Afghanistan: Schwerwiegende und systematische Menschenrechtsverstöße
amnesty international legt Bericht über das Jahr 2001 vor. Auch Kritik an US-Kriegsführung
Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus dem Länderbericht Afghanistan, der im ai-Jahresbericht 2002 enthalten ist.
Berichtszeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2001
AFGHANISTAN
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Die Kämpfe zwischen den Taliban, die über 90 Prozent des Landes kontrollierten, und der gegnerischen
Nordallianz, die die von den Vereinten Nationen anerkannte Regierung von Burhanuddin Rabbani
unterstützte, dauerten den Großteil des Berichtsjahres über an. Am 9. September fiel Ahmed Massud, ein
wichtiger Führer der Nordallianz, einem Mordanschlag zum Opfer.
Nach den Anschlägen vom 11. September ging eine von den USA angeführte Koalition gegen Osama bin
Laden und seine al-Qaida-Kämpfer vor, die nach Ansicht der amerikanischen Regierung den Schutz der
Taliban genossen.
Am 7. Oktober starteten die USA und ihre Verbündeten Luftangriffe auf Kabul, Kandahar und Jalalabad. 13
Tage danach drangen sie mit Bodentruppen in Afghanistan ein. Die Luftangriffe erfolgten in Abstimmung
mit der Nordallianz, die mit westlicher Unterstützung bis zum 11. November einen Großteil des Nordens
Afghanistans eroberte und am 13. November ungeachtet allen auf Abwarten gerichteten internationalen
Drucks in Kabul einmarschierte.
Am 5. Dezember endete die Afghanistan-Konferenz der Vereinten Nationen in Bonn mit der
Unterzeichnung einer Vereinbarung über die Einrichtung einer Übergangsregierung, die am 22. Dezember
ihre Arbeit aufnehmen und innerhalb von sechs Monaten eine außerordentliche Loya Jirga (Große
Versammlung) vorbereiten sollte, der dann innerhalb von 18 Monaten eine verfassunggebende Loya Jirga
folgen würde. Bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung sollte mit Einschränkungen die von 1964
gelten.
Die afghanische Bevölkerung litt unter einer gravierenden Lebensmittelknappheit, die vor allem auf eine
dreijährige Dürre zurückzuführen war. Schätzungen des Welternährungsprogramms der Vereinten
Nationen zufolge waren vier bis fünf Millionen Afghanen vom Hungertod bedroht.
Frauen
Solange sie an der Macht waren, verschlechterten die Taliban durch Einschränkungen der
Bewegungsfreiheit und der Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten die Lage der Frauen im Land immer
weiter. Die verhängten Restriktionen wurden oft mit grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden
Strafen durchgesetzt. Berichten zufolge wurden Frauen, die ihre Wohnung ohne Begleitung eines nahen
männlichen Verwandten verließen oder gegen die rigide Kleiderordnung der Taliban verstießen, mit
Schlägen misshandelt.
Nach dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes herrschte Sorge um die Sicherheit der Familien von
Männern aus anderen Ländern, die an den bewaffneten Auseinandersetzungen in Afghanistan
teilgenommen hatten.
Die Vereinbarung von Bonn führte zur Ernennung zweier Ministerinnen und zur Anerkennung des Rechts
von Frauen auf Ausbildung und Arbeit.
Übergriffe gegen ethnische und religiöse Minderheiten
Im Verlauf militärischer Operationen der Taliban-Truppen in Zentralafghanistan wurden besonders
Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten zu Opfern von Massentötungen und anderen
Übergriffen, die sich gegen die Zivilbevölkerung richteten.
Anfang Januar sollen die Taliban nach der Rückeroberung des Bezirks Yakaolang mindestens 170 Männer
der ethnischen Minderheit der Hazara, deren Mitglieder sich meist zur schiitischen Glaubensrichtung des
Islam bekennen, festgenommen und getötet haben. Berichten zufolge handelte es sich dabei um eine
kollektive Strafmaßnahme gegen die örtliche Bevölkerung, die die Taliban der Zusammenarbeit mit den
Truppen der Nordallianz verdächtigten.
Ein Taliban-Erlass vom Januar drohte allen Moslems, die zum Judentum oder zum Christentum
konvertieren, sowie allen Nicht-Moslems, die einen Moslem zu bekehren versuchen, die Todesstrafe an.
