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Von Peschawar nach Kabul

Impressionen einer Reise in die afghanische Hauptstadt

Von Matin Baraki*

Die Grenzschranke am Checkpoint »Torcham«, dem afghanisch-pakistanischen Grenzübergang am Khaiber-Paß, wird täglich um 7.30 Uhr geöffnet. Ist man pünktlich, kommt man zügig voran in Richtung Djalal Abad und weiter nach Kabul. Noch vor wenigen Monaten gelang es nur mit Bakschisch, die Grenze zu passieren. Wobei Schläge mit einem Kabel eher die Regel denn die Ausnahme waren, wenn der Reisende sich weigerte, den geforderten Betrag zu entrichten. Diesmal kann jeder nach kurzer Durchsuchung die Grenze passieren, ohne solcherlei Schikanen. Wer einen gültigen Paß besitzt, bekommt darin einen Stempel und kann ohne Probleme oder Verzögerung weiterfahren.

Die afghanische Seite der Grenze ist mit viel Liebe zum Detail und Geschmack gestaltet worden. Verschiedene einheimische Pflanzen und Blumen säumen die Straße. Checkpoint und Zollbehörde sind frisch gestrichen, darüber weht die Fahne des neuen Islamischen Staates Afghanistan. Bis Djalal Abad ist die Straße asphaltiert, von dort aus bis nach Kabul besteht sie faktisch nur aus Schotter und Schlaglöchern. Trotzdem rasen die Autos, was das Zeug hält. Hier und da liegen umgekippte Fahrzeuge; wenn man Pech hat, wird die Straße dadurch längere Zeit versperrt. Will man am Zielort von seinen Angehörigen erkannt werden, sollte man sich vorher entstauben. Und wer bei der Fahrt nicht den Mund geschlossen hat, dem knirschen die Sandkörner zwischen den Zähnen.

Eine Stadt in Trümmern

In Kabul ist der Beobachter, der die Stadt aus alter Zeit kennt, schockiert. Eine dreckige, stinkende, laute, von Staub und Rauch eingehüllte Stadt. Zum größten Teil nur ein Trümmerhaufen neben einem Militärcamp. In der Hauptverkehrszeit ist man zu Fuß fast schneller als mit dem Auto, da die Straßen von Fahrzeugen überquellen. Die Afghanen können nicht verstehen, warum die Ausländer der über 900 Nichtregierungsorganisationen in Kabul jeweils allein in ihren Fahrzeugen sitzen, was erheblich zum Verkehrschaos beiträgt. Autos aller PS-Stärken und Fabrikate bewegen sich auf den schmalen, für diese Verkehrsdichte völlig ungeeigneten Straßen. Automobile sind inzwischen zum Statussymbol vieler Afghanen avanciert. Ihre Besitzer fahren, zum größten Teil ohne Führerschein und Fahrpraxis, sogar zu den Verwandten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft.

Viele Stadtteile Kabuls, aber auch die Hauptstraße »Djade Maiwand«, die in ost-westlicher Richtung die Altstadt durchquert und ehemals mit Laternen versehen und von Akazien-Bäumen gesäumt war, ein Stolz der Altkabulis, liegen immer noch in Trümmern. Am Rande dieser Straße, vor den von den Islamisten in den 90er Jahren zerbombten Häusern, bieten fliegende Händler mit ihren Wagen oder in selbsterrichteten Hütten ihre Waren an. Sie werden regelmäßig von Polizisten »besucht«, die von ihnen Provision kassieren, ansonsten werden sie von einer Ecke in die andere vertrieben.

