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Der nahe und der ferne Feind

Wie eng sind al-Kaida und die afghanischen Taliban verbandelt? Und was bedeutet der Tod von Usama Bin Laden für sie?

VON THOMAS RUTTIG *

«Bin Laden spielte vorwiegend noch eine symbolische Rolle», schrieb der Afghanistanexperte Gilles Dorronsoro von der Carnegie-Endowment- Denkfabrik in Washington am Tag, als Usama Bin Laden starb. Die Liquidierung des Al-Kaida-Führers werde die dezentralisierte Organisation kaum beeinflussen. Ayman al- Sawahiri, der zweite Mann von al-Kaida, wird wohl Bin Laden ersetzen. Eine interne Krise wie die der pakistanischen Taliban nach dem Tod ihres Anführers Baitullah Mehsud im Sommer 2009 ist laut Dorronsoro unwahrscheinlich.

Aber kann man im Zusammenhang mit al-Kaida überhaupt noch von einer Organisation sprechen? Inzwischen scheint es doch, als ob diese gar nicht mehr wirklich existiere, ausser in den Köpfen zunehmend erfolgloser Möchtegernterroristen wie dem «Schuhbomber » oder der deutschen Sauerland-Gruppe. Und in den Analysen der Geheimdienste, die ja davon leben. Wir sollten nicht übersehen, dass das, was US-Analysten «die Al-Kaida-Zentrale» nennen (bis zum 1. Mai Bin Laden, Sawahiri und ein paar andere Männer), im internationalen dschihadistischen Terrorismus wahrscheinlich kaum noch eine Rolle spielt.

Personal aus Folterkellern

Von Einzelkämpfern angesehen, besteht der dschihadistische Terrorismus heute aus zwei Komponenten: erstens aus lokalen Terrorgruppen wie im Maghreb oder auf der Arabischen Halbinsel, die zwar durch die «Zentrale» ins Netz aufgenommen wurden, zu deren Aktivitäten diese aber kaum etwas beiträgt. Geld besorgen sich diese Gruppen durch Entführungen, Spendensammlungen und sicher auch durch Schutzgelderpressung von manchen arabischen Regimen. Das Personal wurde in den Folterkellern der alten Regierungen in Ägypten, Tunesien und Libyen rekrutiert.

Zweitens gibt es islamistische Gruppen wie die Taliban in Afghanistan oder die Lashkar- e Taiba in Pakistan, die ihre Existenz oder ihren Aufstieg dem pakistanischen Geheimdienst ISI verdanken, der sie als Stellvertreter- Dschihadis gegen Indien brauchte. Die Taliban hielten sich vor und nach dem 11. September 2001 organisatorisch von al-Kaida fern. Weder traten sie der «Weltweiten Islamischen Front für den Dschihad gegen Juden und Kreuzfahrer » bei, die Bin Laden 1998 mit Gruppen aus Bangladesch, Ägypten und Pakistan gründete, noch der al-Kaida nach den Angriffen auf die Türme in New York.

Will man die Folgen des Todes Bin Ladens für den Krieg in Afghanistan abschätzen, ist eine genaue, ideologiefreie Analyse der jeweiligen Ziele und Strategien von al-Kaida und den afghanischen Taliban nötig.

Fokus auf Afghanistan

«Wir sind eine Bewegung, und al-Kaida ist eine andere», sagte Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid schon im Mai 2009. «Sie sind global, wir operieren nur in der Region»!– mit dem Ziel, das 2001 im Zuge der US-geführten Militärinvasion gestürzte Islamische Emirat Afghanistan wieder aufzurichten. In der Tat: Unter den Terroristen des 11. September waren keine Afghanen. Auch danach gibt es keinen einzigen Fall, in dem ein afghanischer Talib sich an Terrorakten ausserhalb Afghanistans beteiligt hätte. Es gibt keine Afghanen in der Al-Kaida- Führung und keine Araber in der Kommandostruktur der afghanischen Taliban. In dschihadistischen Begriffen: Al-Kaida konzentriert sich auf den «fernen Feind», die USA und ihre Verbündeten, auf dessen eigenem Territorium, während die Taliban den «nahen Feind» in ihrem eigenen Land bekämpfen! – die Kabuler Regierung und was sie als Okkupationstruppen betrachten. Weder die USA noch die EU, Britannien oder die Uno haben die Taliban je als terroristische Organisation aufgelistet.

Die symbiotischen Beziehungen zwischen al-Kaida und den Taliban unmittelbar nach 2001, als beide von den US-Schlägen extrem geschwächt waren, existieren in dieser Form heute nicht mehr. Die Taliban sind im Krieg gegen die afghanische Regierung und die ausländischen Invasoren allein handlungsfähig: Sie haben genug eigene Kampferfahrung, kontrollieren oder beeinflussen weite Teile Afghanistans, haben Strukturen einer Parallelregierung aufgebaut und erheben Steuern! – auch auf westlich gesponserte Projekte und die milliardenschweren Militärkontrakte. Der Tod Bin Ladens kann ihnen egal sein.

Der mangelnde Enthusiasmus der afghanischen Taliban für die globale Dschihad- Agenda al-Kaidas ist taktisch klug. Angesichts des angekündigten Abzugs der westlichen Truppen aus Afghanistan bis 2014 wollen sie sich nicht dauerhaft von der internationalen Gemeinschaft isolieren. Schliesslich könnten sie ja wieder an die Macht kommen.

* Thomas Ruttig ist Ko-Direktor des unabhängigen Afghanistan Analysts Network mit Sitz in Kabul und Berlin.

Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 5. Mai 2011



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