Am 4. August erfolgte die Verhaftung von 16 afghanischen und acht ausländischen Mitarbeitern der
christlichen Hilfsorganisation Shelter Now International. Den Ausländern wurde vorgeworfen, für das
Christentum zu missionieren. Den 16 afghanischen Mitarbeitern der Hilfsorganisation gelang am 12.
November die Flucht aus dem Pul-e-Charkhi-Gefängnis in der Nähe von Kabul, ihre ausländischen
Kollegen wurden am 15. November nach einem Aufstand gegen die Herrschaft der Taliban freigelassen.
Folterungen und Misshandlungen
Berichten zufolge fand die Folter in den Haftanstalten der Taliban verbreitet Anwendung. Tausende
Menschen sollen dort ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festgehalten und viele von ihnen grausamer,
unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen worden sein. Es herrschten nach wie vor
harte Haftbedingungen, wobei vor allem die unzureichende Ernährung und mangelhafte ärztliche
Versorgung der Gefangenen sowie die Überfüllung der Gefängnisse Grund zur Besorgnis gaben. Nachdem
die Taliban die Herrschaft über mehrere größere Städte verloren hatten, gelang einer Reihe von
Gefangenen die Flucht aus den von ihnen kontrollierten Haftanstalten, andere wurden freigelassen.
Männern, deren Bart- oder Haarlänge gegen die Bestimmungen der Taliban verstieß, wurden - oft mit
Metallkabeln - schwere Schläge verabreicht. Mit ähnlichen Mitteln versuchte das Regime auch andere
Bestimmungen zur Regulierung des gesellschaftlichen Lebens durchzusetzen, zum Beispiel das Verbot,
Karten zu spielen oder Musik zu hören.
Unfaire Gerichtsverfahren, Todesstrafe und andere grausame Strafen
Unter der Taliban-Herrschaft wurden von Scharia-Gerichten, deren Verfahren gegen internationale
Standards der Fairness verstießen, grausame, unmenschliche oder erniedrigende Strafen verhängt. Auch
die Todesstrafe fand weiterhin Anwendung. Im Berichtsjahr wurden mindestens 51 Menschen zumeist
öffentlich hingerichtet. An mindestens 30 Personen, darunter 20 Frauen, wurde die Prügelstrafe vollzogen,
größtenteils wegen angeblichen Ehebruchs. Mindestens drei Menschen wurden wegen Diebstahls mit der
Amputation von Gliedmaßen bestraft, die tatsächliche Zahl könnte allerdings wesentlich höher gelegen
haben. Die Vollstreckung der genannten Strafen fand häufig in der Öffentlichkeit statt.
Abdul Haq, ein ehemaliges Mitglied der Mudschaheddin, wurde am 26. Oktober im Süden von Kabul von
Taliban-Truppen gefangen genommen, wo er Berichten zufolge unterwegs war, um für die Rückkehr des
im Exil lebenden Königs zu werben. Noch am selben Tag wurde er ohne förmliches Gerichtsverfahren
hingerichtet. Das gleiche Schicksal erlitt sein Vertreter Sayed Hamid.
Kindersoldaten
Sowohl die Taliban als auch die Nordallianz waren für die zum Teil zwangsweise Rekrutierung von Kindern
verantwortlich.
Ein Angehöriger der Minderheit der Hazara aus Kandahar berichtete, sein 15-jähriger Sohn sei im
November an der Grenze nach Pakistan von Taliban zurückgewiesen und aufgefordert worden, sich den
Taliban-Truppen anzuschließen. Über den weiteren Verbleib des Jungen war am Ende des Berichtsjahres
nichts bekannt.