Im Stadtteil Schahre Nau, einem Wohnort der wohlhabenden Kabulis, ist ein kitschiges Chinarestaurant entstanden, das bei den vielen jungen Männern aller Nationen, die sich in Kabul aufhalten, sehr beliebt ist. Auch Afghanen, die es sich leisten können, sind dort willkommen. Die Gäste werden von jungen und schönen Asiatinnen bedient; nach dem Essen können sich die Besucher in andere Räumlichkeiten zurückziehen und sich mit den Frauen amüsieren. Ab und an suchen diese Frauen eine Bank auf. Von dort überweisen sie Geld nach Hause, erzählt ein Bankangestellter. Das Restaurant, ein kaum verhohlenes Bordell, ist auch eine »Begegnungsstätte« zwischen Angehörigen der International Security Assistance Force (ISAF) und Einheimischen. ISAF-Leute verteilen Pornoheftchen und lassen den jungen afghanischen Mitarbeitern der Besatzungstruppe Alkohol ausschenken. Es kommen aber auch afghanische Zuhälter und Frauenhändler dorthin, die für ISAF-Männer und andere Ausländer die Prostitution organisieren. In dem Restaurant wird gespielt und nicht nur Wasser getrunken – inzwischen eine Normalität im neuen Islamischen Staat Afghanistan.

Blühende Korruption

Das Leben in Kabul ist teuer, auch für diejenigen, die eine Arbeit haben. Waren aus aller Welt animieren zum Kauf. Konsumgüter sind zum Prestigeobjekt unter den Wohlhabenden geworden. Man verbirgt nicht, was man hat. Das arme Afghanistan ist zu einem Abnahmeparadies für Industrieprodukte aus aller Herren Länder geworden. Auch – oder gerade? – die Intellektuellen sind von diesem Virus befallen. So erklärt sich der Wunsch, mit allen Mitteln zu Geld zu kommen. Die Oberärztin der gynäkologischen Abteilung des »Rabeae Balchi« in Kabul hat mit ihren Ärztinnen vereinbart, so weit wie möglich den Patientinnen eine Behandlung im Krankenhaus zu verweigern, weil angeblich keine Medikamente vorhanden seien. Statt dessen sollten diese in die Privatklinik der Oberärztin überwiesen werden. Somit werden nur Patientinnen behandelt, die über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen. Das Serum für die im Rabeae Balchi Krankenhaus zu operierenden Frauen müssen die Angehörigen selbst kaufen; es sei denn, man hat Glück – wenn etwa zufällig eine Mitarbeiterin einer NGO vorbeikommt und die Medikamente zur Verfügung stellt. Auch andere Arzneien müssen die Patientinnen selbst mitbringen. Wer das Geld dafür nicht aufbringen kann, muß sich auf Allah verlassen. Passen die Angehörigen nicht auf, kann es sein, daß den Patientinnen statt wirksamer Medikamente Placebos oder auch gar keine Arzneimittel verabreicht werden. Die Frauen, die zur Geburt ihrer Kinder in das Rabeae Balchi Krankenhaus eingeliefert werden, bleiben einfach im Geburtszimmer liegen. Nicht wenige von ihnen gebären ihre Kinder ohne jede fachliche Aufsicht. Sie könnten ihre Kinder auch genausogut, oder -schlecht, zu Hause bekommen.

Die Baulöwen von Kabul

Obwohl in ausnahmslos allen Ämtern US-Berater sitzen, die die eigentlichen Chefs sind, läuft in Kabul ohne Bestechung überhaupt nichts. Korruption gibt es überall, sie ist auf allen Ebenen der Administration die Regel und nicht die Ausnahme. So hat sich auch ein neuer Berufsstand herausgebildet: Grundstücksvermittler. Diese haben gute Kontakte zum Magistrat der Hauptstadt, der für die Vergabe des Baulandes zuständig ist. Auf dem normalen Verwaltungsweg ist es nicht möglich, Bauland zu bekommen. Verfügt man über genügend Geld, geht man den sicheren Weg über den Grundstücksvermittler.

