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"Die letzten zehn Jahre zeigen, dass die Besatzungsmächte ausschließlich eigene Interessen verfolgt haben"

Ein 13-Punkte-Katalog der Konföderation der Afghanen im Ausland - vorgelegt zu den Protesten gegen die Bonner Afghanistan-Konferenz


Afghanen in Afghanistan und im Exil können nicht einverstanden sein mit dem, was die Besatzungsmächte zusammen mit dem von ihnen installierten Karzai-Regime in den letzten zehn Kriegsjahren angerichtet haben. Die internationale Regierungskonferenz, die am 5. Dezember 2011 in Bonn auf Einladung der deutschen Bundesregierung und unter Leitung des afghanischen Präsidenten Karzai stattfindet, ist Anlass für die "Konföderation der Afghanen im Ausland", Alternativen zum Krieg aufzuzeigen und Forderungen an die Staatengemeinschaft zu stellen. Wir dokumentieren im Folgenden eine "Resolution", die am kommenden Montag, den 5. Dezember 2011, der Bonner Konferenz übergeben werden soll. Von demselben Bündnis stammt auch ein informativer "Offener Brief", den wir an anderer Stelle dokumentieren: Offener Brief der "Konföderation der Afghanen im Ausland".

Die Resolution der Protestbewegung gegen die zweite Petersberger Konferenz bei Bonn

Wir, die in Europa lebenden Afghanen, möchten heute, am 5. Dezember 2011, unsere Unzufriedenheit über die afghanische Lage durch diese Protestkundgebung vor dem Versammlungsort der zweiten Bonner Konferenz nochmals publik machen. Damit wollen wir auch den Protest unserer Frauen, Kinder und Männer in Afghanistan, die ihre Stimme vor Ort nicht ohne Lebensgefahr erheben können, den Konferenzteilnehmern und deren Regierungen, den UN-Offiziellen und Menschenrechtsorganisationen weitervermitteln.

Wir, die Teilnehmer dieser Kundgebung, fassen die Forderungen unseres afghanischen Volkes wie folgt zusammen. Dabei ist uns durchaus bewusst, dass die aktuelle Situation in Afghanistan eine demokratisch legitimierte Stimme im Sinne des Völkerrechtes kaum ermöglicht. Wir sehen uns durch unseren Kontakt zur Heimat, durch viele Gespräche und Diskussionen aber als sehr weitgehend legitimiert an.

1- Wir fordern, alle Staaten, die in den Konflikt mit unserer Heimat verwickelt sind, auf, mit den Kriegsverbrechen Verbrechern aller Konflikte der letzten dreißig Jahre, jegliche Form der Kooperation zu beenden. Wir fordern, dass der Kampf gegen Korruption endlich mit der notwendigen Konsequenz betrieben wird. So sind bspw. nachgewiesenermaßen korrupte Beamte aus dem Regierungsapparat zu entlassen und vor Gericht zu stellen. Korruption muss als das behandelt werden, was es tatsächlich ist: Ein zweiseitiger krimineller Akt.

2- Nach der Genfer Konventionen sind Besatzungsmächte verpflichtet, das Leben und das Eigentum der Zivilbevölkerung zu schützen und dem Chaos und der Unsicherheit im besetzten Land Einhalt zu gebieten. Die letzten zehn Jahre zeigen, dass sich die Besatzungsmächte unseres Landes nicht um die Sicherheit der Zivilbevölkerung gekümmert haben und ausschließlich eigene Interessen verfolgt haben. Deshalb fordern wir die Besatzungsmächte auf, militärische Aktionen im Eigeninteresse zu unterlassen und zukünftig ausschließlich für Ruhe und Sicherheit der afghanischen Bevölkerung zu sorgen.

3- Die Versöhnungspolitik mit den Taliban widerspricht den anfänglichen Behauptungen der USA und deren Verbündeten. Diese Politik bringt dem Land keinen Frieden. Daher fordern wir die USA und ihre Verbündeten auf, ihre anfänglichen Versprechungen zu erfüllen und weder den Taliban noch anderen mittelalterlichen Kräften politischen Spielraum einzuräumen.