Mögliche Verstöße der Truppen der USA und ihrer Verbündeten gegen das humanitäre
Völkerrecht
Wie viele afghanische Zivilisten bei den Luftangriffen der USA und ihrer Verbündeten ihr Leben, ihr Haus
oder ihren Besitz verloren, ist nicht bekannt. Vertreter der US-Regierung räumten zwar ein, dass
versehentlich eine Reihe von zivilen Zielen getroffen worden seien, es wurden aber keine Informationen
darüber veröffentlicht, welche Sicherheitsmaßnahmen man ergriffen hat, um Opfer unter der
Zivilbevölkerung zu vermeiden. Bis zum Jahresende konnte nicht durch neutrale Beobachter überprüft
werden, unter welchen Umständen bei den Luftangriffen Zivilisten ums Leben gekommen waren, doch
Berichte von Vertretern der Vereinten Nationen und verschiedener Hilfsorganisationen sowie von
Flüchtlingen gaben Anlass zu ernsten Befürchtungen. amnesty international ersuchte um Informationen
über bestimmte Angriffe, bei denen Zivilisten getötet oder zivile Objekte beschädigt worden waren, und
verlangte eine umgehende und umfassende Untersuchung aller möglichen Verstöße gegen Bestimmungen
des humanitären Völkerrechts. Eine offizielle Antwort von amerikanischer Seite ging bis zum Ende des
Berichtsjahres nicht ein. Außerdem forderte amnesty international ein Moratorium für die Verwendung von
Splitterbomben, die aufgrund ihres breiten Streubereichs mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen das Verbot
von wahllos gegen die Zivilbevölkerung gerichteten militärischen Angriffen verstoßen.
Am 8. Oktober kamen in Kabul vier afghanische Mitarbeiter der im Auftrag der Vereinten Nationen tätigen
Minenräumorganisation Afghan Technical Consultants ums Leben, als das Gebäude der Organisation im
Verlauf der amerikanischen Luftangriffe auf Kabul getroffen wurde und einstürzte.
Am 10. Oktober bombardierten amerikanische Flugzeuge einen offensichtlich zivilen Rundfunksender in
der Nähe von Kabul. Auf Nachfrage erklärte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Rundfunk und
Fernsehen würden von der Taliban-Führung und von al-Qaida für ihre Zwecke benutzt und seien deshalb
durchaus sinnvolle Ziele.
Ein in zwei Wellen durchgeführter US-Luftangriff auf das Dorf Qala-i-Niazi in der Nähe der Stadt Gardez im
Osten Afghanistans am 29. Dezember forderte Berichten zufolge zahlreiche Opfer unter der
Zivilbevölkerung. Ein Sprecher der Vereinten Nationen erklärte, Familienangehörige hätten 52 Tote,
darunter 25 Kinder, identifiziert. Während ein US-Militärsprecher behauptete, in dem Dorf hätten sich
Mitglieder der Taliban-Führung sowie der Führung von al-Qaida aufgehalten, gab es nach Angaben eines
Sprechers der Vereinten Nationen keinerlei Hinweis darauf, dass sich zum Zeitpunkt des Luftangriffs
Taliban- oder al-Qaida-Kämpfer im Dorf befunden hätten. In zwei der getroffenen Häuser wurde alte
Munition gelagert, bei drei anderen handelte es sich um Wohnhäuser. Die Munitionslager waren Berichten
zufolge unverschlossen und unbewacht. Ob in diesem Fall andere Maßnahmen als ein Luftangriff in
Betracht gezogen worden sind, blieb unklar.
Die Behandlung und die Haftbedingungen Tausender von der Nordallianz festgehaltener Taliban- und
al-Qaida-Kämpfer, die verwundet worden waren oder sich ergeben hatten, gaben Anlass zu ernster
Besorgnis. Berichten zufolge wurden einige Kämpfer, vor allem Nicht-Afghanen, die sich ergeben hatten
oder gefangen genommen beziehungsweise kampfunfähig gemacht worden waren, im Schnellverfahren
hingerichtet. Auch die Behandlung der auf dem US-Kriegsschiff USS Bataan sowie in Haftanstalten in
Afghanistan gefangen gehaltenen Taliban- und al-Qaida-Kämpfer stieß auf Bedenken.
Im November kamen Berichten zufolge während der Belagerung der Sultan-Raziya-Schule in
Mazar-i-Sharif durch die Nordallianz Hunderte von Taliban-Kämpfern unter ungeklärten Umständen zu
Tode. Es hieß, einige der Taliban, die in der Schule Zuflucht gesucht hatten, seien erschossen worden, als
sie sich zu ergeben versuchten. In der Folge sollen wiederum Taliban-Kämpfer unbewaffnete religiöse
Führer erschossen haben, die sie zur Kapitulation bewegen wollten.
Im November wurden Berichten zufolge bei bewaffneten Zusammenstößen in der Festungsanlage
Qala-i-Jhangi in der Nähe der Stadt Mazar-i-Sharif, wo gefangene Taliban festgehalten wurden, Hunderte
von Taliban-Kämpfern getötet. Unter nach wie vor ungeklärten Umständen kam es in der Festungsanlage
zu Gefechten zwischen den Truppen der Nordallianz und den gefangenen Taliban-Kämpfern, woraufhin
US-Flugzeuge, unterstützt von Artillerieangriffen der Nordallianz, das Gebiet bombardierten. Die
Nordallianz sowie die britische und die amerikanische Regierung erklärten, man habe sich beim Einsatz
militärischer Gewalt auf das zur Unterdrückung einer Gefangenenrevolte erforderliche Maß beschränkt.