In Kabul wird gebaut wie nie zuvor. Da die Stadt zum großen Teil immer noch in Trümmern liegt, gibt es viel zu tun. Es entstehen aber kaum Wohnungen für die Ärmsten. Dagegen werden riesige Gebäudekomplexe mit Geschäften in den lukrativen Vierteln gebaut. Ein kompletter Häuserblock am Tschamande Hosuri (Paradewiese), einem Viertel der Teppichgroßhändler, der während des Krieges zerstört worden war, wurde von Verteidigungsminister Fahim für ein Taschengeld erworben, neu aufgebaut und lukrativ vermietet. Dem Minister gehört u. a. auch ein Goldmarkt in der Innenstadt von Kabul. Der Stadtteil, in dem Fahim wohnt, ist sogar nach ihm benannt, denn das ganze Stadtviertel gehört ihm. Seine halbwüchsigen Söhne veranstalten dort Autorennen, und niemand ist in der Lage oder willens, sich zu beschweren, geschweige denn etwas dagegen zu unternehmen. Auch andere Familienmitglieder Fahims gehören zu den Baulöwen; ihnen gehören inzwischen riesige Gebäudekomplexe in den besten Stadtteilen.

Anderen Ministern und Mitgliedern der Administration geht es kaum schlechter. Politiker, Militärs, Polizeichefs oder deren Verwandte sind Eigentümer ganzer Wohnviertel und Straßenzüge. In Scherpur, einem Bezirk des Stadtteils Schahre Nau (Neustadt) und zugleich eine der besten Adressen Kabuls, wurde das Gelände der Militärgarnison auf Minister und Angehörige der hohen Ministerialbürokratie verteilt.

Durst nach Wissen

Erfreulich ist dagegen der Durst der Menschen nach Wissen, ob bei Mädchen oder Jungen. Er manifestiert sich darin, daß viele Kinder in die Schule gehen und daß die Eltern, die es sich leisten können, dies auch ermöglichen. Dies hat jedoch auch eine andere Seite: Die »internationale Gemeinschaft« hat begriffen, daß Bildung nicht nur für Afghanistan, sondern auch für sie selbst unverzichtbar ist, will sie ihre Interessen in dem Land optimal durchsetzen. Die Kolonialmächte waren immer auf die Kooperation einheimischer Eliten angewiesen. »Der Baum sagt zur Axt, wäre dein Griff nicht ein Teil von mir, hättest du mich nicht schlagen können«, lautet ein afghanisches Sprichwort. Daher wird von internationaler Seite auch in das Bildungswesen investiert. Schulgebäude und dazugehörige Einrichtungen werden zum Teil, wenn auch in nicht ausreichendem Maße, wiederhergestellt. Die meisten Lehrkräfte, die selten eine effektive, qualitativ gute pädagogische Ausbildung erhalten haben, werden weitergebildet.

Kurz vor der Abreise aus Kabul traf ich einem Mann, der in meinem Nachbardorf wohnte und zwei Jahre lang in US-Gefangenschaft in Guantánamo verbringen mußte. Die Umstände seiner Freilassung beschrieb er so: »Die Gefangenen bekamen in ihren Zellen Besuch von einer Frau, einer Prostituierten. Ließ sich der Gefangene auf die käufliche Liebe ein, wurde er freigelassen. Lehnte er ab, wurde er als Taliban eingestuft und blieb weiter in Haft.«

Als ich aus Kabul abreiste, brach eine solche Kälte aus, daß in den bewässerten Weizenfeldern das Wasser gefror. Wäre man abergläubisch, hätte man diesen Kälteeinbruch vielleicht politisch interpretiert.

* Dr. Matin Baraki, Politikwissenschaftler afghanischer Herkunft, lebt in Marburg. Lehraufträge u.a. in Marburg, Kassel und Gießen. Referent beim Friedenspolitischen Ratschlag 2004 in Kassel.

Diese Reiseeindrücke erschienen in der Wochenendbeilage der "jungen Welt", 11. Dezember 2004



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