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Für eine nationale Versöhnung in Afghanistan

Auszug aus einem längeren Gespräch mit Matin Baraki *



UZ: Was ist seit 2001 in Afghanistan geschehen?

Matin Baraki: Das Land ist angegriffen und besetzt worden - man kann sagen: von der Nato unter Führung der Vereinigten Staaten. Das Land ist seitdem ein Protektorat. Das zum einen.
Zweitens: Noch während des Krieges wurde die sogenannte Internationale Konferenz auf den Petersberg eingeladen. Formal waren die Vereinten Nationen der Schirmherr.
Auf dieser Konferenz waren vier afghanische Gruppen vertreten. Interessanterweise waren das die Gruppierungen, die die USA nach 1994 aus Afghanistan vertrieben hatten: die ehemaligen Mujaheddin, eine Gruppierung der Monarchisten genannt die Rom-Gruppe, dann die Zypern-Gruppe ...

UZ: Wer ist das?

Matin Baraki: Die Zyperngruppe wurde dort geleitet vom Schwiegersohn von Hekmatyar, einer der "Super"-Mujahed der CIA ...

UZ: ... die Grausamsten überhaupt ...

Matin Baraki: Genau. Und aus Afghanistan selbst war die Nordallianz vertreten und eine Peschawargruppe, eine von den gemäßigten Islamisten-Gruppen. Überhaupt waren alle Anwesenden Islamisten. Die Afghanen waren mit etwa 38 Personen vertreten. Allein die USA haben 20 Beobachter gehabt. Diese haben die Richtlinien der Diskussion bestimmt - und natürlich auch das, was im Ergebnis rauskommen sollte. Die haben durchgesetzt, das aus der Mitte dieser 38 Afghanen die neue afghanische Regierung gebildet wird. Der Interims-Regierungschef Karsai selbst wurde in Abwesenheit ernannt.

UZ: Sind diese vier Gruppen immer noch aktiv? Ist die Rom-Gruppe um den König noch aktiv?

Matin Baraki: Die sind noch aktiv und stellen auch einen Minister, den Wirtschaftsminister, der Schwager des Königs Mohammad Zahir Schah ist. Auch ein Enkel des Königs hat einen wichtigen Posten. Aber trotzdem sind sie marginalisiert. Die Europäer wollten diesen Kräften eine wichtige Rolle geben, aber die USA wollten das nicht. Sie haben dem König nicht verziehen, dass er in den 50er Jahren - zu den Hochzeiten des kalten Krieges - die Bedingungen der USA für Wirtschafts- und Militärhilfe abgelehnt hat. Und somit wurde Afghanistan nicht Mitglied des Cento- und Seatopaktes, dem ursprünglichen Bagdad-Pakt. Die afghanische Regierung wollte nämlich bei der Neutralität bleiben, die sie auch in den beiden Weltkriegen eingehalten hatte. Uns so bekam Afghanistan keine Gelder aus den USA. John Forster Dulles, der damalige Außenminister der USA, sagte, Neutralität sei unmoralisch.

Folge dieser Haltung der USA war, dass Afghanistan sich an die Sowjetunion gewandt hat. Die hat - ohne Bedingungen - Wirtschafts- und Militärhilfe geleistet.
Genau deshalb wurden die Leute um Zahir Schah auf dem Petersberg marginalisiert. Auch später, als Zahir Schah gegen Karsai für das Präsidentenamt kandidieren wollte, ist er vom amerikanischen Botschafter in Kabul "rausgeboxt" worden.

Weil aber die Petersberger Regierung weder Legitimation noch Zustimmung der afghanischen Bevölkerung hatte, musste man für die Verlegung nach Kabul nach kolonialem Muster eine Schutztruppe „ISAF“ bilden. Und die hatte die Aufgabe - legitimiert immerhin durch die Vereinten Nationen - diese Regierung in Kabul selbst zu schützen - nicht mehr. Das Mandat erlaubte keinesfalls, sich - wie es die Nato kurze Zeit später getan hat - über das ganze Land wie ein Krebsgeschwür zu verbreiten. Das war nicht Bestandteil des Auftrages der ISAF.
Trotzdem wurde das Land von der Nato in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Nordafghanistan bekamen die Deutschen, Südafghanistan die Engländer und US-Amerikaner. West- und Mittelafghanistan andere Nato-Nationen.

UZ: Gekämpft wird bisher hauptsächlich im Süden.

Matin Baraki: Ja. Das ist das, was seit 2001 im wesentlichen in Afghanistan passiert ist. Zwei Punkte möchte ich ergänzen. Erstens zur Wirtschaftslage. Afghanistan war relativ autark. Das Land ist zweimal so groß wie die Bundesrepublik, hat verschiedene klimatische Zonen. D. h., wir konnten uns sowohl im Sommer als auch im Winter selbst versorgen. Es gibt Teile Afghanistans, vor allem im Osten, wo dreimal im Jahr geerntet werden kann.

UZ: An der Grenze zu Pakistan.

