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"Wir wollen, dass die Afghanen über ihr Schicksal selbst bestimmen können" / "Krieg und Besatzung unter der NATO-Flagge sind gescheitert"

Zwei Reden auf der Kundgebung der Friedensbewegung in Bonn: Wolfgang Uellenberg (ver.di) und Dr. Angelika Claußen (IPPNW)


Die folgenden Reden von Wolfgang Uellenberg und Angelika Claußen wurden gehalten auf der Kundgebung der Friedensbewegung gegen den Afghanistan-Gipfel in Bonn (Petersberg-II) am 3. Dezember 2011. Unsere Dokumentation folgt den vorliegenden Redemanuskripten.

"Dieser Krieg in Afghanistan ist ein riesiges Geschäft für die internationale Rüstungsindustrie"

Rede von Wolfgang Uellenberg (ver.di Bundesverwaltung) auf der Bonner Kundgebung gegen den Afghanistan-Krieg * Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Ver.di ist hier mit einer klaren Botschaft: Der Krieg in Afghanistan muss ein Ende haben.

Wir fordern:
  • Einen Waffenstillstand, der mit allen am Krieg beteiligten Kräften abgeschlossen werden muss: Also auch mit den Taliban oder anderen Widerstandsgruppen.
  • Den Abzug der ISAF Truppen, ohne wenn und aber.
  • Den Abzug der Bundeswehr.
Der Wiederaufbau muss sofort beginnen, mit einem umfassenden Programm, das auch direkt bei der Bevölkerung ankommt und nicht in dunklen Taschen und Kanälen verschwindet. Eine stabile Regierung, die von den Menschen in diesem Lande anerkannt und demokratisch gewählt wird, ist dafür unverzichtbar!

Unsere Solidarität gilt heute den Menschen in Afghanistan, die seit Jahren unter diesem schrecklichen Krieg leiden.

Noch nie hat in der Geschichte Afghanistans eine ausländische Macht einen Krieg gewonnen, aber noch nie hat ein Krieg so viele Opfer gekostet, so viel Leid über die Menschen gebracht. Seit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen vor mehr als dreißig Jahren und nach ihrem Abzug zehn Jahre später wird fast ununterbrochen gekämpft, geplündert, gefoltert und gemordet.

Ob im Namen der Freiheit, der Menschenrechte oder des Islam Seit mehr als dreißig Jahren kämpfen die nördlichen, östlichen, westlichen oder südlichen Nachbarn, der Iran, China, Indien, Pakistan und vor allem die USA und ihre Verbündeten erbittert um Macht und Einfluss.

Es ging nie um die Menschen in diesem geschundenen Lande sondern immer um geostrategische Interessen, es ging immer um die Kontrolle von Transitwegen, um die Ausbeutung von Bodenschätzen, um den Drogenhandel, um machtpolitische Einflusssphären.

Die einfachen Menschen, die Bauern auf dem Lande, die Händler, die Handwerker in den Städten, sie wurden nie gefragt, wo ihre Interessen liegen. Sie waren von Anfang die Opfer, Opfer auch der eigenen Eliten, der Warlords, Drogenbarone, Landbesitzer und korrupten Regierungsbeamten.

Denn jede ausländische Macht hat sich ihre Verbündeten gesucht oder geschaffen:

Wer hat denn die islamischen Fundamentalisten bewaffnet, mit Geld versorgt, sie unterstützt im Kampf gegen die sowjetischen Truppen?

Wer hat denn das pakistanische Militärregime aufgebaut, unterstützt, ausgerüstet und sogar geduldet, dass die sich eine Atombombe bauen?

Es war doch der Westen, der glaubte im Kampf gegen die Gefahr aus dem Osten, Verbündete ausrüsten zu müssen, die mit eben diesen Waffen sich nach dem Abzug der Russen seit Jahren untereinander bekämpfen. Es war der Westen, der sich mit einem korrupten Regime verbündete, um Einfluss zu wahren ohne sich selbst engagieren zu müssen.

Vor zehn Jahren glaubten die Menschen den USA und ihren Verbündeten, die Osama bin Laden und Al Kaida bekämpfen wollten und der Herrschaft der Taliban ein Ende bereiteten. Wie bitter wurden die Hoffnungen der Menschen enttäuscht, denen man Menschenrechte versprochen aber in den letzten Jahren Soldaten und Bomben gebracht hat.

Denn es ging dem Westen nicht um einen dauerhaften Frieden mit allen Kräften in Afghanistan, sondern um einen Sieg. Darum hat man bei der ersten Petersbergerkonferenz die Taliban nicht eingeladen. Wir sind keine Freunde von Fundamentalisten, aber die Partner des Westens sind auch nicht besser. Und wer von einer Bombe zerfetzt wird, den interessiert nicht, wer der Absender ist.

Was dort in Afghanistan an Aufbau, an Fortschritt, an Schulen, Krankenhäusern, Bildung geschaffen wurde, das ist mutigen und engagierten Menschen und das ist den Entwicklungshilfeorganisationen und Aufbauhelfern zu verdanken, Sie wollen und sie müssen unabhängig von militärischen Operationen arbeiten können! Wenn Entwicklungshilfe einmal zur Komplizenschaft mit dem Militär gezwungen wird, kann sie nicht mehr helfen. Wer das macht, gefährdet ihre Existenz.

Warum zieht man nicht ab? Wegen der Sicherheit der Bevölkerung? Nein. Dieser Krieg in Afghanistan ist ein riesiges Geschäft für die internationale Rüstungsindustrie. Und den Preis bezahlen Frauen, Kinder und Männer, die bei Bombenangriffen getötet werden, den Preis bezahlen die Soldaten, die in einem sinnlosen Krieg verheizt werden und den Preis bezahlen Millionen Menschen in aller Welt, die an den Drogen zu Grunde gehen, mit denen auch die Mordwerkzeuge finanziert werden. Wer hat denn Interesse am Krieg außer denen, die ihn führen und die an ihm verdienen?

