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Bonner Afghanistan-Konferenz – Eingeständnis des Scheiterns am Hindukusch?

Ein Interview mit Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network in der NDR-Sendung "Streitkräfte und Strategien"


Andreas Flocken (Moderator):
Am Hindukusch sind die Weichen auf Abzug gestellt. Bis 2014 sollen die internationalen Kampftruppen Afghanistan verlassen. In den westlichen Hauptstädten wird bekräftigt, man werde sich aber auch nach dem Abzug am Hindukusch engagieren. Ein entsprechendes Signal soll am Montag (5. Dez.) von der internationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn ausgehen – nicht das erste große Treffen, das sich mit der Lage am Hindukusch befasst.
Über die Aussichten der Konferenz habe ich mit Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network gesprochen. Er ist regelmäßig in Afghanistan und beobachtet die Entwicklung des Landes bereits seit Jahren. Ich habe Thomas Ruttig zunächst gefragt, welche Erwartungen er an das Treffen in Bonn hat:


Interview Flocken / Thomas Ruttig

Ruttig: Die Konferenz ist eine weitere Konferenz in einer langen Reihe von Konferenzen, fast eine pro Jahr seit dem Sturz der Taliban 2001. Die Treffen haben alle die Geschichte Afghanistans nicht grundlegend geändert, und ich erwarte das auch nicht von der kommenden Konferenz. Wichtig ist aber, und das ist ja auch eines der drei Hauptanliegen der Bundesregierung, die den Gastgeber dieser Konferenz spielt, dass es Zusagen der internationalen Gemeinschaft für Afghanistan nach 2014 gibt, wenn ein Großteil der Truppen aus dem Land abgezogen sein wird. Und diese Erwartungen sind von afghanischer Seite sehr konkret. Ich bezweifle, dass die Regierungen in der Lage sind, so konkrete Zusagen, also auch Geldzusagen machen zu können, weil das letztlich von den Parlamenten abhängt.

Flocken: Warum sind Sie so pessimistisch? Die Bundesregierung selbst ist ja sehr optimistisch. Sie sagt aber gleichzeitig auch, es handelt sich hier nicht um eine Geberkonferenz.

Ruttig: Das ist natürlich keine Geberkonferenz, und dass Regierungen optimistisch sind, wenn sie Konferenzen veranstalten, ist auch nicht überraschend. Aber es geht ja darum, die afghanische Regierung und vor allem auch die afghanische Bevölkerung davon zu überzeugen, dass das Land nach 2014, wenn die Truppen weg sind, nicht allein gelassen wird. Und nun wissen die Afghanen auch, dass wenn die westlichen Soldaten gehen, es dann auch weniger Geld geben wird – das ist ja verschiedentlich gesagt worden. Es gibt nur wenige Regierungen, die gesagt haben, sie bleiben auf dem gegenwärtigen Level, was zum Beispiel Entwicklungszusammenarbeit betrifft. Schweden hat das gesagt, die EU insgesamt hat das gesagt. Aber viele der anderen Regierungen, auch die deutsche Regierung, wird diese Zusage gar nicht machen können.

Flocken: Sie gehen also davon aus, dass mit dem Abzug der Kampftruppen 2014 gleichzeitig auch die wirtschaftlichen und finanziellen Verpflichtungen des Westens zurückgehen werden?

Ruttig: Ja. Das Interesse und die Aufmerksamkeit für Afghanistan wird zurückgehen. Und das wird sich auch finanziell niederschlagen. Das muss gar nicht schlecht sein. Afghanistan ist ja mit Geld vergleichsweise überschüttet worden. Aber die Frage ist natürlich auch immer, wie es verwendet wird. Das Geld wird nicht effektiv verwendet. Es hat die Korruption in Afghanistan eher angeheizt. Und wenn man sich die Lebensumstände der afghanischen Bevölkerung ansieht, dann haben sie sich für einen Großteil der Afghanen nicht wirklich entscheidend verändert, sondern es gibt eine soziale Kluft in Afghanistan. Sie ist größer als jemals zuvor. Auf der einen Seite gibt es wenige Afghanen, die sehr viel verdient haben an den Verträgen, die westliche Regierungen und westliche Militärs abgeschlossen haben, während auf der anderen Seite viele Afghanen ums tägliche Überleben kämpfen, die Mieten nicht mehr bezahlen können. Und wenn dann die Soldaten abziehen und mit ihnen auch viele zivile ausländische Institutionen, dann werden viele Afghanen ihre Jobs verlieren. Dann ist auch die gerade im Entstehen begriffene, sehr prekäre Mittelschicht Afghanistans wieder in Gefahr.

