Bundesregierung will Afghanistaneinsatz ausweiten
Friedensbewegung hält dagegen - Erklärungen vom Bundesausschuss Friedensratschlag, pax christi und medico international
Am 7. Oktober beschloss das Bundeskabinett die Verlängerung und Ausweitung des ISAF-Einsatzes in Afghanistan (siehe den Antrag der Bundesregierung: Bundestags-Drucksache 16/10473). Am Nachmittag desselben Tages debattierte der Bundestag in erster Lesung dazu (hier geht es zur ganzen Debatte).
Im Folgenden dokumentieren wir drei Stellungnahmen dazu aus der Friedensbewegung.
Bundesregierung will noch mehr Krieg
Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag
-
Noch mehr Soldaten in den Kampf
- Bundeswehreinheiten sollen in ganz Afghanistan eingesetzt werden
- Kriegskosten steigen um 30 Prozent
- Das Volk soll gefälligst das Maul halten
- Friedensbewegung übergab Petition
Kassel, 7. Oktober 2008 - Zu dem heute vorgelegten und im Bundestag
diskutierten Antrag der Bundesregierung zur Verlängerung des
Afghanistaneinsatzes der Bundesregierung erklärte der Sprecher des
Bundesausschusses Friedensratschlag:
Am Vormittag beschloss das Bundeskabinett die Modalitäten des
fortgesetzten Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan - am Nachmittag
sollte sich der Bundestag in erster Lesung mit dem Antrag befassen.
Schon an dieser kurzen Frist kann man sehen, wie wenig der
Regierungskoalition an einer fundierten und ernsthaften Debatte über das
Thema gelegen ist. Für diese Geringschätzung spricht auch, dass die
Bundestagssitzung erst auf Antrag der Opposition einberufen werden musste.
Was bereits im Vorfeld angekündigt worden war, soll nun beschlossen
werden: Das Bundeswehrkontingent, das im Rahmen von ISAF operiert, soll
von bisher höchstens 3.500 auf 4.400 Soldatinnen und Soldaten erhöht
werden. Damit kommt die Bundesregierung ein weiteres Mal den anderen
NATO-Staaten und insbesondere den USA entgegen, die seit längerem eine
Verstärkung der Militärpräsenz der NATO in Afghanistan fordern. Während
die öffentliche Debatte und die Meinung von Experten immer mehr dazu
neigen, den Afghanistankrieg zu beenden und die Besatzung lieber heute
als morgen abzuziehen, favorisiert die Bundesregierung weiterhin die
militärische Lösung, den Krieg. Die Auffassung von Hardlinern aus den
USA, Großbritannien und Frankreich, wonach sich das Schicksal der NATO
am Hindukusch entscheidet, wird mittlerweile auch von
Verteidigungsminister Jung und von Bundeskanzlerin Merkel vertreten. Mit
anderen Worten: Afghanistan ist für sie nur noch das Exerzierfeld, auf
dem sich die NATO zu bewähren hat.
Allen Warnungen zum Trotz weitet die Bundesregierung aber auch das
Mandat für Teile der Bundeswehr auf ganz Afghanistan aus. Dies gilt etwa
für die deutschen Fernmeldeeinheiten, für die deutschen
Lufttransport-Kapazitäten und für den Bereich der sog. Operativen
Information. Im Antrag der Bundesregierung heißt es dazu:
"Darüber hinaus können im gesamten Verantwortungsbereich von ISAF die
Aufklärungsflugzeuge vom Typ TORNADO RECCE eingesetzt werden sowie
deutsche Beiträge zur Führung und Durchführung von Informations- und
Fernmeldeeinsätzen, zum ISAF-Lufttransport, einschließlich taktischem
Verwundetentransport (AIRMEDEVAC) geleistet werden." Diese Einheiten
sollen - ähnlich wie das bei den Tornados bereits der Fall ist - nicht
nur in Nordafghanistan, sondern auch im Süden und Südosten des Landes
eingesetzt werden. Damit steigt die Gefahr für Leib und Leben der
Soldaten. Und damit wiederum verstärkt sich der "Zwang", künftig weitere
Kampftruppen an den Hindukusch zu entsenden.
