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Mit den Soldaten geht das Geld

Die "Petersberg-II-Konferenz" ist nur das letzte Aufflackern westlicher Aufmerksamkeit für Afghanistan

Von Thomas Ruttig *

Die internationale Gemeinschaft redet sich die Lage in Afghanistan schön. Damit soll der beschlossene Abzug 2014 als gerechtfertigt erscheinen. Inzwischen sinkt das Interesse an der Entwicklung in dem Land merklich. Wirkliche Hilfe für das Land ist von »Petersberg-II« nicht zu erwarten. Insbesondere Vertreter der internationalen Friedensbewegung und der afghanischen Zivilgesellschaft sehen in den Gesprächen eine Scheindebatte.

Die ausrichtende Bundesregierung spart vor der internationalen »Petersberg-II-Konferenz« am Montag nicht mit Superlativen. Niemals zuvor habe in Deutschland ein Treffen mit so vielen Delegationen - auch ohne das boykottierende Pakistan mehr als 100 - stattgefunden, nie seien bei vorherigen Afghanistan-Konferenzen, etwa eine pro Jahr seit dem Sturz des Taliban-Regimes 2001, so viele Teilnehmer zusammengekommen. Mit dem Thema selbst, der Zukunft der Afghanen, hat das nichts zu tun. Und die Tendenz, Quantität auf Kosten von Qualität zu zelebrieren, ist auch in der Afghanistan-Politik des Westens zu beobachten.

Anlass der Konferenz ist, eine Bilanz des bisherigen Verlaufs des sogenannten Prozesses der vollständigen Übergabe der Sicherheitsverantwortung von der ISAF und der NATO an die afghanische Seite zu ziehen. Gleichzeitig will man Afghanistans Regierung und der Bevölkerung versichern, dass man sie auch nach dem für 2014 geplanten weitgehenden Truppenrückzug nicht fallen lassen werde. Allerdings lautet die offiziell unausgesprochene Einschätzung in westlichen Hauptstädten, dass »mit den Soldaten auch das Geld« gehen werde.

Wenn mit dem Geld auch die Aufmerksamkeit für Afghanistan drastisch sinkt, droht vielen Programmen und Institutionen in Afghanistan, die aus den zivilen und militärischen Aufbau-Milliarden finanziert werden, der finanzielle Crash. Seit 2001 hat die internationale Gemeinschaft 57 Milliarden Dollar für klassische Entwicklungszusammenarbeit (nach den Kriterien der OECD) bereitgestellt; dazu gehören auch Mittel für Polizei- und Armeereform, die sich im Falle Afghanistans bisher auf 29 Milliarden Dollar belaufen. Auch aus den weit größeren Militärbudgets, allein 450 Milliarden aus den USA, flossen hohe Summen in Infrastruktur- und ähnliche Projekte.

Bei der schon angelaufenen Übergabe legen die Regierungen der NATO-Staaten ihr Hauptaugenmerk vor allem auf den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte. Der wird als Erfolg beschrieben, denn das Land habe schon 300 000 Polizisten und Soldaten. 352 000 sollen es bis Ende 2014 sein. Nur auf Nachfrage hört man, dass Verluste und Desertion den Zuwachs fast wieder auffressen. Schon jetzt kosten die Streitkräfte sechs bis acht Milliarden Dollar jährlich, etwa so viel, wie die afghanischen Staatseinnahmen aus internen Quellen betragen. Sollte die westliche Hilfe nach 2014 drastisch sinken, wird für Bildung, Gesundheit und andere Bereiche kaum Geld übrig sein.

Die US-Entwicklungsagentur USAID, größter Geber für Afghanistan, teilte bereits mit, dass ihr Budget im Vorjahr mit 4,1 Milliarden seinen »Höhepunkt« erreicht habe, in diesem Jahr auf 2,5 und 2014 wohl auf eine Milliarde sinken werde. Auch die deutsche Regierung wird, wie die aller Teilnehmerländer in Bonn, zwar Beistandsversicherungen abgeben, aber wie viele Euro das wert sein wird, kann heute niemand sagen. Budgethoheit haben die Parlamente, und die schlagen sich wohl auf absehbare Zeit mit kostenträchtigen Euro- und sonstigen Finanzkrisen herum. Themen, die Afghanistan den Rang ablaufen.