Flocken: Nun ist die Bundesregierung trotz alledem aber sehr zuversichtlich was diese Afghanistan-Konferenz in Bonn angeht. Kann es aber überhaupt eine erfolgreiche Konferenz sein, wenn beispielsweise Vertreter der Aufständischen nicht mit am Tisch sitzen? Wäre das aber nicht notwendig, um überhaupt Stabilität für Afghanistan nach 2014 zu erreichen?

Ruttig: Das ist ein wichtiger Punkt, aber sicher auch nicht der einzige Punkt. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Die deutsche Regierung hat sich ja sehr bemüht, mit den Taliban in Kontakt und ins Gespräch zu kommen. Da gibt es immer ein auf und ab. Im Moment sind wir wieder eher in der Phase des Abstiegs. Aber das muss auch nicht für immer sein. Insofern sollte man jetzt das Fehlen der Taliban bei dieser Konferenz nicht überbewerten. Wichtig ist, dass bis 2014 noch ein paar Jahre Zeit sind, in denen man eine Menge tun kann, wenn in Bonn dafür die Weichen gestellt werden. Und das wäre ja dann auch erst mal auf der verbalen Ebene, dass man sagt: ja, wir brauchen eine politische Lösung für Afghanistan. Und ein Teil der politischen Lösung wäre, die Taliban politisch mit ins Boot zu holen, den Krieg und die Gewalt zu beenden. Das wäre dann gut. Aber ich sehe nicht, dass wie ursprünglich erhofft, die Taliban nach Bonn kommen oder während der Bonner Afghanistan-Konferenz eine öffentliche Stellungnahme herausgeben und sagen: Ja, wir sind auch für den Frieden, wir wollen jetzt verhandeln. So weit sind wir noch nicht.

Flocken: Aber von der Politik und auch von den Militärs ist ja immer wieder zu hören, dass der Konflikt am Hindukusch militärisch allein nicht gewonnen werden kann. Eine politische Lösung ist aber nicht in Sicht. Warum sind eigentlich die Friedensgespräche zwischen Regierung und den Aufständischen bisher immer gescheitert?

Ruttig: Entschuldigung – die Friedensgespräche sind nicht bisher immer gescheitert. Es haben noch gar keine wirklichen Friedensgespräche stattgefunden. Es hat Sondierungsgespräche gegeben. Es hat Versuche gegeben, Kontakte zur Talibanführung erst mal herzustellen. Einen Kanal zu finden, und den zu öffnen - da hat es gewisse Fortschritte gegeben. Dann gab es den Mord am ehemaligen afghanischen Staatspräsidenten Prof. Rabbani, der auch der Vorsitzende des von der Regierung gebildeten Hohen Friedensrates war. Dieser Mord ist interpretiert worden als eine Antwort der Taliban auf Gesprächsangebote, und er wird so interpretiert, dass die Taliban angeblich nicht gesprächsbereit sind. Das ist eine Überinterpretation, zumal wir überhaupt noch nicht wissen, wer diesen Mord tatsächlich verübt hat.

Flocken: Sie sagen also, die Taliban sind durchaus gesprächsbereit?