Angesichts von Berichten, denen zufolge die Leichen einiger Gefangener mit gefesselten Händen
aufgefunden worden waren, forderte amnesty international eine Untersuchung der Umstände des
Ausbruchs der Gewaltakte sowie der Angemessenheit der Reaktion.
Im Dezember teilte General Jurabek, der Leiter eines Gefängnisses im nordafghanischen Shibarghan,
Journalisten mit, 43 Gefangene seien ihren Verletzungen erlegen oder erstickt, als sie in Frachtcontainern
von Kunduz nach Shibarghan verbracht wurden. Andere Quellen sprachen von einer wesentlich höheren
Zahl von Todesopfern.
Flüchtlinge und intern Vertriebene
Schätzungen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge hielten sich vor
Beginn der amerikanisch-britischen Luftangriffe auf Afghanistan 3,5 Millionen afghanische Flüchtlinge im
Iran und in Pakistan auf. Seit Ende 2000 waren die pakistanische und die tadschikische Grenze für
afghanische Flüchtlinge praktisch geschlossen. Auch der Iran ergriff in diesem Zeitraum Maßnahmen, um
den Zustrom von Flüchtlingen einzudämmen.
Im gesamten Berichtsjahr standen Befürchtungen im Raum, die pakistanische Regierung plane die
Zwangsrückführung von Flüchtlingen nach Afghanistan. Tausende von afghanischen Männern, die in
Pakistan lebten, wurden Berichten zufolge von der Polizei in Haft genommen; viele von ihnen sollen
eingeschüchtert, mit Schlägen misshandelt und ohne Zugang zu Rechtsbehelfen zwangsweise rückgeführt
worden sein (siehe Pakistan-Kapitel). Im August vereinbarten die pakistanische Regierung und der UNHCR
ein gemeinsames Registrierungsprogramm für afghanische Flüchtlinge in den Lagern Jalozai und Nasir
Bagh bei Peshawar. Nach dem 11. September wurde die Registrierung afghanischer Flüchtlinge
ausgesetzt.
Etwa 10 000 Flüchtlinge harrten Berichten zufolge ohne Unterkünfte, Nahrungsmittel und Trinkwasser auf
Inseln im Pandsch aus, dem Grenzfluss zu Tadschikistan.
Nach den Ereignissen vom 11. September kündigten alle Nachbarländer in Erwartung eines Massenexodus
die Schließung ihrer gemeinsamen Grenze mit Afghanistan an. Am 8. Oktober erklärte die pakistanische
Regierung, man werde nur noch Kranke und Gebrechliche ins Land lassen. Ernste Bedenken richteten sich
gegen das Vorgehen der pakistanischen Grenzwachen, die Familien trennten und viele der Männer zur
Rückkehr nach Afghanistan veranlassten. Obwohl die Grenze offiziell geschlossen war, gelangten auch
nach dem 11. September noch etwa 200 000 afghanische Flüchtlinge nach Pakistan, darunter viele, die
vor erlittenen beziehungsweise befürchteten Auswirkungen der amerikanisch-britischen Luftangriffe
Schutz suchten. Da die Neuankömmlinge in den vorhandenen Flüchtlingslagern keine ausreichende Hilfe
erhielten, verlegte der UNHCR viele von ihnen in acht neu errichtete Lager entlang der afghanischen
Grenze, wo ihre Sicherheit nicht gewährleistet war.
Bereits vor Beginn der amerikanisch-britischen Luftangriffe gab es in Afghanistan infolge der anhaltenden
Dürre und des bewaffneten Konflikts mindestens 1,1 Millionen intern vertriebene Menschen. Nach dem 11.
September wurden die internationalen Hilfsprogramme stark eingeschränkt, während gleichzeitig die Zahl
der Binnenflüchtlinge weiter anstieg.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind in einem Lager für Binnenflüchtlinge in der Nähe von
Kunduz im November und Dezember innerhalb von vier Wochen 164 Menschen, meist Kinder, erfroren
und verhungert.
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