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Kurswechsel als kleinster gemeinsamer Nenner

Regierungskoalition will den Kriegseinsatz ausweiten, doch das verspricht keinerlei Erfolg

Von René Heilig *

»Afghanistan, das aktuelle Vietnam«, titelten Zeitungen, als US-Millitärs mit einigen anderen aus der Koalition der Willigen in Afghanistan einfielen, angeblich um den Terror zu besiegen. Es kam anders, doch nicht besser.

Letztlich entscheiden die Mitglieder des Bundestages über die Art und Weise und die Form der deutschen und damit auch der EU-Afghanistanpolitik. Doch obwohl alle ihr Votum nach bestem Wissen und Gewissen abgeben sollen, wissen nur wenige, was vorgeht am Hindukusch. Den Vorwurf muss sich zumindest Winfried Nachtwei nicht gefallen lassen. Er war ursprünglich einmal als Pazifist ins politische Leben getreten. Von dem Traum hat er sich als Militärexperte der Grünen- Fraktion verabschiedet. Nicht jedoch von dem Willen zu wissen, worüber er spricht. Seit 2002 war Nachtwei bereits elf Mal in Afghanistan, bei deutschen Soldaten, bei ISAF-Kommandeuren, bei UNVertretern und vor allem bei Menschen, in deren Namen und Interesse deutsche Politik angeblich handelt. Sein jüngster Bericht enthält durchaus gute Nachrichten: »Eine Gesundheitsstation, ein Lehrerausbildungszentrum und ein Wasserwerk stehen beispielhaft für die breiten Fortschritte im Gesundheits- und Schulwesen und viele weiteren Entwicklungsprojekte.« Deutschland habe etwas erreicht beim »lokalen Peacebuilding«, die »Zusammenarbeit mit Stammesautoritäten« komme voran, so wie die Förderung einer demokratischen Zivilgesellschaft. Im Sinne der Projektanten verlaufe der Aufbau der afghanischen Armee, die immer öfter an Operationen gegen sogenannte Aufständische beteiligt ist. Und auch der Anbau von Mohn – in der Frage widersprechen Drogenexperten Nachtwei allerdings energisch – sei rückläufig.

Wenn Nachtwei schlechte Nachrichten auflistet, braucht er mehr Raum. Parallel zur ISAFAufstockung haben die Gegenangriffe zugenommen, es gibt auch im angeblich befriedeten Raum, so bei Kabul und Kundus, »Zonen der Unsicherheit«. Der Zustrom der Widerständler aus Pakistan und der dortige Machtzuwachs der Taliban sei ungebrochen. Die Antwort der westlichen Allianz: Luftangriffe nehmen zu, die Anzahl der zivilen Opfer ebenso.

Noch immer haben die Westalliierten keine gemeinsame Antwort auf die Herausforderungen gefunden. Während die einen auf den militärischen Sieg gegen den sogenannten Terror setzen, halten andere Aufbauunterstützung als Aufstandseindämmung weiterhin für das geeignete Mittel. Dem Afghanistan-Beobachter entgeht nicht, dass im Volke die Ablehnung der Karzai-Regierung wächst, schon, weil der Führungsklüngel sich vor allem durch Korruption hervortut.

Nachtwei, der nicht für den Rückzug der Bundeswehr plädiert, fordert dennoch einen dringlichen Kurswechsel. Das könnte ein Ansatz für eine produktive Debatte im deutschen Parlament sein. Statt einfach mehr Bundeswehr-Soldaten an den Hindukusch zu schicken und mit allerlei Tricks zu versuchen, das Thema aus dem nahenden Bundestag-Wahlkampf heraus zu halten, wären »selbstkritische Offenheit, ein Kurswechsel und neue Anstrengungen« notwendig, heißt es in Nachtweis Papier.

Zumindest unter dem Thema »Offenheit« sollten sich Abgeordnete zur dringenden Diskussion treffen können. Über Fraktionsgrenzen hinaus. Und sei es »nur«, um auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner jungen Deutschen, die in Uniform in den Krieg geschickt werden, das Leben zu retten.

Statt einzuhalten und nachzudenken, formiert sich jedoch abermals eine Einsatzverlängerungsfront im Bundestag. Kernpunkt bleibt die Erhöhung der Mandatsobergrenze von 3500 auf 4500 Bundeswehrsoldaten. Hinzu kommt der Einsatz von AWACS-Systemen. Es gibt Gerüchte, wonach die Entsendung der NATO-Aufklärungsmaschinen zeitgleich in einem getrennten Mandat festgelegt werden soll. Auch wenn dieses Mandat mit dem eigentlichen ISAF-Mandat beschlossen wird. Deutlich wird auch, dass es immer mehr zu einer Verschmelzung der Einsätze von ISAF- und jenen Truppen kommen soll, die unter der US-Operation »Enduring Freedom« Krieg führen.

Nach der Abstimmung sollte sich jedenfalls kein Bundtagsmandatsträger rausreden, er haben nicht genug gewusst, um sachkundig zu entscheiden. Zur Not kann jeder bei Nachtwei nachfragen.

* Aus: Neues Deutschland, 20. September 2008


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