Ruttig: Es gibt bei den Taliban eine solche Strömung. Das ist keine klar abgegrenzte Fraktion oder Gruppe, aber es gibt eine Strömung, die schon seit Jahren versucht hat, auf Gesprächsangebote zu reagieren. Diese Gruppen sind durch die Eskalation der Kämpfe seit Anfang 2009, als Obama an die Macht kam, leiser geworden, da der US-Präsident die Truppen verstärkt hat und versucht wurde, die Taliban an den Verhandlungstisch zu bomben. Aber ich gehe davon aus, dass es diese Strömung noch gibt. Man muss sie jetzt finden, und man muss durch Gespräche, die ja auch immer einen Selbstlaufeffekt haben, dafür sorgen, dass die politisch denkenden Taliban tatsächlich wieder Oberwasser bekommen. Sie waren 2007/2008 auf dem Weg, sich von ihren sehr radikalen extremistischen Kampfgenossen etwas abzusondern. Das ist leider dann durch die Truppenaufstockung zunichte gemacht worden, die von den Taliban als Kriegserklärung und nicht als Gesprächsangebot gesehen worden ist. Und man muss sich dann ab und zu auch schon mal in die Schuhe der Taliban begeben, um zu verstehen, wie die denken.

Flocken: Sie sehen aber durchaus Chancen für eine politische Lösung mit den Taliban?

Ruttig: Ja, die sehe ich. Es wird nicht einfach. Es gibt keine Garantien dafür, dass es zu positiven Ergebnissen kommt. Aber man muss es versuchen, weil aus meiner Sicht militärische „Lösungs“-Versuche, Lösung hier in Anführungsstrichen, gescheitert sind. Die Taliban sind eine zu breite Bewegung, als dass man sie aus der Weltgeschichte bomben kann.

Flocken: Mitte des Jahres hat die Übergabe der Sicherheitsverantwortung von der ISAF-Truppe an die afghanischen Regierungstruppen und an die afghanische Regierung begonnen. In mehreren Provinzen und Provinzhauptstädten u.a. auch in Masar-i-Sharif sind nun afghanische Kräfte für die Stabilität und die Sicherheit verantwortlich. Trotzdem gibt es aber weiterhin Anschläge. Ist vor diesem Hintergrund der Übergabeprozess wirklich so ermutigend wie das immer wieder behauptet wird?

Ruttig: Da sind zwei Punkte zu machen. Natürlich ist es richtig, den Afghanen die Souveränität in ihrem eigenen Land wieder zu geben. Daran hat es ja 10 Jahre lang gemangelt. Viele der Entscheidungen und politischen Weichenstellungen sind in westlichen Hauptstädten gefällt worden, und nicht unter Mitwirkung von Afghanen. Also die Richtung ist richtig. Ob das Tempo das richtige ist, das ist allerdings die große Frage.

Flocken: Das Tempo ist Ihnen zu schnell.

Ruttig: Ich denke, es ist zu schnell. 2014 ist ja festgelegt worden wegen des Wahlkalenders in den USA, auch in Europa. Auch wegen des Drucks der Bevölkerungsmehrheit, die das militärische Engagement der eigenen Truppen mehrheitlich nicht mehr befürwortet. Aber afghanische Gegebenheiten werden eben dann nur in zweiter Linie in die Entscheidungsfindung einbezogen. Denn die afghanischen Institutionen, und darunter auch die Streitkräfte, sind einfach noch nicht so weit, dass sie allein das Land verteidigen können. Aber wichtig ist im Grunde das Gesamtgefühl, das die afghanische Bevölkerung hat. Und die afghanische Bevölkerung denkt im Moment unterm Strich: Oh Gott, wenn die westlichen Truppen gehen, dann fängt hier eine neue Runde des Bürgerkriegs an. Es gibt ja schon einen Bürgerkrieg. Aber nehmen wir doch zum Beispiel einmal die Opferzahlen, was immer ein bisschen heikel ist, und vergleichen sie einmal mit Kolumbien. In Kolumbien gibt es, glaube ich, zehnmal mehr Opfer im selben Zeitraum als in Afghanistan. Es kann also auch noch schlimmer kommen. Und das ist genau, was die Afghanen befürchten, und was sie in den 90er Jahren auch schon erlebt haben, als die sowjetischen Truppen abgezogen sind.

