärischen Eingreifen ist den Interventionskräften eine Verantwortung erwachsen, die ernst zu nehmen ist. Zahlreiche Afghanen haben die Friedens- und Menschenrechtsrhetorik des Westens für bare Münze genommen und sich im Konflikt mit überkommen geglaubten Strukturen für eine demokratische Zukunft engagiert: Fraueninitiativen, die für ihre Rechte streiten, Selbsthilfegruppen, die Formen solidarischer Ökonomie pflegen, Menschenrechtsorganisationen, Journalisten, Nichtregierungsorganisationen. Sie heute im Stich zu lassen, wäre der endgültige Verlust jeder Glaubwürdigkeit.

** Thomas Gebauer, Jahrgang 1955, ist Diplom-Psychologe und seit 1996 Geschäftsführer der sozialmedizinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation »medico international«. Er ist Mitgründer der »Internationalen Kampagne für das Verbot von Landminen« (ICBL), für die er 1997 als Mitglied der Kampagnenleitung den Friedensnobelpreises in Oslo entgegennahm.

Aus: Neues Deutschland, 10. Juli 2009


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