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"In Afghanistan gibt es immer mehr Konflikte"

Die Aufstockung der Besatzungstruppen führt zu weiterem Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Ein Gespräch mit Thorsten Hinz

Thorsten Hinz ist Afghanistan-Experte von Caritas international. Er weilt zur Zeit im Land am Hindukusch.



Sie haben vor der Eskalation ethnischer und regionaler Konflikte in Afghanistan gewarnt. Welche Gebiete sind betroffen?

Wir beobachten, daß landesweit immer mehr Konflikte aufbrechen, die sich nicht mehr in das Schwarz-Weiß-Schema »Taliban versus Westen/Zentralregierung« pressen lassen. Die aktuellen Zusammenstöße zwischen seßhaften Hazara und nomadischen Paschtunen in der Provinz Wardak, bei dem bis zu 25000 Hazara vertrieben worden sind, sind dafür ein Beispiel, aber auch Konflikte wie in der Provinz Herat, wo Einheimische die Repräsentanten der Karsai-Regierung bekämpfen. Eindeutig offenbaren sich darin ein großer Vertrauensverlust in den Westen wie auch eine Rückbesinnung auf das scheinbar Verläßliche, auf die Familie, den Clan, den Stamm, die Ethnie.

Ist Zentralafghanistan vom sogenannten Krieg gegen den Terror überhaupt berührt?

Der Begriff »Krieg gegen den Terror« ist für den sehr komplexen Kontext Afghanistan irreführend. Die afghanische Bevölkerung wehrt sich gegen den Generalverdacht, ein Land von Taliban, Fundamentalisten und Terroristen zu sein. Die Mehrheit wünscht sich nichts sehnlicher als Frieden und Entwicklung. Die gerade stattfindende Aufstockung der westlichen Kampftruppen wird von der Bevölkerung hingegen als ein Weg in eine neue Besatzungszeit empfunden. Der Süden und der Osten sind stärker vom Krieg betroffen, aber auch in allen anderen Regionen nehmen gewaltsame Auseinandersetzungen zu. Sie machen es für Hilfsorganisationen sehr schwer, humanitäre Hilfe zu leisten.

Ist der Eindruck zutreffend, daß das Land abseits der Kämpfe gegen Taliban und die sogenannte Al-Qaida einfach sich selbst überlassen wird?

In Afghanistan fehlt eine Gesamtstrategie, die der Heterogenität des Landes Rechnung trägt. Es wird keine Lösung der Konflikte geben, solange die lokalen Besonderheiten unberücksichtigt bleiben und solange von der Zentralregierung in den Provinzen »Fremde« inthronisiert werden, die nicht das Vertrauen der Bevölkerung genießen. Diese Machthaber können sich kaum irgendwo ohne bewaffnete Sicherheitskräfte bewegen, sprechen aber plötzlich von »ihrer Provinz«. Ein weiteres Problem ist die schlechte Koordination der westlichen Akteure - auch hier finden sich »nationale und ethnische Konflikte«. Die Amerikaner schimpfen auf die Deutschen wegen ihrer schlechten Polizeiausbildung, holländische Streitkräfte kooperieren nur ungern mit britischen Soldaten und ähnliches mehr. Es wirkt dann wie eine Parodie, wenn westliche Vertreter über den ethnischen Traditionalismus der Afghanen den Kopf schütteln.

Welche Konsequenzen hat all das?

Die Folgen sind fatal. Zuallererst für die afghanische Zivilbevölkerung, die seit Jahrzehnten unter Krieg und Bürgerkrieg leidet. Sie ist es, die keine Perspektive mehr sieht. Um so mehr versuchen Hilfswerke wie Caritas international, mit kleinen Schritten den Menschen neue Hoffnung zu geben.

Was ist von einer Zentralregierung zu erwarten, deren Chef Hamid Karsai nur eine Marionette der USA ist?

Karsai nur als eine Marionette der USA zu bezeichnen, wäre zu simpel. Er bemüht sich tatsächlich um Ausgleich, hat aber kaum noch über das Vertrauen der Bevölkerung. Er müßte auf eine »afghanische Lösung« hinwirken, die der Vielfalt gerecht würde und die auf eine Balance der Macht hinausliefe. Dafür aber müßte sich einerseits Karsai aus der westlichen Umklammerung lösen und andererseits der Westen seine Augen öffnen für neue Optionen und Wege.

Ihre Schilderungen klingen so, als habe sich am Vorkriegszustand des von Warlords beherrschten und von Stammeskämpfen zerrütteten Landes nichts geändert. Müßte da nicht auch die Caritas viel eindringlicher auf ein Ende des Krieges im ganzen Land pochen?

Vorsicht! Das Afghanistan von heute ist nicht mit dem von früher zu vergleichen. Zu unterschiedlich sind die Akteure und deren Ziele. Zu Ihrer Frage: Caritas international fordert seit langem ein Ende des Krieges. Der ursprünglich auch von westlichen Militärstrategen geforderte »light footprint« - also so wenig westliche Truppen wie möglich - muß sich durchsetzen. Das Primat des Militärischen muß endlich zugunsten eines zivilen Primats aufgegeben werden.

Interview: Ralf Wurzbacher

* Aus: junge Welt, 4. August 2008


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