Außenminister Steinmeier hat in der Bundestagsdebatte heute darauf
hingewiesen, dass demnächst auch AWACS-Aufklärungsflugzeuge mit
deutschen Besatzungen den Luftraum über Afghanistan überwachen werden.
Dass dieser Einsatz noch nicht in dem vorliegenden Antrag gefordert
wird, ist wohl auch ein taktisches Manöver. Die Abgeordneten in der
Regierungskoalition sollen offenbar bei der Stange gehalten werden.
Die Kosten des Afghanistaneinsatzes steigen weiter an: Bisher waren es
pro Jahr 450 Millionen Euro für den Militäreinsatz. Für die nächsten 14
Monate beläuft sich der militärische Beitrag auf 688 Mio. EUR. Bezogen
auf einen 12-Monatszeitraum sind das 590 Mio. EUR. Die Kriegsausgaben
werden also um gut 30 Prozent erhöht.
Wie wenig die Bundesregierung vom eigentlichen Souverän, der
Bevölkerung, hält, dokumentiert sie mit der Verlängerung der Laufzeit
des Mandats von 12 auf 14 Monate. Der Afghanistankrieg soll aus dem
Bundestagswahlkampf 2009 herausgehalten werden, lautet die offizielle
Begründung. Was für ein pervertiertes Demokratieverständnis! In der
wichtigsten Frage überhaupt, der nach Krieg oder Frieden, hat das Volk
gefälligst das Maul zu halten.
Die Friedensbewegung wird den Kriegsbefürwortern einen Strich durch die
Rechnung machen. Das Thema Afghanistan wird von ihr zu einem zentralen
Thema ihrer Öffentlichkeitsarbeit im Bundestagswahlkampf gemacht. Es
verträgt sich auf Dauer nicht mit einer Demokratie, wenn die Regierung
ein ums andere Mal gegen die Interessen und Wünsche des Staatsvolks
handelt. Alle Umfragen der letzten Jahre zeigen eine konstante und
eindeutige Mehrheit der Bevölkerung gegen die deutsche Kriegsbeteiligung
und für den Abzug der Bundeswehr. Das muss sich endlich auch in der
Zusammensetzung des Bundestags widerspiegeln. Heute Morgen haben
Vertreterinnen und Vertreter zahlreicher Friedensorganisationen in einer
spontanen Aktion vor dem Reichstag gegen den Afghanistan protestiert und
rund 22.000 Unterschriften unter eine entsprechende Petition an den
Bundestag übergeben. Die Aktion wurde mit demonstrativem Beifall der auf
Einlass in das Gebäude wartenden zahlreichen Touristen begleitet.
Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski, Kassel (Sprecher)
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Für einen Rückzugsplan der ausländischen Truppen und einen gerechten Frieden in Afghanistan
Erklärung des Präsidiums von pax christi zum Kabinettsbeschluss und zur Debatte des Bundestages über die Verlängerung und Aufstockung des Mandats der Bundeswehr in Afghanistan.
Schon über 7 Jahre dauert der bewaffnete Konflikt in Afghanistan. Im letzten Jahr wurde das
Mandat für die im Rahmen des ISAF-Mandats gestellten Bundeswehreinheiten verlängert. In
der kommenden Woche steht eine weitere Verlängerung und Vergrößerung dieses
Truppenkontingents im deutschen Bundestag zur Entscheidung an. Bisher hat die
Bundesregierung den Bundeswehreinsatz als einen friedenserzwingenden Einsatz auf Basis
eines UN-Mandats und mit Zustimmung der afghanischen Regierung damit begründet, dass
die Sicherheit Deutschlands auch von der Stabilität Afghanistans abhänge. Vor allem geht es
der Bundesrieglung darum, den Terrorismus nachhaltig zu unterbinden.
pax christi sieht mehr und mehr die Aussichts- und Erfolglosigkeit dieser militärischen
Aktionen, die dem Land keinen Frieden gebracht haben. Zwar ist nicht zu verkennen, dass
die Bundeswehr sich auch an Aufbaumaßnahmen beteiligt hat. Dies wirkt sich aber für zivile
Hilfsorganisationen auch belastend und nicht – wie oft behauptet wurde - nur sichernd aus.