Flocken: Könnte es also nach dem Abzug der internationalen Truppen zu einem offenen Bürgerkrieg kommen?

Ruttig: Ja, ich befürchte, dass die Zeichen eher in diese Richtung deuten. Ich würde gerne was anderes sagen. Ich habe ja viele Jahre selbst in Afghanistan gelebt und tue das noch immer. Ich wünsche mir alles andere. Aber man muss einfach analytisch an solche Sachen herangehen. Wir sehen, dass die afghanischen Institutionen noch nicht so weit sind. Wir sehen, dass es große Interessen gibt, weiter - ich sage mal - in dem Schlamm, des ja schon vor sich gehenden Bürgerkrieges auch seine eigenen Interessen zu befriedigen, also Geld zu machen, um es mal so zu sagen. Es gibt da ja breite wirtschaftlich politisch-militärische Netzwerke, die auch mit der afghanischen Regierung und der Staatskonstellation verbunden sind. Wenn der Krieg aufhört, würden auch sie keine Mittel, kein Geld mehr bekommen.

Flocken: Wenn Sie sagen, es könnte nach einem Abzug zu einem Bürgerkrieg kommen: ist vor diesem Hintergrund denn der Truppenabzug verantwortlich? Ist das ein richtiger Schritt?

Ruttig: Nein, ich halte das für einen falschen Schritt.

Flocken: ...das heißt, die Truppen sollen länger bleiben?

Ruttig: Ja, ich finde, dass die Truppen länger bleiben sollten. Ich übersetze jetzt mal, was mir viele Afghanen sagen. Die sagen: ja, sie sollen bleiben. Aber sie sollen sich anders verhalten. Was von afghanischer Seite, auch von afghanischer Regierungsseite, zu Recht kritisiert wird, sind die vielen zivilen Opfer, die es bei militärischen Aktionen gibt. Das heißt, man muss eine andere Möglichkeit finden, militärisch in Afghanistan zu wirken, die Institutionen zu schützen, die Afghanen zu schützen. Und ich sage, dass man das mit defensiveren Mitteln machen muss. Das heißt ja nicht gleich, dass man sich dort verprügeln lässt. Aber man sollte Offensivhandlungen einstellen, weil dadurch sehr viele Afghanen, die in diesem Konflikt zumindest bis jetzt noch neutral sind, dann den Taliban in die Hände getrieben werden. Ein anderer Punkt ist nämlich, dass es in Afghanistan eine starke Polarisierung gibt. Auf der einen Seite stehen die Taliban, auf der anderen Seite die Karsai-Regierung und ihre internationalen Verbündeten. Dazwischen ist nichts. Wenn man in Afghanistan in einem Dorf lebt, dann kriegt man an einem Tag von den Taliban Besuch, die verlangen, dass man sich zu ihnen bekennt. Und am nächsten Tag kommen die Special Forces, meistens die Amerikaner und fragen, warum habt ihr denn gestern mit den Taliban geredet? Die Afghanen fühlen sich auch mit Anwesenheit und unter Maßgabe der Art und Weise wie zurzeit militärische Operationen von den westlichen Truppen geführt werden, von denen nicht geschützt. Also man muss einen anderen Weg finden. Und das kann man, glaube ich, nur durch eine Deeskalation. Also der Level der Gewalt muss runter.

Flocken: Sie fordern eine Deeskalation, gleichzeitig sollen die Truppen Ihrer Meinung nach bleiben. Zugleich sagt aber die NATO, sie achte darauf, dass die Zahl der zivilen Opfer möglichst gering ist.