Matin Baraki: Ja. Und heute sagt der afghanische Wirtschaftsminister, ein Absolvent der Universität Köln: 99 Prozent der Waren auf dem afghanischen Markt sind Importe. Das bedeutet Afghanistan hat keine Wirtschaft. Sie wurde seit 2001 von den Besatzungsmächten zerstört. Außer Mohn wird im Lande nichts mehr produziert - hier wird allerdings jedes Jahr ein neuer Rekord aufgestellt, 2007 wurden 82 000 t Rohopium geerntet. Das ist weltweit mit Abstand Spitze. Interessanterweise wurde schon vor der Besatzung in den Ostprovinzen, an der Grenze zu Pakistan, Mohn angebaut und zu Heroin weiterverarbeitet ...

UZ: ...in Pakistan ...

Matin Baraki: ... aber auch in Afghanistan. Seit 2001 wird aber in allen 32 Provinzen des Landes Mohn angebaut. Die Besatzung hat den Mohnanbau forciert. Denn den Warlords wurde freie Hand gegeben. Somit wurde Afghanistan zum Opiumproduzenten Nr. 1 in der Welt - und damit auch von Heroin...
Die Heroinproduktion war in Afghanistan unbekannt. Bis die CIA die Mujaheddin seit 1979/80 gezielt angehalten hat, in den von ihnen kontrollierten Gebieten Mohn anbauen zu lassen. Das gewonnene Opium wurde in Pakistan zu Heroin weiterverarbeitet. In den afghanischen Flüchtlingslagern an der pakistanischen Grenze wurden Heroinlabors eingerichtet durch die CIA. Die Mujaheddin wurden dadurch schwerreich.

UZ: Ein Muster das wir auch aus anderen Krisengebieten kennen.

Matin Baraki: So ist es. Es ging um die Finanzierung der Islamisten.

UZ: Noch einmal zurück zur Petersberger Situation. Dort fehlten zahlreiche politische Gruppierungen. Die demokratische Volkspartei (DVPA), sozialdemokratische Gruppierungen, die Maoisten und andere. Welche Rolle spielen diese Gruppierungen heute?

Matin Baraki: Zunächst einmal müssen wir festhalten, dass die Petersberger Gruppierungen bis auf Karsai und den erwähnten Wirtschaftsminister inzwischen vom Besatzungsregime ausgeschaltet worden sind. Die haben höchstens noch repräsentative Posten. Haben jedoch nichts zu sagen.
Stattdessen kamen Americo- und Euro-Afghanen. Die Americo-Afghanen stellen zu 50 Prozent die Regierung, der Rest sind Euro-Afghanen und vier Warlords.

UZ: Die Exil-Afghanen sind aber doch wohl keine einheitliche Gruppe. Sie sind ja auch zu unterschiedlichen Zeiten emigriert. Die Daud-Anhänger sind emegiert, als die DVPA kam, die DVPA-Leute unter den Mujaheddin und die unter den Taliban.

Matin Baraki: Richtig, die Exil-Afghanen sind sehr heterogen. Wobei die Taliban nicht weit weg gegangen sind, sie sind in der Region geblieben. Ob die Taliban uns gefallen oder nicht. Sie tragen die Hauptlast des Kampfes gegen die Besatzung.

UZ: Sind die Taliban als Bündnispartner überhaupt ansprechbar?

Matin Baraki: Keiner hat sie bisher angesprochen. Nach meiner Einschätzung werden sie bereit sein, mit einigen Gruppierungen zusammenzuarbeiten. Aber nicht mit allen.

UZ: Immerhin waren sie es, die gegen den Mohnanbau angegangen sind.

Matin Baraki: Sie haben den Mohnanbau verboten, später aber wieder zugelassen, weil sie selbst davon profitiert haben.

UZ: Wird in Afghanistan selbst viel Rauschgift konsumiert?

Matin Baraki: Traditionell weniger - im Gegensatz zum Iran. Doch bei meinen Aufenthalten habe ich erfahren, dass der Rauschgiftkonsum - Opium und Heroin - ansteigt.

UZ: Nochmal zurück zu den anderen politischen Gruppierungen, DVPA, Sozialdemokraten ...

Matin Baraki: Die DVPA hat einen großen Fehler gemacht. Nachdem sie die Macht 1992 an die Mujaheddin übertragen hat, ist die Parteiführung einfach abgetaucht. Statt einen geordneten Parteitag einzuberufen, die Parteikrise zu diskutieren und gegebenenfalls eine andere Führung zu wählen, haben sie nichts getan. Dadurch sind die Parteistrukturen einfach zusammengebrochen.

UZ: Du selbst warst auch Mitglied der DVPA.

