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Afghanistan im Jahr 2001: Krieg gegen den Terror?

Eine erste Bilanz des noch nicht beendeten Krieges

Afghanistan machte nicht erst nach dem 11. September Schlagzeilen, als sich der Blick der USA und des Westens auf dieses Land als vermeintlichem Schlupfwinkel des Topterroristen Ossama bin Laden richtete.

Im März ging die Kunde um die Welt, wonach die Regierung der radikal-islamischen Taliban dem Militär Befehl gegeben habe, alle Buddha-Statuen und andere Darstellungen zu zerstören. Die Standbilder seien "unislamisch". Soldaten des Taliban-Regimes zerstörten innerhalb weniger Tage Standbilder und Büsten im Museum von Kabul, in den Provinzen Herat, Kandahar, Ningarhar, Bamian und Ghazni. Darunter befanden sich auch zwei der wertvollsten Kulturgüter der Welt, die 2000 Jahre alten, 37 und 53 Meter hohen Buddha-Statuen in Bamian. Das Zerstörungswerk wurde in Gang gesetzt trotz zahlreicher internationaler Proteste von Seiten der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, der USA, Russlands und anderer Staaten. Im Mai erschreckte die Welt eine Anordnung der Taliban, nach der alle in Afghanistan lebenden Hindus eine gelbe Markierung auf ihrer Kleidung tragen müssten. In Afghanistan gibt es nur noch eine einzige religiöse Minderheit, eben die Hindus. Der Islam, so begründete Religionsminister Mullah Mohammad Wali die Maßnahme, schreibe vor, dass religiöse Minderheiten, die in einem moslemischen Land leben, identifizierbar sein müssten. Wenn die Hindus künftig ein gelbes Stoffstück auf der Brust tragen, diene das ihrem eigenen Schutz. So könnten sie nicht für Moslems gehalten werden, die gegen die strengen Bart- und Kleidervorschriften verstoßen, was u.a. mit Peitschenhieben geahndet wird. In Indien wurde diese Anordnung als politische Provokation verstanden, und so war es offenbar auch gemeint. Die Taliban-Regierung handelte dabei weniger aus eigenem Antrieb, sondern mehr auf Anweisung Pakistans. In Islamabad spekulierte man wohl auf neuerliche religiöse Unruhen in Indien. Warum das Regime in Kabul dann doch von ihrem Vorhaben abließ, bleibt unersichtlich.

