Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

US-Abzugsankündigung mit Folgen – erneuter Strategiewechsel in Afghanistan

Ein Beitrag von Andreas Dawidzinski in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien"

Andreas Flocken (Moderator der Sendung):
Wie geht es weiter am Hindukusch? Die Weichen für einen Abzug der ausländischen Soldaten sind inzwischen gestellt. Die Afghanen sollen demnächst selbst für ihre Sicherheit sorgen. In der vergangenen Woche hat Präsident Obama angekündigt, 33.000 der rund 100.000 US-Soldaten abzuziehen. Damit verbunden ist aber auch ein erneuter Strategiewechsel. Einzelheiten von Andreas Dawidzinski:


Manuskript Andreas Dawidzinski

Anfang des Jahres besuchte Vizepräsident Biden US-Truppen in der ostafghanischen Provinz Wardak. In der Region verüben Aufständische immer wieder Anschläge. Als dem Vizepräsidenten erzählt wurde, in der Nähe eines Dorfes werde demnächst ein Brunnen gebohrt, reagierte Biden mit Unverständnis. „Warum brauchen die einen Brunnen?“, soll er nach einem Bericht der NEW YORK TIMES gefragt haben.

Der Hintergrund: Für Joe Biden ist Nation Building, also der Aufbau Afghanistans, nicht eine Aufgabe der US-Streitkräfte. Ihr Hauptziel müsse vielmehr sein, das Terrornetzwerk Al Qaida zu zerschlagen.

Als Barack Obama vor anderthalb Jahren eine Aufstockung der Truppen in Afghanistan ankündigte, war Biden dagegen. Er plädierte stattdessen für eine kleine militärische Kerntruppe, die in erster Linie Jagd auf Terroristen und Aufständische machen sollte. Counterterrorism nennt man diese Strategie.

Damals konnte sich Biden nicht durchsetzen. Doch nach der Ankündigung von Obama in der vergangenen Woche, bis Sommer nächsten Jahres mehr als 30.000 Soldaten abzuziehen, bekommen die Vorstellungen des US-Vizepräsidenten eine neue Aktualität. Die USA stehen vor einem erneuten Strategie-Wechsel.

Denn Obama will das US-Engagement am Hindukusch reduzieren. Zum einen, weil er diesen Schritt damals angekündigt hatte, zum anderen, weil in den USA im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen anstehen. Die Bevölkerung aber ist kriegsmüde. Laut Umfragen ist inzwischen die Mehrheit der Amerikaner für einen schnellen Abzug der US-Truppen. Mit seiner Ankündigung hat Obama in der vergangenen Woche auf die Bevölkerung gehört. Obama kündigte eine Kehrtwende an, nicht nur in Afghanistan:

O-Ton Obama (overvoice)
„Im vergangenen Jahrzehnt haben wir in Zeiten steigender Verschuldung und wirtschaftlicher Schwierigkeiten eine Billion Dollar für Kriege ausgegeben. Jetzt müssen wir in die größte Ressource der Vereinigten Staaten investieren – in unsere Bevölkerung. .. Amerika! Es ist Zeit, dass wir uns auf den Aufbau unserer Nation konzentrieren.“

Über 1.500 tote Soldaten haben die USA in dem knapp 10 Jahre dauernden Afghanistan-Konflikt zu beklagen. Es ist der bisher längste Krieg der USA. Die Kosten betragen jeden Monat 10 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: Der Bundeswehr-Einsatz am Hindukusch kostet den deutschen Steuerzahler rund eine Milliarde Euro – im Jahr.

Durch die Kommandoaktion gegen Al Qaida-Chef Osama bin Laden ist das Ansehen Obamas in der Bevölkerung als entscheidungsfreudiger Präsident deutlich gestiegen. Zugleich nimmt der Rückhalt für den Afghanistan-Einsatz aber ab. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund verkündete Obama, die wesentlichen Kriegsziele der USA am Hindukusch seien inzwischen erreicht:

O-Ton Obama (overvoice)
„In Afghanistan haben wir den Taliban ernsthafte Verluste zugefügt und eine Reihe ihrer Hochburgen eingenommen. Neben unserer Truppenaufstockung haben auch unsere Verbündeten ihre Anstrengungen verstärkt, was zur Stabilisierung größerer Landesteile beigetragen hat. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind um mehr als 100.000 Soldaten angewachsen und in einigen Provinzen und Gemeinden haben wir bereits mit der Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit an die afghanische Bevölkerung begonnen.“

