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"Die humanitäre Hilfe in Afghanistan muß neutral sein"

Zivile Helfer im Land am Hindukusch beklagen, daß die Konkurrenz durch Besatzermilitär zunimmt. Ein Gespräch mit Jürgen Lieser

Jürgen Lieser ist stellvertretender Leiter der Hilfsorganisation Caritas International und Vorstandsmitglied im Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO)



In der hiesigen Berichterstattung über Afghanistan spielen überwiegend die militärischen Auseinandersetzungen eine Rolle. Wie aber ist die wirtschaftliche Lage?

Nicht sehr ermutigend. Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt, 80 Prozent der Bevölkerung leben in absoluter Armut. Zudem existieren starke regionale Unterschiede. In den großen Städten hat es zwar durchaus eine wirtschaftliche Entwicklung gegeben, in manchen Bereichen hat sogar ein Boom stattgefunden. Insgesamt aber hat sich die Armutssituation in den vergangenen Jahren nicht verbessert. Das ist schließlich auch das Hauptproblem, auf das man von den Menschen im Land hingewiesen wird. Dort hört man immer wieder, daß knapp sieben Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes noch immer keine wirtschaftlichen Verbesserungen eingetreten sind.

Nach den offiziellen Zahlen war in Afghanistan seither aber ein Wirtschaftswachstum im zweistelligen Bereich zu verzeichnen. Ist das kein Widerspruch?

Unter makroökonomischen Gesichtspunkten gibt es dieses Wachstum, das stimmt. Das ist aber auch keine Kunst, wenn man bedenkt, daß es zuvor über 20 Jahre Krieg und Bürgerkrieg gegeben hat. Die Wirtschaft lag am Boden. Zudem profitieren von dem Wachstum nur bestimmte Gruppen und Regionen. Die Mehrheit der Bevölkerung merkt davon wenig.

Nun leisten die westlichen Besatzungskräfte selbst zivile Aufbauhilfe. Was ist davon zu halten?

Bei Caritas International halten wird davon gar nichts. Wir haben auch mehrfach darauf hingewiesen, daß zivile Aufbauhilfe nur die Aufgabe ziviler Organisationen sein kann. Wir sind dieser Meinung nicht nur, weil wir glauben, daß wir dieses Geschäft besser beherrschen. Humanitäre Hilfe hat immer auch etwas mit der notwendigen Neutralität zu tun, die wir Hilfsorganisationen brauchen, um glaubwürdig zu bleiben.

Die Besatzungstruppe ISAF hat im Rahmen der NATO sogenannte Provinz-Aufbauteams (PRT) etabliert. Lehnen Sie auch diesen Vorstoß an?

Wir waren von Anfang an gegen das Konzept der PRTs, dieser zivil-militärischen Aufbauteams.

Weshalb?

Diese Strukturen führen zur Verwischung von zivilen und militärischen Aufgaben. Diesem Ansatz folgt ja auch die deutsche Bundesregierung, wenn sie im Falle ihrer Soldaten von »Entwicklungshelfern in Uniform« spricht. Angesichts immer neuer Anschläge auf die Bundeswehr wird aber deutlich, daß das nicht stimmt. Durch PRTs wird die Trennung zwischen humanitären Helfern und militärischen Akteuren bewußt unterlaufen. Wir halten das für eine gefährliche Strategie. Zudem hat sich das Konzept nicht bewährt.

Kann eine entwicklungspolitische Debatte überhaupt im Rahmen der Besatzungspolitik geführt werden?

Sie kann schon geführt werden. Wenn es um die Rahmenbedingungen geht, müssen wir ja auch zu den laufenden Militäreinsätzen von ISAF bis OEF Stellung nehmen, was wir mehrfach auch kritisch getan haben. Trotz dieses Krieges muß man aber diskutieren, was entwicklungspolitisch in Afghanistan getan werden kann. Wir haben eine klare Vorstellung davon, was im Bereich ziviler Wiederaufbau notwendig wäre. Und wir meinen, daß in diesem Bereich viel zu wenig getan wird.

Was wäre denn nötig?

An erster Stelle steht die Armutsbekämpfung, und zwar flächendeckend. Handlungsbedarf existiert beim zivilen Wiederaufbau, also bei Infrastruktur, Schulen oder im Gesundheitswesen. Zwar hat es dabei durchaus Erfolge gegeben, aber in einem so wichtigen Bereich wie der Landwirtschaft gab es kaum Fortschritte. Weitere Bereiche sind: Demokratie und Friedensförderung, die Entwaffnung der alten Kriegsherren und ihrer privaten Armeen, die Bekämpfung von Korruption und Drogenhandel. Bedeutend ist schließlich der Aufbau des Schulwesens. Viele Mädchen und Frauen haben nach wie vor keinen Zugang zu Schulen. Vor allem aber darf Aufbau- und Entwicklungshilfe nicht weiter militärischen Zielen unterstellt werden.

Interview: Harald Neuber

* Aus: junge Welt, 25. September 2008


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