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Mehr Sicherheit, mehr Schulen, mehr Krankenhäuser: Vor der Afghanistan-Konferenz in Bonn überschlagen sich die Erfolgsmeldungen aus dem Kriegsgebiet

Von Rüdiger Göbel *

Zehn Jahre nach der ersten Afghanistan-Konferenz treffen sich am kommenden Montag rund 100 Delegationen aus aller Welt auf dem Petersberg bei Bonn, um über den angeblichen Abzug der internationalen Besatzungstruppen und die weitere Zukunft des Landes zu beraten. Je näher die Konferenz rückt, desto dichter die Einschläge der Erfolgsmeldungen aus dem Kriegsgebiet am Hindukusch. »Die Wende in Afghanistan ist vollbracht«, urteilte am Donnerstag (1. Dez.) die Nachrichtenagentur dapd. So würden es zumindest die Militärs sehen, die auf eine erstmals fallende Zahl von »sicherheitsrelevanten Zwischenfällen« verwiesen. Demnach seien die Angriffe auf die NATO-geführten Interventionstruppen im dritten Quartal dieses Jahres gegenüber dem gleichen Zeitraum 2010 um 25 Prozent zurückgegangen. Im von der Bundeswehr kommandierten Norden des Landes seien es in dem Zeitraum sogar 50 Prozent weniger.

Das Auswärtige Amt wiederum schwärmte am Mittwoch (30. Nov.) von den »Aufbauerfolgen in den vergangenen zehn Jahren«. Es gebe zwar »erhebliche Schwierigkeiten« etwa mit der Sicherheitslage in Afghanistan, der zivilgesellschaftliche Fortschritt gehe aber »gut voran«, zitierte dapd einen Sprecher. So seien in Afghanistan noch nie so viele Kinder in die Schule gegangen, die Bildungs- und Entwicklungschancen der ganzen Bevölkerung seien besser als je zuvor.

AP-Reporter Patrick Quinn vermeldete am selben Tag aus Kabul schließlich, die Lebenserwartung im Kriegsgebiet sei »in den vergangenen zehn Jahren dank deutlich verbesserter Gesundheitsvorsorge stark gestiegen. Die Menschen lebten länger, die Kindersterblichkeit sei niedriger, und Frauen überlebten Schwangerschaften häufiger als früher. Dies habe eine Untersuchung des afghanischen Gesundheitsministeriums ergeben. Die Studie wurde von den USA und Großbritan­nien, den Ländern also, die den Großteil der rund 130000 Besatzungssoldaten stellen, sowie der Weltgesundheitsorganisation WHO und dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF »unterstützt«. Die Studie wohlwollend gelesen, kann man es in den kriegführenden Staaten der NATO natürlich als »Erfolg« darstellen, daß die Rate der Säuglingssterblichkeit in den vergangenen Jahren halbiert worden ist. Sie liegt nun bei 97 Toten auf 1000 Lebendgeburten. Während Untersuchungen vor fünf Jahren noch zu dem Ergebnis kamen, daß eines von fünf afghanischen Kindern seinen fünften Geburtstag nicht erlebt, ist es heute »nur« noch eines von zehn Kindern. Auch stirbt »nur« noch eine von 50 Schwangeren an den Folgen von Komplikationen während der Geburt.

Tatsächlich sind Mütter- und Kindersterblichkeitsrate in Afghanistan nach zehn Jahren NATO-Präsenz die höchsten in der Welt. Darauf hatte am Dienstag die ärztliche Friedensorganisation IPPNW verwiesen. Die Lebensbedingungen der Bevölkerung in dem kriegsgeplagten Land seien weiterhin schlecht. Jedes zweite Kind sei chronisch mangelernährt, also insgesamt 2,9 Millionen Kinder. »Um Schlimmeres zu verhüten, bedarf es eines sofortigen Waffenstillstands, notfalls einseitig verkündigt. Dann müssen Verhandlungen folgen, die den vollständigen Truppenabzug und eine langfristig und großzügig dimensionierte Unterstützung des Wiederaufbaus des Landes zum Ziel haben«, forderte der IPPNW-Vorsitzende Matthias Jochheim.

Trotz katastrophaler Gesundheitsindikatoren läuft die humanitäre Hilfe für die Bevölkerung nur schleppend an. Eine Studie der International Crisis Group gibt an, von insgesamt zugesagten 90 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern seien bis 2010 lediglich 57 Milliarden ausgegeben worden. »Geradezu skandalös ist dabei aber, daß von diesem Betrag 29 Milliarden Dollar in den Aufbau der afghanischen Armee und Polizei flossen – eine dreistere Zweckentfremdung von Entwicklungshilfe ist schwer vorstellbar«, so die frühere IPPNW-Vorsitzende Dr. Angelika Claußen. Die Ärztin verwies auch auf die steigende Zahl der Kriegstoten. Schätzungen zufolge werde 2011 mit offiziell etwa 3200 zivilen Opfern ein neuer trauriger Höchststand erreicht.

Zu einem nachgerade vernichtenden Urteil über den »Afghanistan-Einsatz und seine Folgen« kommt die Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik. »Eine Dekade nach dem Sturz des Taliban-Regimes sind die Prognosen zu Afghanistans Zukunft wenig optimistisch«, heißt es in einer in dieser Woche aktualisierten Untersuchung des regierungsfinanzierten Thinktanks. »Die Sicherheitslage verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Berichte von Korruption und Wahlfälschungen häufen sich und konterkarieren die Erwartung an den Aufbau eines legitimen, von den Afghanen anerkannten demokratischen Systems. Die Drogenindustrie durchdringt Politik und Wirtschaft des Landes.« Das deckt sich mit den Analysen von Friedensbewegung und Linkspartei, die im Gegensatz zu Bundesregierung und dem Gros des Bundestages den sofortigen Abzug der mehr als 5000 deutschen Soldaten fordern.

* Aus: junge Welt, 2. Dezember 2011


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