Der Befehlshaber der ISAF-Truppe muss sich also umstellen – künftig mit weniger Truppen auskommen. Das Pentagon, die US-Militärführung, aber auch das State Department waren für eine nur geringe und eher symbolische Reduzierung. Den Abzug von bis zu 5.000 Soldaten hielt man für angemessen. Doch der Präsident hat anders entschieden. Besonders kritisiert wird, dass die rund 33.000 US-Soldaten bis zum Sommer 2012 abgezogen werden sollen. Der Sommer - eine Jahreszeit, in der die Aufständischen besonders aktiv sind.

Hinzu kommt, dass nach der Obama-Ankündigung auch andere Verbündete einen Teil ihrer Truppen abziehen werden. Frankreich, Spanien und Belgien haben entsprechende Schritte bereits angekündigt. Und auch Deutschland wird folgen. Außenminister Westerwelle:

O-Ton Westerwelle
„In diesem Jahr wollen nicht nur die Amerikaner, sondern auch wir, wir Deutsche, erstmalig das Bundeswehrkontingent reduzieren. Das heißt, Schritt für Schritt wird jetzt eine Politik umgesetzt, in Richtung politischer Lösung. Eine militärische Lösung wird es nämlich nicht geben.“

Mit der Reduzierung der Truppen droht allerdings dem von den USA und der NATO propagierten Konzept der Aufstandsbekämpfung das Aus. Counterinsurgency heißt der Ansatz, der von ISAF-Befehlshaber Petraeus im Irak entwickelt worden ist. „Clear, hold and build“ lauten die Schlagworte, mit denen die Herzen und Köpfe der Bevölkerung gewonnen werden sollen: In einem Gebiet werden zunächst die Aufständischen ausgeschaltet oder vertrieben. Danach sorgen Sicherheitskräfte dauerhaft für ein stabiles und sicheres Umfeld. Und schließlich wird für die Bevölkerung eine funktionierende Infrastruktur errichtet.

Doch es gibt Zweifel. Nicht nur der Afghanistan-Experte Vali Nasr glaubt, dass das Aufstandsbekämpfungskonzept gescheitert ist. Der ehemalige Berater des US-Sondergesandten Richard Holbrooke im US-Fernsehsender MSNBC:

Nasr (overvoice)
„Nach den Worten des Präsidenten ergibt sich ganz klar, dass für ihn die Aufstandsbekämpfung nicht mehr funktioniert. Das Konzept der Aufstandsbekämpfung, das im Irak erfolgreich war, funktioniert nicht in Afghanistan. Und deshalb zieht der Präsident die 30.000 Soldaten ab. Es werden künftig nur noch Spezialkräfte und Soldaten zur Terrorismusbekämpfung im Land bleiben.“

Auch der zivile Wiederaufbau in ehemals von den Taliban kontrollierten Gebieten ist nach einem Report des US-Senats alles andere als effektiv. Die Studie empfiehlt, vorerst keine größeren Summen in Konfliktregionen am Hindukusch zu investieren, in der Hoffnung, Ortschaften zu stabilisieren. Dabei ist der Wiederaufbau ein Kernelement der Counterinsurgency, also des Aufstandsbekämpfungskonzepts. Die NATO spricht in diesem Zusammenhang gerne von vernetzter Sicherheit oder vom Comprehensive Approach. Militärische und zivile Stellen sollen eng zusammenwirken, um so den Nährboden für die Aufständischen auszutrocknen. Ein schwieriges Unterfangen, zumal afghanische Behörden immer noch unzuverlässig und oftmals korrupt sind.