Matin Baraki: Ich war Mitglied. Zunächst in Afghanistan, schon als die Partei noch illegal war. Als ich 1974 nach Deutschland kam, haben wir auch hier politisch gearbeitet. Weil die Partei illegal war, haben wir uns andere Strukturen gegeben.
Als 1978 die Revolution kam, war ich mitten im Studium, so dass ich nicht zurückgegangen bin. Ich wollte mein Studium abschließen, um mit einer qualifizierten Ausbildung nach Hause zu gehen. Doch dann fing der Bürgerkrieg an. Heute gibt es Gruppierungen der DVPA, die hier und da unter verschiedenen Namen arbeiten.

Anders ist es mit Sozialdemokraten und Maoisten. Die maoistische Frauenorganisation RAWA ist ja jetzt von der Linkspartei entdeckt worden. Die RAWA hat zunächst Seite an Seite mit den Mujaheddin gegen die afghanische Revolution gekämpft. Anerkennen muss man, dass RAWA gute Arbeit unter Frauen leistet, Bildungskurse in den Flüchtlingslagern in Pakistan, aber auch im Iran errichtet etc. In Afghanistan haben sie auch Kurse im Untergrund gegeben. Das ist ihre Leistung, die man anerkennen muss. Aber die maoistischen Gruppen sind großenteils integriert im jetzigen System. Sie Arbeiten mit den Besatzer, wie z.B. der Kabuler Außenminister Ranging Dadfar Spantan.

Die Sozialdemokraten sind in der Regierung beteiligt. Der Finanzminister, ein Americo-Afghane, ist Sozialdemokrat. Es gibt auch paschtunische Sozialdemokraten, die in Europa aktiv sind. Allerdings weniger im Lande selbst. Doch die sozialdemokratischen Strukturen sind erhalten geblieben, weil die Führung existent war. Die wurde in Europa und auch den USA politisch und materiell unterstützt.

UZ: Fast alle genannten Gruppen kooperieren mit dem Besatzungsregime - außer den Taliban. Gibt es eine Chance, dass es nach einem Abzug der Nato keinen Bürgerkrieg gibt?

Matin Baraki: Das ist die Argumentation der Besatzungsmächte. Man kann aber geregelt abziehen und vorher die Bedingungen schaffen, dass es keinen Bürgerkrieg gibt.

Nach meiner Vorstellung sollte die Nato abziehen und eine Schutztruppe der nichtpaktgebundenen Staaten - Afghanistan ist da Mitglied - und der islamischen Staaten einziehen. Das sind Ländergruppen mit 118 bzw. 57 Mitgliedern. Aus diesen Ländern sollten die ausgesucht werden, die die Schutztruppe bilden. Die sollen dann für die Sicherheit sorgen und gegebenenfalls auch ein "robustes Mandat" erhalten.

In dieser Zeit sollten geregelte und kontrollierte Wahlen durchgeführt werden für eine Ratsversammlung auf nationaler Ebene. Die soll eine neue Regierung wählen. Da müssen Kommissionen gebildet werden, die eine Verfassung und die wichtigsten Gesetze, Parteiengesetze, Gewerkschaftsgesetze, Wahlgesetze usw. ausarbeiten.
Ich bin überzeugt, dass die Ergebnisse ganz anders aussehen werden, wie das was unter US-amerikanischer Herrschaft ausgearbeitet worden ist.

UZ: Die Basis für eine solche Entwicklung könnte nur der Aufbau einer funktionierenden Wirtschaft sein. Müsste es nicht eine Bodenreform und eine Industrialisierung geben? Wer bezahlt das?

Matin Baraki: Das sollen die Mächte tun, die das Land zerstört haben.

UZ: Und was ist mit den Kräften im Lande, wie den Mujaheddin, die Kabul zerstört haben? Sollen die straffrei ausgehen?

Matin Baraki: Das Problem ist, dass sie heute ein Faktor im politischen Leben sind. Wir können sie nicht umbringen. Wir müssen das akzeptieren.

UZ: Müsste man nicht wenigstens die Hauptkriegsverbrecher zur Verantwortung ziehen und gleichzeitig eine nationale Versöhnung einleiten?

Matin Baraki: Richtig. Ich plädiere für eine nationale Versöhnung, für eine Wahrheitskommission. Nach dem Muster von Südafrika. Diese Leute sollen sich vor dem Volk entschuldigen. Es gibt viel zu viel Verbrechen und viel zu viel Verbrecher. Wer das alles bestrafen will, provoziert den nächsten Bürgerkrieg. Warlords, Kriegsverbrecher und Heroinbarone sind Fakt und bekleiden hohen Posten in allen Bereichen der afghanischen Administration. Das ist ein Produkt des Bürgerkrieges mit massiver Unterstützung von außen - vor allem der USA und der Nato-Länder. Auch die Taliban sind ein Fakt. Aber alle diese Gruppierungen müssen wir in die zukünftige politische Struktur Afghanistans integrieren.

Das Gespräch führte Adi Reiher

* Dr. Matin Baraki ist Afghanistaqn-Experte und Lehrbeauftragter für Internationale Politik an verschiedenen Universitäten, u.a. auch an der Uni Kassel

Aus: unsere zeit, 18. Juli 2008



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