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Wo sich deutsche Soldaten Bärte wachsen lassen

Im afghanischen Kundus setzt die Bundeswehr auf ein umstrittenes militärisch-ziviles Konzept

Von Stefan Tesch, Kundus*

Im Nordosten Afghanistans reiben sich Bundeswehr und deutsche Entwicklungshelfer wegen eines militärisch-zivilen Konzepts zur Wiederbelebung der Region.

Noch vor einigen Monaten führte im Distrikt Rustaq im Nordosten Afghanistans ein früherer Taliban-Kommandeur das Regime. Den nötigen Rückhalt gaben ihm die Bewohner der Gegend. Um diesen die Augen zu öffnen, mussten Fakten geschaffen werden, wie sie andernorts im Land bereits ein Umdenken bewirkten: neue Schulen, Straßen, Brücken. Bislang aber waren Entwicklungshelfer gut beraten, das Gebiet zu meiden. Bis ein ungewöhnlicher Bundeswehrtrupp in die Berge aufbrach. Die Männer hatten sich für die heikle Mission Vollbärte stehen lassen und ein wenig die Sitten der muslimischen Tadschiken verinnerlicht. Bald konnten zivile Helfer nachrücken.

Danach verstummte manche Kritik von Nichtregierungsorganisationen (NRO). Mit viel Skepsis hatten sie den Einzug der Bundeswehr in der Regionalmetropole Kundus verfolgt, wo diese seit gut einem Jahr ein Einsatzkonzept testet: Provincial Reconstruction Team. Während die US-Armee diese regionalen Wiederaufbauteams in ihre Kampfverbände eingliedert, verfolgen die Deutschen einen anderen Ansatz. Man jagt keine Taliban, ist nur leicht bewaffnet, versteht sich eher als das »Auge der Entwicklungshilfe«, wie es Oberstleutnant Michael Meyer nennt. Denn man habe »die Manpower und auch die Möglichkeit hinauszugehen«, so der grauhaarige Offizier aus Gera.

Dazu koordiniert er mehrere kleine Spezialistentrupps. Die touren durch die Provinzen, die einst wegen ihrer Fruchtbarkeit als Brotkorb Afghanistans galten. Hier treffen sie sich mit Dorfältesten, Stammesführern und islamischen Geistlichen, um herauszufinden, wo Hilfe am nötigsten ist, bevor sich neue Krisenherde auftun: Wurde der einzige Brunnen im Dorf vergiftet? Hatten abziehende Krieger die letzte Brücke gesprengt? Braucht die Schule ein neues Dach?

Neben Fernmeldern und einem Notarzt gehören darum zu den Erkundungsteams auch technisch versierte Leute. Bereits mehrmals im Einsatz war der Architekt Sabur Afsali. Er stammt aus Kabul. Beim Studium in der Bundesrepublik hatte er sich in eine Deutsche verliebt, heute führt er in Bayern ein Baubüro. Fachwissen wie Landeskenntnis brachte ihm schließlich ein ungewöhnliches Angebot ein: Ob er nicht Reserveoffizier der Bundeswehr werden wolle?

So ist er heute Major und zugleich ein wichtiger Wanderer zwischen den Welten. Denn wenn er mit einem Trupp unterwegs ist und Gespräche dolmetscht, übersetzt er nicht nur die Worte, sondern auch deren Inhalt so, dass sie das oft völlig andere Denken und Fühlen der stolzen Afghanen erreichen. Die so erlangten Kenntnisse über Notlagen werden an zivile Helfergruppen weitergeleitet. Daraus mögen »schnelle Effekte erwachsen, die sich herumsprechen«, hofft Oberstleutnant Meyer.

Dass all diese Arbeit auch den 260 Soldaten selbst dient, die in Kundus hinter drei Meter hohen Lehmmauern leben, verschweigt man nicht. »Es schafft Vertrauen bei den Leuten, macht uns glaubhaft, mindert mögliche Vorbehalte«, erläutert Oberstleutnant Thomas Scheibe, Pressesprecher des deutschen Camps. Erst im Herbst war hier eine Rakete eingeschlagen und hatte mehrere Soldaten verletzt, wenig später detonierte neben einem Bundeswehrjeep eine Bombe. Allenthalben spürt man das Bemühen der Deutschen, sich als Gutmenschen zu präsenteren. Ist die Straße zu staubig, drosseln sie das Tempo, sie lachen stets freundlich zurück, wenn ihnen Kinder winken, und während des Ramadan essen, trinken und rauchen auch die Deutschen nicht öffentlich. Sich stets von den US-Amerikanern abzuheben, das scheint die Devise zu sein. »Wo die eine Tür eintreten, klopfen wir halt höflich an«, meint ein junger Oberleutnant.

Die Bundeswehr habe es aber auch schwer, weiß Eberhard Halbach, der in Kundus für die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit tätig ist. Sie sei die vierte oder fünfte fremde Armee, die hier ein- und durchzog. Und alle hätten den Leuten gesagt: »Aber auf uns könnt ihr zählen, wir sind die Guten.« Der welterfahrene Entwicklungshelfer vom Rhein versteht, dass die Armee schnelle Vorzeigeeffekte anstrebt. Dennoch meint er nachdenklich: »Mit gepanzerten Fahrzeugen und Langwaffen in ein Dorf einrücken – nein, so ticken wir nicht!« Professionelle Entwicklungszusammenarbeit lebe von behutsamem Partnerverständnis und zivilen Strukturen. Sicher habe die Kooperation mit dem Militär hier und da »auch ihre Berechtigung«, meint Halbach. Nur müsse man eben den Grad der Gemeinsamkeit finden.