Aufsehen erregt hat auch die Verhaftung von Mitarbeitern der internationalen christlichen Hilfsorganisation "Shelter Now" in Kabul im August. Die 24 festgenommenen Helfer (16 einheimische und 8 ausländische) hätten den Islam und die afghanischen Traditionen "schwer beleidigt", sagte der stellvertretende Leiter der Religions- und Sittenpolizei, indem sie versucht hätten, christlich zu missionieren. Das Motiv für diese überraschende Maßnahme der Taliban war unklar. Einerseits waren ihr natürlich Hilfsorganisationen suspekt, die allein schon durch ihre humanitäre Arbeit Sympathiewerbung für sich betrieben, andererseits war das Land auf internationale Hilfe angewiesen. Im August arbeiteten rund 20.000 Menschen für internationale Hilfsorganisationen, darunter viele UN-Einrichtungen. - Nach dreimonatiger Gefangenschaft kamen die acht ausländischen Shelter-Now-Mitarbeiter (vier Deutsche, zwei US-Amerikaner und zwei Australier) wieder frei. Sie wurden inmitten des Krieges aus einem Gefängnis in Ghasni südwestlich von Kabul von örtlichen Oppositionstruppen befreit. Außenminister Fischer gab bekannt, die Bundesregierung sei "glücklich und erleichtert". Kein Land der Welt hat einen so hohen Anteil an Flüchtlingen wie Afghanistan. Im August 2001 zählten die Vereinten Nationen 3,6 Millionen afghanische Flüchtlinge. Davon befanden sich etwa zwei Millionen im benachbarten Pakistan und 1,5 Millionen im Iran. Der Rest verteilt sich auf 66 Länder der Welt, worunter die Staaten der EU bei Flüchtlingen besonders begehrt sind. Diejenigen, die nach Europa kamen, gehörten eher zu den wohlhabenderen und gebildeteren Bevölkerungskreisen, die ihr Land zum Teil schon während der Phase der sowjetischen Besatzung (1979-1989), zum Teil aber erst während der Bürger- und Stammeskriege in den 90er Jahren verlassen haben. Nach dem 11. September, als die USA militärische Vorkehrungen für einen Angriff auf "Terroristennester" in Afghanistan trafen, setzte aus Angst vor einem Krieg eine neuerliche Fluchtwelle ein, die allerdings dadurch eingedämmt wurde, dass Pakistan und Iran ihre Grenzen zu Afghanistan schlossen. Teils taten sie das aber auch auf Anweisung der USA, damit die Schlupflöcher für die in Afghanistan vermuteten Al-Qaida-Kämpfer Ossama bin Ladens verschlossen werden. Ende September werden bereits fünf Millionen Flüchtlinge gezählt, drei in Pakistan und zwei in Iran. Nach einer Meldung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR flohen Mitte September innerhalb weniger Tage allein 200.000 Menschen aus Kandahar - das ist die Hälfte der Bevölkerung dieser Stadt (FR., 18.09.2001). Hunderttausende waren auf der Flücht innerhalb Afghanistans. (Dies könnte vielleicht jenen zu denken geben, die immer noch meinen, die große Fluchtbewegung aus dem Kosovo im Frühjahr 1999 sei nur wegen der serbischen Vertreibungspolitik, nicht aber wegen der bevorstehenden bzw. einsetzenden NATO-Bombardements erfolgt.)

Afghanistan gehörte schon immer zu den ärmsten Ländern der Welt. Über 20 Jahre Bürgerkrieg haben das ihrige getan, um das Land fast völlig zu zerstören. Der Lebensstandard der Bevölkerung sank auf den niedrigsten Stand weltweit. Ein Viertel aller Kinder erreicht nicht einmal ein Alter von fünf Jahren. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 1999 46 Jahre, nur noch unterboten von afrikanischen Ländern wie Uganda, Sambia, Sierra Leone oder Ruanda. Die Analphabetenquote wird mit 70 Prozent angegeben; sie wäre damit die dritthöchste in der Welt (hinter Niger und Burkina Faso). Der Ausschluss der Frauen aus dem öffentlichen Bildungssystem seit der Taliban-Herrschaft dürfte dafür sorgen, dass die Analphabetenquote in der nächsten Zeit eher noch zunehmen wird.