Realistischerweise muss erkannt werden, dass die gegenwärtigen westlichen
Militäroperationen - ISAF und Enduring Freedom (OEF), die sich immer mehr verschränken -
Formen eines asymmetrischen Krieges angenommen haben. Gleichzeitig stehen sie vor
dem Dilemma, dass dieser Krieg weder gewonnen werden kann, noch – aus westlicher Sicht
- verloren werden darf. Auch wenn jetzt die Beteiligung der KSK-Einsatzkräfte an der Mission
OEF aufgegeben werden soll, wird mit der Erweiterung- und Verlängerung des Mandats
weiter an der Gewaltspirale gedreht. Aus der Schutzfunktion der Bundeswehr für
Maßnahmen zum zivilen Aufbau des Landes ist ein Kampfeinsatz geworden. Die Spirale der
Gewalt muss jetzt durchbrochen werden.
pax christi begrüßt den jetzt erfolgten Schritt zum Dialog der afghanischen Regierung mit
den Taliban. Die afghanische Gesellschaft, mit ihren staatlichen und gesellschaftlichen
Institutionen und Interessensgruppen, muss zur Trägerin des Friedensprozesses in
Afghanistan werden. Der Aufbau eines gerechten Friedens wird nur durch den Rückbau
militärischer Optionen und Ziele bei gleichzeitiger Steigerung ziviler Hilfs- und
Aufbaumaßnahmen zu erreichen sein. Dies erfordert eine nach Zeit und Umfang klar
definierte Abzugsstrategie aller ausländischen Truppen. Wer dies als Zeichen von Schwäche
gegenüber dem Terrorismus bezeichnet, muss die bundesrepublikanische Öffentlichkeit
unzweideutig darüber aufklären, dass der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan auf
unbestimmte Zeit erfolgen muss, einen extrem hohen Finanz – und Materialaufwand benötigt
und weitere Todesopfer fordern wird, ohne dass die Erfolgsaussichten des Einsatzes annähernd einzuschätzen sind.
pax christi fordert die Abgeordneten des Deutschen Bundestages dazu auf, der
Mandatserweiterung und - verlängerung nicht zuzustimmen und von der Bundesregierung einen zeitlich abgestuften Abzugsplan einzufordern.
Von der Bundesregierung fordert pax christi:
- einen zeitlich abgestuften Abzugsplan der Bundeswehr (und nicht nur der KSE) aus Afghanistan;
- den Aufbau und die Stärkung der Polizeikräfte in Afghanistan endlich konsequent zu verfolgen und auf diese Weise einen notwendigen Beitrag zur Sicherung der staatlichen Autorität in Afghanistan zu leisten;
- die zivile Hilfe für den staatlichen und gesellschaftlichen Aufbauprozess um den Betrag aufzustocken, der durch den Abzug der Truppen frei wird;
- gemeinsam mit den Regierungen der Europäischen Union für eine internationale
Konferenz Afghanistans und seiner Nachbarstaaten (Pakistan, Iran, Usbekistan,
Tadschikistan) einzutreten;
- eigene Schritte zu ergreifen um unter Einbeziehung der Nachbarstaaten Lösungen für eine Befriedung der Region zu erreichen.
Die afghanische Bevölkerung muss für zivile Maßnahmen gewonnen werden, die erkennbar ihre Lebensverhältnisse verbessern. Nur wenn die Aussichtslosigkeit des Alltags überwunden und eine wirtschaftliche Perspektive gestärkt wird, werden sich Menschen von tendenziell gewalttätigen Organisationen und Strukturen lösen. Die - wenn auch in vielen Fällen schwachen - zivilgesellschaftlichen Kräfte sind zu stärken und als politische Partner ernst zu nehmen.