Der deutsch-afghanische Major Afsali wünschte sich indes »noch deutlich mehr ingenieurtechnisches Potenzial« in den Camps. »Es mangelt oft an echten Spezialisten, vom Elektrotechniker über den Brückenbauer bis zum Agrarexperten«, bedauert er. Halbach verweist derweil auf hohe logistische Kompetenzen der Armee, »weswegen wir uns gern mit ihr abstimmen«. So, als kürzlich für eine Brücke Stahlseile benötigt wurden. Die Bundeswehr besorgte sie nicht nur, sondern flog sie auch im Hubschrauber hin.

Genau dass empfinden NRO-Gruppen oft als eine Art unlauteren Wettbewerb. Überhaupt betrachten viele die Aufklärer in Uniform eher als Konkurrenz. Tenor: Was diese bewerkstelligen, fehle in der eigenen Bilanz und damit im Kampf um die begrenzten Spendentöpfe. Diesen Eindruck jedenfalls gewinnt man, mischt man sich abends unter die Gäste im Kunduser Lokal »Lapislazuli«, wo deutsche Entwicklungshelfer verkehren. Erregte Dispute finden hier zuweilen statt. Für Ärger sorgt nicht zuletzt, dass sich die Armee als das Auge der zivilen Helfer feiert. »Und dann kommen sie uns mit großen Projektlisten, die wir möglichst schnell abarbeiten sollen«, schimpft ein Agrarexperte mit hochrotem Kopf. Damit wecke man doch nur riesige Erwartungen, die nie zu erfüllen seien. »Reiner Aktionismus!«

In der Tat habe die Bundeswehr kein eigenes Geld, um die erkundeten Dorfprofile mit Leben zu erfüllen, bedauert Pressesprecher Scheibe. Dennoch ist er höchst zufrieden mit der Kooperation. Dutzende Schulen, viele neue Brücken und Wege und Hunderte Brunnen entstanden an Standorten, deren Vordringlichkeit die bärtigen Armeeteams ausspähten. Millionen aus privaten wie staatlichen Töpfen flossen in diese Projekte. Oft hat eine kleine Baumaßnahme große Wirkung, etwa im Dörfchen Zar Kharid, an dessen Rand ein Bach fließt. Viele Stichkanäle führen von hier in die Felder, auf denen Getreide, Reis, Baumwolle und Gemüse wachsen. Einst besaß der Bach einen Übergang, auf dem man vom Dorf auf die Äcker und weiter zum Markt in der Stadt gelangte. »Doch der wurde irgendwann eingedrückt. So haben die Leute den Bach umgeleitet und sind durch das trockene Bett gefahren. Dafür mussten sie das Wasser für die Felder auf Eselskarren heranfahren«, erzählt Hauptmann Thomas Michalski. Nach größeren Regenfällen war der Bach aber wieder da; für die Dorfbewohner bedeutete dies zwölf Kilometer Umweg bis zur nächsten Brücke. Keine 400 Dollar seien nötig gewesen, um für den Bach dort, wo er den Weg kreuzt, Rohre zu legen und mit Steinplatten einen neuen Übergang zu bauen. Die rund 50 Großfamilien im Dorf hätten sie dafür gefeiert, versichert der bärtige Offizier.

Auf der Rückfahrt nach Kundus stoppt er an einer neuen Zeltschule. Ein alter Mann mit Rauschebart betätigt daneben den Schwengel einer offenbar ebenfalls neuen Grundwasserpumpe. »So sieht ein idealer Brunnen aus«, erläutert der Offizier: »Oben geschlossen, damit wenig Sand oder Keime hineingelangen, mit einer leicht gängigen Handpumpe versehen und auf einer Betonplatte stehend.« Kaum mehr als 500 Dollar habe alles gekostet, damit ein ganzes Dorf und Hunderte Schulkinder sauberes Wasser trinken können. Ausgeführt hätten die Arbeiten Einheimische.

Dass die Deutschen hierbei leicht in Fettnäpfchen treten können, weiß Ethnologin Monika Lanik. Die traditionelle Ordnung in der afghanischen Provinz werde über Verwandtschaftsstrukturen geregelt, sprich: über Vetternwirtschaft. Cousins seien sehr wichtig. Bewillige man einer Gruppe etwas, müsse man sofort fragen, wie viele andere Gruppen man damit benachteiligt – und für Ausgleich sorgen. Wegen solcher Kenntnisse stellte die Bundeswehr die Expertin ein, damit sie Analysen erstellt und Offiziere schult. Allmählich geht es wirtschaftlich in der Region aufwärts. »Wichtigstes Indiz dafür: Die Grundstückpreise schnellten nach oben«, beobachtet Boris Wojahn. Der 27-jährige Koch aus Braunschweig führt in Kundus das »Lapislazuli« und bildet inzwischen sogar Lehrlinge aus.

* Aus: Neues Deutschland, 28. April 2005


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