Wir, die Gewerkschaft ver.di, wir fordern von dieser Petersberger Konferenz klare und unzweideutige Beschlüsse.

Wir wollen keine Selbstinszenierung weder von Herrn Steiner und Westerwelle, noch von sonst jemandem.

Wir wollen, dass ein tragfähiger Friedensplan aufgestellt wird, dass sich alle Nachbarn Afghanistans darauf verständigen, die Souveränität dieses Landes zu respektieren.

Wir wollen, dass die Afghanen über ihr Schicksal selbst bestimmen können, dass sie Frieden schließen und das gilt auch für die Taliban und alle anderen Aufständischen, dass sie frei und ohne Fälschungen ihre Volksvertretung bestimmen.

Wir fordern vom Westen klare Zusagen für eine wirksame Wiederaufbauhilfe, die auch bei den Menschen ankommt. Man kann nicht ein Land in Trümmer legen und sich dann aus der Verantwortung stehlen.

Aber der wichtigste Schritt ist immer der erste Schritt und er muss in Richtung Frieden gehen: Wenn die zweite Petersberger Konferenz diesen Schritt nicht tut, dann sollte überhaupt nicht stattfinden und das Geld lieber für die Opfer des Krieges in Afghanistan zur Verfügung stellen.

Der Abzug der Truppen und ein Waffenstillstand - dafür demonstrieren wir.


"Frieden mit friedlichen Mitteln"

Rededisposition von Angelika Claußen (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges) *

1. Ich spreche hier als Ärztin und als langjähriges Mitglied der Friedensbewegung. Für uns Ärzte steht Menschlichkeit, Humanität im Mittelpunkt unseres Handelns. Humanität, das bedeutet zuallererst Recht auf Leben, Recht auf Nahrung, auf Gesundheit, Wohnung und Kleidung. Also unsere sozialen Grundrechte. Die afghanischen Bevölkerung ist dieser Grundrechte beraubt worden, von den NATO und ihren Soldaten, von der Militäroligarchie der Kriegsfürsten in Kabul, die mit NATO-Willen eingesetzt wurden, und auch von den Warlords, die Seite an Seite mit den Taliban –Warlords kämpfen. Die afghanische Bevölkerung ist von allen kriegsführenden Parteien in Geiselhaft genommen worden.

2. Krieg und Besatzung unter der NATO-Flagge sind gescheitert. Ich möchte es zuerst aus medizinischer Sicht darstellen:
Das Ausmaß von Hunger, Kindersterblichkeit und Muttersterblichkeit, das sind die Hauptindikatoren dafür, ob die Grundbedürfnisse der Menschen in Afghanistan respektiert werden. In Afghanistan sind über 3 Millionen Kinder chronisch unterernährt, das entspricht 50 %. Welcher Politiker nimmt diese Zahl zur Kenntnis? Kindersterblichkeit unter 5 Jahren: Immer noch sterben in Afghanistan 200 von 1000 Kindern, bevor sie 5 Jahre alt werden. Das ist jedes fünfte Kind!
Welchen der Politiker auf der Afghanistan–Konferenz hier in Bonn wird das interessieren? Ich befürchte, sie werden von Kriegsstrategie, von Soldaten, von Gewehren und von Drohnen sprechen, Drohnen mittels derer immer mehr unschuldige Menschen getötet werden, ohne das ein einziger westlicher Soldat sein Leben opfern muss.

3. Wir sind Menschen einer Welt. Die Menschen in Afghanistan, oder am Horn von Afrika oder wir Menschen hier in Deutschland und in den USA, wir sind gleichwichtig. Wir können nur zusammen, nur in Humanität und miteinander überleben und leben. Humanität hängt für mich von intakter Empfindsamkeit, vom Mitgefühl ab. Wo sich kein Mitgefühl mehr rührt, da wächst auch kein Kampfgeist mehr zur Durchsetzung und Stärkung von Humanität. Für uns in der Friedensbewegung sind Humanität und Frieden zwei Seiten einer Medaille. Deshalb sagen wir immer und immer wieder “Frieden mit friedlichen Mitteln”. Der erste Schritt zum Frieden in Afghanistan ist ein sofortiger Waffenstillstand, notfalls einseitig verkündigt. Dann müssen Verhandlungen folgen, die den vollständigen Truppenabzug und eine langfristig und großzügig dimensionierte Unterstützung des Wiederaufbaus des Landes zum Ziel haben.

4. Thema Frauenunterdrückung in Afghanistan. Es ist richtig, dass die Frauen in Afghanistan extrem unterdrückt werden. Die gegenwärtige Regierung der Warlord-Oligarchie um Präsident Karsai in Kabul hat daran nichts, aber auch gar nichts verändert. Frauen sterben, wenn sie gebären. Die Muttersterblichkeit ist immer noch die Höchste auf der ganzen Welt mit 1400 auf 100.000 Geburten. Ein Vergleich zu den Nachbarländern: Iran hat 30 tote Mütter und Pakistan 260 tote Mütter auf 100.000 Geburten zu verzeichnen. Die Selbstmordrate unter den Frauen beträgt 2300 jährlich, die Rate der psychischen Erkrankungen unter Frauen extrem hoch. Ursache ist Armut und massive häusliche und sexualisierte Gewalt. Die NATO-Führer haben mit ihren vielen Soldaten und Waffen offensichtlich keinen Einfluss auf die Führer in Kabul. Frauen in Afghanistan brauchen zivile Hilfe, die einfühlsam agiert und die Selbstorganisation der Frauen stützt, keinen Krieg.


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