4- Die Nachbarländer, insbesondere Iran und Pakistan nutzen die instabile Lage in Afghanistan aus, um ihre Eigeninteressen in unserem Land zu verfolgen. Die Islamische Republik Iran schürt die religiösen und ethnischen Feindschaften, Pakistan unterstützt die Taliban und andere terroristische Gruppen. Wir verurteilen solche Einmischungen unserer Nachbarländer und fordern die Besatzungsmächte auf, auch gegen solche Übergriffe einzutreten.

5- Wir fordern die Menschenrechtskommission der UN und die anderen in unserem Land aktiven Menschenrechts-Organisationen auf, ab sofort aktiv für die Menschenrechte des afghanischen Volkes einzutreten. Die ersten Opfer dieser katastrophalen Menschenrechtsverletzungen sind unsere Frauen und unsere Kinder. Deshalb verlangen wir dass, jeder Kriegsverbrecher ohne falsche Rücksichtnahme verfolgt wird und seiner gerechten Strafe zugeführt wird – ohne Rücksicht auf seine politische oder soziale Position.

6- Wir, die Teilnehmer dieser Kundgebung, sind überzeugt, dass der Hauptgrund der afghanischen Misere die unbeschreibliche Armut in unserem Lande ist. Diese Armut ist die Nebenwirkung eines durch drei Dekaden zerstörten Landes, in dem es keine Industrie, keine Landwirtschaft und daher keine Arbeit für Menschen gibt. Wir wissen, solange mit dem Wiederaufbau der Infrastruktur (Straßen, Autobahnen, Schulen und Hochschulen) nicht begonnen wird, werden wir aus diesem Elend nicht herauskommen.

7- Afghanen können von Lohn abhängiger Arbeit ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. So arbeiten Lehrer, Beamte in untergeordneten Positionen und Arbeiter zwar unter harten Bedingungen, können aber trotzdem von Ihrer Arbeit nicht leben. Die Konsequenz ist, dass Diebstahl, Bestechung und Unterschlagung gang und gäbe geworden sind. Korruption durchdringt die ganze Gesellschaft. Insbesondere die Elite und vor allem der Kopf der Gesellschaft bzw. der Regierungsapparat zeigen sich im besonderen Maße korrupt. Die Renten in Afghanistan stellen in der Tat nur eine Farce dar. Die alten Menschen können kaum davon leben, leiden Not und Hunger. Besonders zu erwähnen sind die Kriegsinvaliden, wovon Abertausende in Afghanistan dahinsiechen müssen. Sie bekommen weder Rente noch irgendeine staatliche Hilfe. So wird tagtäglich die Würde der Menschen in einem Land, in dem jedes Jahr Milliarden Dollars für den Krieg ausgegeben werden, mit Füßen getreten.

8 - Millionen Arbeiter arbeiten unter schlechtesten Bedingungen. Doch sie können kaum ihre Familien ernähren. Der Lohn eines Monats reicht praktisch nur für 5 bis 10 Tage aus. Das wirkliche Bild der afghanischen Arbeiter ist aber noch viel deprimierender. Da sie meist keine feste Arbeit haben, müssen sie sich vor Sonnenaufgang an Straßenkreuzungen oder öffentliche Plätze begeben. Dort warten sie solange, bis ein Arbeitgeber sie für eine befristete Arbeit anstellt.
Viele kommen dennoch mit leeren Händen nach Hause zu hungerleidenden Kindern zurück, denn sie haben meistens keine Arbeit gefunden: So läuft der Tag eines Arbeitssuchenden in Afghanistan ab. Diese Realität ist hart, aber es gibt Lösungswege: Ein Teil der Gelder, die in die Kriegsmaschinerie fließen, müssen für den Aufbau unserer Infrastruktur und für die effektive Bekämpfung eingesetzt werden. So hätten wir Afghanen zukünftig eine Chance unseren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. In der aktuellen gesellschaftlichen Situation sind viele Afghanen auf zusätzliche soziale Transferleistungen, die ebenfalls zu finanzieren wären, angewiesen.

