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Bomben auf Hochzeitsfeier

Schwerster Angriff der US-Truppen in Afghanistan auf Zivilisten seit Ende 2001

Bei einem US-Luftangriff in der ostafghanischen Provinz Nangarhar sind nach Erkenntnissen einer von Präsident Hamid Karsai eingesetzten Untersuchungskommission 47 Zivilisten getötet worden. Es war der opferreichste Angriff der Besatzer auf Unbewaffnete seit 2001.

Unter den Opfern des Angriffs auf eine Hochzeitsgesellschaft seien 39 Kinder und Frauen, sagte der Vorsitzende der Kommission, der Abgeordnete Burhanullah Schinwari, am Freitag (11. Juli). Die US-geführten Koalitionstruppen hatten nach dem Angriff am vergangenen Sonntag mitgeteilt, Ziel des Bombardements in Nangarhar seien radikalislamische Aufständische gewesen.

Sollten die Erkenntnisse der Kommission zutreffend sein, wäre es einer der schwersten Angriffe mit zivilen Opfern seit dem Sturz der Taliban Ende 2001. Schinwari betonte: »Das Untersuchungsteam hat herausgefunden, dass 47 Zivilisten bei diesem Luftangriff getötet wurden und dass es keine Beweise für eine Anwesenheit von Taliban- oder Qaida-Aufständischen in der Gegend gab.« Der Untersuchungsbericht sei Karsai noch nicht übergeben worden. Man werde dem Präsidenten die Forderung der Betroffenen nach Bestrafung der Schuldigen übermitteln.

Einen Tag vor dem Vorfall hätten Aufständische einen Posten der Sicherheitskräfte in der Region beschossen, sagte Schinwari. Die Koalitionstruppen hätten daraufhin »auf der Basis falscher Informationen« die Hochzeitsgesellschaft angegriffen. Schinwari sagte, er werde von Karsai verlangen, mit den ausländischen Truppen zu reden, um solche Angriffe auf Zivilisten zu beenden. Der Präsident hatte die internationalen Truppen bereits mehrfach aufgefordert, vorsichtiger vorzugehen.

Die zivilen Opfer bei Militäroperationen sorgen für wachsenden Unmut in der Bevölkerung. Die Zahl der Todesopfer in der Zivilbevölkerung ist im ersten Halbjahr mit 698 registrierten Fällen um fast zwei Drittel gegenüber dem Vorjahr gestiegen.

Nach einem Luftangriff in der südostafghanischen Provinz Paktia kam unterdessen ein Taliban-Kommandeur ums Leben. Ein Sprecher der Rebellen, Sabihullah Mudschahid, bestätigte am Freitag den Tod von Omar Hakkani. Die Internationale Schutztruppe ISAF teilte mit, bei einem Luftangriff in der südafghanischen Provinz Kandahar seien bereits am Mittwoch mehrere Anführer der Aufständischen getötet worden. Bei einem Anschlag in der Südostprovinz Paktika seien am Donnerstag zwei Soldaten gestorben.

In der südafghanischen Provinz Helmand wurden neun britische Soldaten beim Angriff eines Hubschraubers ihrer eigenen Streitkräfte verletzt. Die Besatzung habe die Bodentruppen für Taliban-Kämpfer gehalten, teilte das Verteidigungsministerium in London am Freitag mit.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Juli 2008


Terror aus der Luft

Von Rüdiger Göbel *

Wie jetzt bestätigt wurde, hat die US-Luftwaffe im Osten Afghanistans eine Hochzeitsgesellschaft bombardiert und fast 50 Menschen getötet. »Wir haben herausgefunden, daß 47 Zivilisten, mehrheitlich Frauen und Kinder, bei dem Luftangriff getötet und daß neun weitere Menschen verletzt wurden«, zitierte die Nachrichtenagentur AFP am Freitag (11. Juli) Burhanullah Schinwari, der die Untersuchungskommission zu dem Vorfall in der Provinz Nangarhar leitet. Den Behördenangaben zufolge hat es keinerlei Verbindung zwischen den Taliban oder Al-Qaida und den Opfern gegeben. Die US-geführten Besatzungstruppen hatten bestritten, bei dem Bombenangriff auf das Dorf Dorf Ka Chona am 6. Juli Zivilisten getötet zu haben. Sie behaupteten, bei den Opfern handle es sich um Aufständische.

Die britische Times zitierte Bezirksgouverneur Hajji Amishal Gul: »Der Angriff erfolgte um 6.30 Uhr morgens. Nur zwei der Toten sind Männer, die restlichen sind Frauen und Kinder. Die Braut ist unter den Toten.« AFP gibt Äußerungen von Überlebenden wieder, die ins Krankenhaus von Dschalalabad gebracht wurden: »Wir wurden bombardiert«, sagte ein Mann namens Kerate. »Ich wußte nicht, was geschehen war und wurde ohnmächtig. Als ich aufwachte, sah ich viele Verletzte und Tote.« Zum Zeitpunkt der US-Attacke habe eine Gruppe von etwa 70 Menschen, überwiegend Frauen, der örtlichen Tradition folgend die Braut zu ihrem Bräutigam geleitet. Zwei Tage vor dem Überfall auf die Hochzeitsgesellschaft waren bei einem US-Angriff in der afghanischen Provinz Nuristan 15 Zivilisten getötet worden, darunter zwei Ärzte und zwei Hebammen.

Wiederholt haben US-Truppen in den vergangenen Jahren in Afghanistan und im Irak Hochzeitsgesellschaften bombardiert und dabei zum Teil ganze Familien ausgelöscht. Am 1.Juli 2002 wurden in der afghanischen Provinz Urusgan 48 Zivilisten getötet und 117 verletzt. Am 19. Mai 2004 wurden beim Angriff amerikanischer Soldaten im Dorf Mogr Al Dib im Westen des Irak nahe der syrischen Grenze mehr als 40 Menschen ermordet. Fünf Monate später, am 8. Oktober 2004, wurden in Falludscha zwölf Iraker getötet und 16 weitere verletzt. In jedem dieser Fälle hat die US-Armee zunächst behauptet, Aufständische angegriffen zu haben, und bestritten, daß sich unter den Opfern Zivilisten befinden. In keinem der Fälle wurde das Agieren der Besatzungstruppen in den großen westlichen Medien als »Terror« bezeichnet.

Keine der im Bundestag vertretenen Parteien, die zur Zeit für die Ausweitung des Afghanistan-Mandats der Bundeswehr werben, legte am Freitag Wert darauf, auf die Meldung über das jüngste Massaker zu reagieren. Deutschland gehört mit 3500 Soldaten zu den größten Truppenstellern am Hindukusch. Zudem sind »Tornado«-Kampfjets der Bundeswehr im Einsatz. Die NATO-Zentrale in Brüssel hatte am Donnerstag mitgeteilt, sie prüfe auch den Einsatz von AWACS-Maschinen in Afghanistan (siehe auch jW vom 5./6. Juli). Mit ihrem Radar kann der Luftraum in einem Umkreis von bis zu 500 Kilometern überwacht werden – also auch der des Iran. Die Aufklärer der NATO sind im nordrhein-westfälischen Geilenkirchen bei Aachen stationiert, rund ein Drittel der 1600 Soldaten des Verbandes kommen von der Bundeswehr. Grünen-Wehrexperte Winfried Nachtwei erklärte in der Berliner Zeitung zu den NATO-Anforderuungen: »Man muß befürchten, daß wir Schritt für Schritt in eine Sache hineingeraten, deren Dimension wir nicht beurteilen können.«

** Aus: junge Welt, 12. Juli 2008


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