Ruttig: Ja das ist auch wahr. Die NATO hat Anstrengungen unternommen. Aber wir sehen immer wieder, dass es Opfer gibt und Schaden verursacht wird, der dann die öffentliche Meinung auch in Afghanistan gegen das westliche Engagement mobilisiert. Ich sage: Man kann gleichzeitig die Truppen dort lassen. Das, was besteht, kann man verteidigen, verbessern und reformieren. Nämlich auch die afghanische Regierung. Dazu muss man nicht offensiv tätig werden und dann noch mehr Porzellan zerschlagen, das man nachher wieder kitten müsste.

Flocken: Nun sagt ja die westliche Gemeinschaft und vor allem die NATO, dass sie in erster Linie darauf setzt, dass die Sicherheitsverantwortung von den afghanischen Kräften übernommen wird. Es wird darauf verwiesen, dass man über 300.000 Sicherheitskräfte, Soldaten und Polizisten, ausgebildet hat. Ist das nicht eine ausreichende Zahl, um inzwischen bereits selbst für Sicherheit sorgen zu können?

Ruttig: Sollte man meinen, wenn man auf die Zahlen blickt. Die sind ja sehr hoch, sehr viel höher als die Zahlen, die man anfangs angestrebt hat, nachdem das Talibanregime gestürzt worden ist. Aber es geht eben nicht nur um Zahlen, sondern auch um die Qualität. Und wenn man auf die Qualität sieht, dann muss man große Bedenken haben. Die Afghanen sagen, sie befürchten, dass die Soldaten und die Polizisten oft nicht dem Staat und der Regierung gegenüber loyal sind, sondern bestimmten Fraktionen, die es ja auch im Regierungslager gibt. Die Sorge ist, dass sich das wiederholt, was Mitte der 90er Jahre schon mal nach dem sowjetischen Abzug passiert ist: dass sich die Armee und die Polizei nach ethnischen Linien und Fraktionslinien in alle Winde zerstreut, wenn der Druck des Gegners zu groß wird. Dass die stabilisierende Wirkung, die es jetzt noch durch die vorhandenen ISAF-Truppen gibt, dann weg ist oder geringer wird. Es ist eben nicht nur eine Frage des Umfangs. Und selbst die Zahlen stimmen manchmal nicht. Wir wissen, und hohe US-Militärs geben das auch öffentlich zu, dass im Moment die Verluste der afghanischen Armee, und das bezieht Desertionen ein, fast so hoch sind wie der Zufluss an neu ausgebildeten Soldaten. Also auch da stimmt nicht alles. Unterm Strich, was wichtig ist: bis 2014 ist die Zeit viel zu kurz, Armee und Polizei und alle anderen Institutionen in Afghanistan soweit hinzukriegen, dass sie allein arbeiten können. Wir müssen nach 2014 dort weiter engagiert bleiben, denn die internationale Staatengemeinschaft hat eine Verantwortung für Afghanistan übernommen. Jetzt zu sagen, sorry, das hat nicht wirklich geklappt, wir gehen alle nach Hause, das ist bestimmt nicht der richtige Weg.

Flocken: Gleichzeitig sagt aber auch Staatspräsident Karsai, dass die Truppen durchaus gehen sollen. Das Datum 2014 kommt ja nicht unmittelbar von den USA, sondern ist zuvor von Karsai genannt worden.

Ruttig: Nun, zuvor hat die NATO auf ihren Tagungen schon davon gesprochen. Das hat Karsai dann aufgegriffen. Karsai spielt ja auch in mehrere Richtungen. Er ist Politiker und er ist Politiker in einem System, das alles andere als einheitlich ist. Er muss die Stimmung in der Bevölkerung bedienen, die sehr antiwestlich und gegen die Truppen eingestellt ist, nicht nur unter Talibananhängern. Aber er weiß natürlich auch, dass möglicherweise die Tage seines politischen Überlebens gezählt sind, wenn die Truppen sich insgesamt aus seinem Land verabschieden. Deswegen auch seine Empfehlung an die gerade zu Ende gegangenen Loja Dschirga in Afghanistan, ja zu sagen zu den Militärstützpunkten im Land. Gleichzeitig aber auch wieder sein Zugeständnis an die öffentliche Meinung: Ja, wir wollen die Stützpunkte, aber nur für zehn Jahre. Das würde ja technisch erst mal reichen. Es zeigt aber auch, dass eben die afghanische Bevölkerung, die afghanische Regierung jetzt nicht ganz einheitlich dafür sind, dass die Truppen bleiben. Sie wissen auch, dass so lange es Basen und Militärausbilder gibt, die Taliban oder andere Aufständische immer wieder einen Vorwand oder einen Grund haben werden, ihren Krieg fortzusetzen. Also das steht dann eher einer politischen Lösung im Wege.