9 – Wir fordern, dass die Nichtregierungsorganisationen, die sich um die Kinder in Afghanistan kümmern, von der Regierung und den Besatzungsmächten rechtlich und finanziell unterstützt werden. Die Lage der Kinder in Afghanistan ist katastrophal. Tausende Kinder müssen arbeiten, um ihre Familien zu ernähren; es gibt sogar Kinder, die in Gefängnissen bei ihren zu Haftstrafen verurteilten Müttern leben müssen, weil keiner sich um solche Kinder kümmert. Oft sind die Frauen nur deshalb im Gefängnis, weil sie sich von ihren Ehemännern getrennt haben. Die Kinder dieser Frauen werden ohne eigene Schuld auf das schwerste traumatisiert. Aber auch diese Kinder sind unser zukünftiges soziales Kapital; Unsere Forderung an die jetzige Regierung: Sofort Projekte starten, die diese Kinder fördern und schützen!

10 – Viele Menschen, die in Städten leben, sind praktisch obdachlos. Unter ihnen gibt es Lehrer, Arbeiter, kleine Beamte und Angestellte. Die hohen Beamten, die sich große Ländereien angeeignet haben und mit anderen Neureichen in mafiaähnlichen Netzen verbunden sind, sorgen dafür, dass der Preis für Grund und Boden in die Höhe getrieben wird. Unter anderem dadurch entstand in Afghanistan eine große Schicht von Obdachlosen. Wir fordern, dass diese Immobilienmanipulation und Korruption, die primär durch hohe Beamte zustande gekommen sind, bekämpft und die Übeltäter vor Gericht gestellt werden.

11 – Über 1,5 Millionen Afghanen gelten als Nichtsesshafte. Sie ziehen im Lande herum und kommen immer wieder mit anderen Clans oder Stämmen in Konflikte. Diese Konflikte enden oft blutig. Es gibt in Afghanistan Tausende Hektar Ländereien, die entweder für Landwirtschaft oder Bebauung mit Wohnsiedlungen geeignet sind. Die Regierung hat Verfügungsrechte über einen Großteil dieser Ländereien. Wir fordern, dass unsere Regierung es speziell den Nichtsesshaften ermöglicht, sich sesshaft zu machen, damit vielen blutigen Konflikten der ökonomische Nährboden entzogen wird.

12 – Auf Grund von Kriegen, blutigen Konflikten und Racheakten in den letzten dreißig Jahren mussten viele Afghanen ihre Heimat verlassen und in die verschiedenen Länder, vor allem in den Iran und Pakistan flüchten. Die afghanischen Flüchtlinge im Iran und in Pakistan leben unter unmenschlichen Bedingungen und ihre Rechte als Flüchtlinge werden nicht anerkannt. Viele afghanische Flüchtlinge, die in Europa leben, genießen dagegen ein besseres Leben als ihre Landsleute im Iran oder Pakistan, sind aber ohne gesicherten Status. Sie werden als Flüchtlinge nicht anerkannt, sie werden lediglich geduldet. Es ist die Aufgabe der afghanischen Regierung, sowohl mit den betroffenen Staaten über das Schicksal dieser Menschen zu verhandeln wie auch für menschenwürdige Umstände im eigenen Land zu sorgen, die eine Rückkehr möglich und auch attraktiv macht.

13 – Es ist ein offenes Geheimnis, dass Afghanistan eines der größten Produktionszentren von Opium und Heroin ist. Jedes Jahr werden von Afghanistan aus Tausenden Tonnen Opium und Heroin in ganze Welt verteilt. Der Drogenhandel kann in diesem Maße nur mit einem mafiaähnlichen Netzwerk bewerkstelligt werden, wobei viele hohe Beamte, internationale Drogenhändler, wie auch die obersten Führer der Taliban daran beteiligt sind. Es ist die Aufgabe der Besatzungsmächte, den Drogenhandel zu bekämpfen. Eine effektive Drogenbekämpfung ohne Korruptionsbekämpfung im Regierungsapparat ist nicht realisierbar.

Wir, die Teilnehmer der Kundgebung und der Protestbewegung, glauben, dass die oben angeführten Forderungen realistisch und machbar sind. Daher bestehen wir auf der umgehenden Umsetzung dieser Forderungen!

Das Vorbereitungskomitee für die Protestaktion gegen die zweite Bonner Konferenz, 16. Okt. 2011


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