Der Krieg der USA und Großbritanniens, der am 7. Oktober eröffnet wurde, hat seinen Teil dazu beigetragen das Land vollends in die Steinzeit zurückzubomben. Unter dem Vorwand, ausschließlich Verstecke der Al-Qaida-Organisation und Einrichtungen des Taliban-Militärs anzugreifen, flogen die "alliierten" Streitkräfte Tausende von Bombenangriffen, unterstützt von Angriffen ferngelenkter Raketen und Drohnen. Schon in den ersten Kriegstagen tauchten Berichte auf, wonach keineswegs nur militärische Ziele, sondern auch zivile Einrichtungen getroffen wurden. Eine kleine Auswahl aus der "Kriegschronik", welche die Arbeitsgruppe Friedensforschung an der Universität Kassel seit dem 7. Oktober im Internet führt (Kriegschronik):
  • Am 9. Oktober werden bei den Angriffen vier zivile UN-Mitarbeiter in Kabul, die mit Aufgaben der Minenräumung befasst waren, getötet.
  • Am 11. Oktober setzen die USA erstmals in diesem Krieg die berüchtigten "Streubomben" ein. Die Angriffe werden immer massiver. Die getöteten Zivilisten gehen möglicherweise schon in die Hunderte.
  • Am 14. Oktober geben die USA mindestens drei "Fehltreffer" zu, bei denen Zivilisten zu Schaden gekommen seien.
  • Am 16. Oktober gab das amerikanische Verteidigungsministerium zu, dass US-Bomben ein Lagerhaus des Roten Kreuzes bei Kabul getroffen haben.
  • Am 17. Oktober haben die USA bei ihren Luftangriffen eine afghanische Schule bombardiert. Ein Sprecher der Vereinten Nationen bestätigte in Islamabad, dass eine US-Bombe in eine Jungenschule in der Hauptstadt Kabul einschlug. Glücklicherweise detonierte sie jedoch nicht.
Marc W. Herold, Professor für Wirtschaft, Internationale Beziehungen und Frauenforschung an der Universität von New Hampshire veröffentlichte am 10. Dezember eine Studie über die zivilen Todesopfer des Krieges. Das wichtigste Ergebnis seiner Nachforschungen: In den zwei Monaten vom 7. Oktober bis einschließlich 6. Dezember starben mindestens 3.500 Zivilisten an den Folgen der Bombenangriffe. Marc W. Herold hatte über die zivilen Opfer seit dem 7. Oktober jede Menge Daten zusammengetragen, indem er Informationen von Nachrichtenagenturen, großen Zeitungen und Augenzeugenberichten auswertete. Als Motiv für seine Nachforschungen gab er an: "Ich entschloss mich zu dieser Studie, weil ich vermutete, dass die modernen Waffensysteme nicht halten, was sie versprechen. Ich war besorgt darüber, dass es beträchtliche zivile Opfer infolge der Bombardierungen geben würde, und ich konnte einige Hinweise auf Opfer in der ausländischen Presse, aber kaum eine Erwähnung in der US-Presse finden." Tag für Tag, seit dem Beginn der Bombardierungen am 7. Oktober, listet Harold die Zahl der Toten, die Orte des Geschehens, die eingesetzten Waffen sowie die jeweiligen Informationsquellen auf. So starben etwa gleich am ersten Tag des Krieges mindestens 39 Menschen, darunter 22 bis 25 infolge von Bombeneinschlägen in Privathäusern in Kabul, 4 Menschen in Kandahar, 9 in Herat und noch einmal 4 in Dschalalabad. Von mehr als 300 zivilen Todesopfern in verschiedenen Städten und Dörfern ist die Rede am 10. Oktober und am 11. Oktober bombardierten US-Jets das Bergdorf Karam, das aus etwa 60 Lehmhütten besteht. Dabei wurden zwischen 100 und 160 Menschen getötet. - Diese Beispiele mögen genügen. Das wahre Ausmaß der Zerstörungen und der Opfer ist jedenfalls höher als die recherchierten Zahlen. In einem Interview für das ARD-Nachrichtenmagazin Monitor sagte Herold im Dezember, er gehe davon aus, dass die tatsächliche Zahl der getöteten Zivilisten bei 5.000 liegen müsse (Monitor, 20.12.2001) Da der Krieg im Dezember noch nicht zu Ende war, wurde in Afghanistan weiter gestorben. Da auch die getöteten Soldaten Menschen sind, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass schätzungsweise 15.000 Al-Qaida- oder Taliban-Kämpfer bzw. was man dafür hält in dem Krieg getötet wurden. Zusammen mit den zivilen Opfern übersteigt damit die Gesamtzahl der Kriegstoten die bei den Attentaten vom 11. September ermordeten Menschen etwa um das Sechsfache.