Flocken: Insgesamt herrscht ja in Afghanistan seit rund 30 Jahren Krieg. Viele Menschen dort, insbesondere die Jüngeren, kennen gar keinen anderen Zustand. Beobachter sprechen vor diesem Hintergrund von einer Kriegsökonomie. Mit dem Truppenabzug, so ist zu hören, wird es möglicherweise auch weniger Entwicklungshilfe geben. Das Bruttosozialprodukt könnte sinken, möglicherweise um bis zu 40 Prozent, sagen Experten. Kann denn das Land bei solchen schlechten Rahmenbedingungen wirtschaftlich überhaupt noch auf die Beine kommen?

Ruttig: Das ist natürlich ein großes Problem. Afghanistan ist das ärmste Land außerhalb Afrikas, und in Afrika gibt es auch nur eine Handvoll von Ländern, die noch ärmer sind. Kriegsökonomie ist ein anders Stichwort. Das hat auch den Charakter einer großen ökonomischen Blase. Wir müssen uns ja mal die Milliardenbeträge vor Augen führen, die vor allem über militärische Verträge nach Afghanistan gegangen sind. Über den Nachschub an Munition, an Verpflegung für die Soldaten. Da wird ja im Grunde nichts in Afghanistan eingekauft. Das kommt alles von woanders her. Munition, Treibstoff usw. Das wird oft mit afghanischen Unternehmern vertraglich vereinbart, die dann häufig Verwandte in der Regierung haben. Die haben davon profitiert und sehr viel verdient. Und das hat die Korruptionsblase ins Unermessliche aufgeblasen. Es ist vielleicht kein 100prozentiger Schaden, wenn diese Blase zusammenfällt. Aber es gibt ja auch eine Realwirtschaft und dazu gehört die Drogenökonomie, die jetzt vom Volumen her bei weitem nicht das auf die Waage bringt, was diese ganzen Verträge aus dem militärischen Bereich und dem Infrastrukturbereich darstellen. Da wird es sicher wirtschaftlich nach unten gehen. Es wird häufig vergessen, dass Afghanistan ein Transithandels- und vor allen Dingen auch ein Agrarland ist. Es wäre wichtig für das Land, weg zu kommen von spektakulären Projekten, um die afghanische Bewirtschaftung auf die Beine zu stellen. Es wäre wichtig, wenn Entminungsprogramme, die auch inzwischen häufig an Geldmangel leiden, weiter geführt werden, so dass Bewässerungssysteme und einfach auch Land frei gemacht wird, um Nahrungsmittel anzubauen. Wir sollten nicht immer nur über Erdöl und Erdgas nachdenken, was letztendlich dann ja mehr uns hilft als den Afghanen. Man sollte also klein anfangen, die Dinge des wirklichen Lebens der Afghanen beeinflussen, in Afghanistan erst einmal einen Markt herstellen. Es gibt Provinzen, die häufig Getreideüberschüsse produzieren, aber dann wird das Getreide nicht mal geerntet, weil es immer noch Aufkaufpreise aus den fünfziger oder sechziger Jahren gibt, die mit Weltmarktpreisen überhaupt nichts mehr zu tun haben. Alles das sind Dinge, die wenig spektakulär sind, mit denen sich Politiker nicht fotografieren lassen können, aber die angegangen und wirklich getragen werden müssen.

* Quelle: NDR Info Das Forum, STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 3. Dezember 2011; www.ndrinfo.de


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