Berlin, den 7. Oktober 2008
*****
Militärische Option gescheitert
Hilfsorganisation fordert neue Afghanistan-Politik
Pressemitteilung von medico international, 07.10.2008
Anlässlich der Bundestagsdebatte über die erneute Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan fordert medico international einen politischen Neuanfang. „Mit militärischen Mitteln sind in Afghanistan Frieden und Demokratie nicht zu schaffen. Notwendig ist ein Prozess des militärischen Disengagement, das den Weg frei macht für eine politische Lösung, die von der afghanischen Bevölkerung weitgehend selbst bestimmt wird“, sagt Thomas Gebauer, Geschäftsführer der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation.
Die zentralen Elemente einer solchen neuen Afghanistan-Politik sieht Gebauer in direkten Verhandlungen zwischen allen Konfliktparteien unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure, der Entwaffnung der Milizen und Privatarmeen, dem Aufbau lokaler Verwaltungsstrukturen und der Ankurbelung der Wirtschaft.
„Statt Truppenaufstockung ist zivile Konfliktlösung und eine entwicklungspolitische Offensive gefragt“, so Gebauer, denn: „Mit der Verelendung des Landes und dem Scheitern des Staatsaufbaus gehen die zentralen Voraussetzungen für den Erfolg der internationalen Engagements verloren.“ Der Wiederaufbau komme jedoch nur schleppend voran. 4,5 Mio. Afghanen seien von Engpässen in der Nahrungsmittel- und Trinkwasserversorgung bedroht. Einer Million Kindern mangele es an ausreichender Ernährung.
Die Sicherheitslage verschlechtert sich nach Beobachtungen der Frankfurter Organisation, die umfangreiche Minenräumprogramme in Afghanistan durchführt, stetig. 2.200 bewaffnete Gruppen operieren heute auf afghanischem Boden. Über 1400 Zivilisten sind in den Kampfhandlungen seit Beginn dieses Jahres zu Tode gekommen.
Auch der afghanische medico-Projektpartner "Mine Detention and Dog Center" (MDC) zieht eine erschreckende Bilanz der letzten 16 Monate: 8 Tote, 2 Verletzte und ein Verlust an Gerät im Wert von über einer halben Million Euro.
An eine Verbesserung der Sicherheitslage durch die Ausweitung des militärischen Engagements glaubt medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer nicht. Die Erfahrung habe gezeigt, dass jede militärische Eskalation die Sicherheitslage weiter verschlechtert.
Insbesondere die institutionalisierte zivil-militärische Zusammenarbeit in Form der „Provincial Reconstruction Teams“ (PRTs) gefährde die Arbeit, da „Helfer und ausländische Soldaten in der Wahrnehmung der Bevölkerung verschmelzen. Die Folge sind tödliche Angriffe mit Opfern vor allem unter den lokalen Mitarbeitern der Hilfsorganisationen.“
Die Beharrlichkeit, mit der sich die Berliner Politik einem Strategiewechsel verschließe, lässt Gebauer vermuten, dass es in Afghanistan gar nicht um die Schaffung von Frieden und Demokratie gehe: „Nicht Wiederaufbau steht auf der Agenda, sondern der Kampf um die Vormacht in Zentralasien. Nicht Frieden ist das Ziel, sondern die Sicherung eines von Russland unabhängigen Zugriffs auf Öl- und Gastransporte, die Einkreisung des Iran und der Aufbau regionaler Militärbasen. Es geht um die Fortsetzung jenes „Great Game“, in dem sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts das British Empire mit dem zaristischen Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien stritt. Den Part der Briten haben inzwischen die USA übernommen und mit China und Indien sind neue „Player“ aufgetaucht, eines aber blieb konstant: Auch heute hat die afghanische Bevölkerung nur die Rolle eines Statisten.“
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