Formal beendet wurde der Krieg am 23. Dezember mit der Einsetzung der Interimsregierung unter Hamid Karsai. In Verhandlungen zwischen verschiedenen Stammesführern der "Nordallianz" und afghanischen Exil-Gruppen in Bonn war ein Fahrplan für die Rückkehr zu "normalen" Verhältnissen ohne Taliban beschlossen worden. Wichtigster Bestandteil des Plans ist die Einberufung einer Sonder-Loya-Jirga, einer Art Versammlung aller Stammesfürsten, zur Bildung einer endgültigen Regierung und zur Verabschiedung einer Verfassung für das Land. Bis dahin ist es aber noch ein langer und beschwerlicher Weg. Die im Januar und Februar 2002 aufflammenden Kämpfe zwischen rivalisierenden Stämmen und Warlords weisen darauf hin, dass trotz Anwesenheit einer UN-Sicherheitstruppe ISAF in Kabul und trotz massiver Militärpräsenz von Seiten der USA und Großbritanniens (die Bundeswehr mischt mit mindestens 100 Elitesoldaten des Kommandos Spezialkräfte mit) das Land lange nicht zur Ruhe kommen wird.

Dies hat seinen Grund auch darin, dass es Interessengegensätze in der Region gibt, die sehr viel tiefer gehen als der Streit um die Anwesenheit von Ossama bin Laden und seiner Al-Qaida-Organisation. Afghanistan ist ein wichtiger Mosaikstein in der Energielandkarte des Mittleren Ostens und Zentralasiens. Dabei verfügt das Land selbst nur über geringe eigene Energieressourcen. Nach einer Schätzung der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover betrug das Erdöl-Gesamtpotential der Welt 1998 etwa 350 Milliarden Tonnen. Davon entfallen etwa 18 Milliarden Tonnen auf Zentralasien, den "Kaspischen Raum". Das sind etwa fünf Prozent der Weltreserven an Erdöl. Wenn das richtig ist, dürften die Erdölvorkommen in Afghanistan weit weniger als ein Prozent der Weltreserven ausmachen. Die Erdgasreserven im Kaspischen Raum werden auf zirka 24 Billionen Kubikmeter geschätzt. Damit sind sie etwa doppelt so groß wie das Potential der Nordsee, stehen aber deutlich hinter dem Nahen Osten zurück (78 Billionen Kubikmeter Erdgas). Da eine Milliarde Tonnen Erdöl etwa den gleichen Brennwert hat wie eine Billion Kubikmeter Erdgas, sind die kaspischen Öl- und Gasvorkommen zusammengenommen etwa ein Fünftel so groß wie die im Nahen Osten. Allerdings lagert ein erheblicher Teil des Öls in Kasachstan, weit weg von möglichen Nutzern und vor allem nicht am Meer. Das meiste Gas wiederum liegt mitten in Turkmenistan, also nicht einmal am Kaspischen (Binnen-)Meer. Öl und Gas müssen demnach per Pipelines transportiert werden, am besten zum Indischen Ozean. Und hier kommen Afghanistan und Pakistan als Transitländer ins Spiel. Die kalifornische Erdölgesellschaft Unocal verfolgte schon seit Jahren Pläne, das Öl aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens per Pipeline durch Afghanistan und Pakistan an den Ozean zu transportieren. Und es war gewiss kein Zufall, dass im Juni 2001 der aus Afghanistan stammende US-Wissenschaftler Zalmay Khalilzad in Bushs Nationalem Sicherheitsrat die Verantwortung für die Region übernommen hat. Khalilzad war früher für Unocal tätig gewesen. Es macht also durchaus Sinn, US-Militärstützpunkte in und um Afghanistan herum zu errichten - die USA stellen sich auf einen langen Verbleib ein. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, auf den der Asien-Experte Karl Grobe in einem FR-Hintergrundartikel im Dezember aufmerksam machte: Der US-Sieg über die Taliban war gleichzeitig auch ein Sieg über die Taliban-freundliche Opposition in Saudi-Arabien, die seit langem gegen das Königshaus zu Felde zieht, das den Islam verraten und die nationalen Reichtümer an die USA verkauft hätte. Das Königshaus in Riad sitzt nun fester im Sattel. Immerhin sitzt es außerdem auf 25 Prozent aller Erdöl-Vorräte der Welt. (FR, 22.12.2001)

Peter Strutynski


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