Dass sich das schon jetzt auswirkt, zeigen die Reaktionen auf den jüngsten Alarmruf der UNO wegen der Dürre in 14 der 34 afghanischen Provinzen, die bis zu drei Millionen Menschen mit Hunger bedroht. Nach neuesten Angaben ist erst ein Drittel der dafür zusätzlich benötigten Mittel zusammengekommen. Natürlich geht es nicht nur um die Höhe der Gelder, sondern auch um ihre effektive Verwertung - eine dringende Frage angesichts in Afghanistan grassierender Korruption und des zum Teil absichtlichen Wegsehens des Westens ihr gegenüber. Verantwortungsübergabe in den zivilen Sektoren bedeutet in diesem Kontext Übergabe an eine Regierung, die oft gar nicht unfähig, sondern unwillig ist, für ein besseres Leben der Bevölkerungsmehrheit zu sorgen und die wachsende soziale Kluft wieder zu vermindern.

Die Frage, die in Bonn ernsthaft zu beantworten wäre, lautet: Wird Afghanistan 2014 stabil genug sein, nicht wieder den Taliban anheimzufallen? Aber an rigoroser Ehrlichkeit mangelt es, wie die Bewertung der afghanischen Streitkräfte zeigt. Man redet die inneren Entwicklungen in Afghanistan über die Maßen schön, um eine längst gefällte Entscheidung, den Rückzug 2014, gerechtfertigt erscheinen zu lassen.

In Kabul hört man seit einiger Zeit den zynischen Begriff des »schicklichen Intervalls«: Er besagt, Afghanistan müsse nach 2014 mindestens so lange stabil bleiben, bis ein Staatszusammenbruch nicht mehr direkt mit dem westlichen Abzug in Zusammenhang gebracht werden könne.

* Der Autor ist Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network (www.aan-afghanistan.org) und nahm als Mitglied der UN-Delegation bereits an der ersten Petersberg-Konferenz 2001 teil.

Aus: neues deutschland, 05. Dezember 2011


Zehn Jahre Krieg in Afghanistan - Chronik

Oktober 2001: Der US-geführte Angriff beginnt, nachdem die Taliban die Auslieferung des mutmaßlichen Al-Qaida-Drahtziehers der Anschläge vom 11. September, Osama bin Laden, verweigert hatten.

Dezember 2001: Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg: Hamid Karsai wird kurz danach Interimspräsident.

Januar 2002: Die internationale »Schutztruppe« ISAF beginnt ihren Einsatz in Kabul.

Juni 2002: Eine Loja Dschirga (Große Ratsversammlung) wählt Karsai für weitere zwei Jahre zum Übergangspräsidenten.

August 2003: Die NATO übernimmt das ISAF-Kommando.

Oktober 2003: Die UNO erweitert das ISAF-Mandat auf ganz Afghanistan.

Januar 2004: Eine neue Verfassung wird beschlossen.

Oktober 2004: Erste Präsidentschaftswahl. Karsai gewinnt die absolute Mehrheit.

Oktober 2006: Die Ausdehnung des ISAF-Mandats auf das ganze Land ist abgeschlossen.

August 2009: Präsidentenwahl: Karsai wird später trotz Betrugsvorwürfen zum Sieger erklärt.

Juni 2010: Eine »Friedens-Dschirga« erteilt Karsai das Mandat für Verhandlungen mit den Taliban.

Mai 2011: US-Spezialkräfte töten Bin Laden in Pakistan.

Juli 2011: Die Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte beginnt. Die »Transition« soll Ende 2014 mit dem Abzug der NATO-Kampftruppen abgeschlossen sein.

November 2011: Eine Loja Dschirga spricht sich unter Bedingungen für eine strategische Partnerschaft mit den USA nach 2014 aus. (dpa/nd)




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