Trotz dieser Kritik: Für die ISAF-Führung und die US-Militärs ist das Counterinsurgency-Konzept aber durchaus erfolgreich. Militärisch habe man die Taliban zurückgedrängt. Der bisherige ISAF-Sprecher, der deutsche General Josef Blotz:

O-Ton Blotz
„Weil sie es mit uns offenbar nicht mehr aufnehmen können, das kann man deutlich sehen, wechseln sie ihre Ziele. Und so kommt die Zahl von 85 Prozent der zivilen Opfer zustande, für die die Taliban verantwortlich sind.“

Eine einseitige Betrachtungsweise. Denn die Aufständischen sind keineswegs geschwächt. Das hat in dieser Woche nicht zuletzt der Überfall auf das gut gesicherte Hotel Intercontinental in Kabul deutlich gemacht. Hochrangige Regierungsvertreter hatten sich dort versammelt, um über die Übergabe der Sicherheitsverantwortung zu beraten. Die Taliban haben lediglich ihre Vorgehensweise geändert. Inzwischen nehmen sie auch Führungskräfte ins Visier. Vor vier Wochen wurde in Talokan im Norden des Landes auf ein hochrangiges Sicherheitstreffen ein Bombenanschlag verübt. Mehrere Personen starben, unter ihnen der Polizeichef der Region und ein Bundeswehr-Soldat. Der Befehlshaber der Nordregion, General Kneip, wurde verletzt.

Die Taliban in der Defensive? Sie sind weiter präsent - für die ISAF und die afghanischen Sicherheitskräfte allerdings nicht sichtbar. Wenige Tage nach dem Anschlag von Talokan wurde von den Aufständischen ein deutscher Marder-Schützenpanzer in die Luft gesprengt. Der rund 40 Tonnen schwere Stahlkoloss war für den Afghanistan-Einsatz durch bauliche Veränderungen gegen Minenexplosionen extra besonders geschützt. Ohne Erfolg. Die gewaltige Detonation riss einen riesigen Krater in die Erde: vier Meter tief, und sieben Mal elf Meter groß. Der Kraftfahrer starb in dem zerfetzten Kettenfahrzeug. Die anderen fünf Besatzungsmitglieder wurden verletzt, kamen aber wie durch ein Wunder mit dem Leben davon.

Nach Presseberichten soll der afghanische Geheimdienst NDS von dem Anschlag auf den Schützenpanzer der Bundeswehr gewusst haben. Doch man habe die Deutschen nicht gewarnt. Das Verteidigungsministerium weist solche Vorwürfe zurück.

Die Zusammenarbeit zwischen den ISAF-Soldaten und den afghanischen Sicherheitskräften ist belastet. Das gilt auch für die Ausbildung der afghanischen Soldaten und das sogenannte Partnering. Die Befürchtung: Eingeschleuste Aufständische könnten Anschläge auf ISAF-Ausbilder verüben. Anfang des Jahres hatte ein afghanischer Soldat in einem deutschen Camp wild um sich geschossen. Drei Bundeswehr-Soldaten starben.

Durch nächtliche Kommandoaktionen, vor allem durch US-Spezialkräfte sind zwar viele Führer der Aufständischen festgenommen oder getötet worden. Opfer solcher Unternehmen können aber auch schnell Unschuldige werden. Die Folge: Die Bevölkerung wendet sich gegen die ISAF-Truppe. Nach einer solchen Kommandoaktion war es vor einigen Wochen im nordafghanischen Talokan zu Demonstrationen gegen die ausländischen Truppen gekommen. Bundeswehr-Soldaten sahen sich gezwungen, auf Demonstranten zu schießen. Die Stimmung in der Ortschaft ist inzwischen gekippt. Das Ziel des Counterinsurgency-Konzepts, die Herzen und Köpfe der Einwohner zu gewinnen, ist in Talokan gescheitert. Auch in anderen Regionen ist dieses Konzept nicht aufgegangen.

Die Afghanen sollen ab 2014 selbst für ihre Sicherheit sorgen. Mehr als 100.000 afghanische Soldaten und Polizisten sind dafür inzwischen ausgebildet worden. Nach Abzug der ausländischen Truppen sollen es einmal über 200.000 werden. Doch der Unterhalt dieser Sicherheitskräfte kostet viel Geld. Geld, das die Regierung in Kabul nicht hat. Der Afghanistan-Kenner Vali Nasr:

O-Ton Nasr (overvoice)
„Finanziell ist die Regierung dazu nicht in der Lage. Kurz: Afghanistan kann den geplanten Umfang der Sicherheitskräfte, mit dem die Sicherheit des Landes garantiert werden soll, nicht bezahlen. Insofern müssen wir die afghanischen Streitkräfte unbegrenzt finanziell unterstützen, um für Sicherheit zu sorgen.“

Doch auf Dauer werden die USA nicht Willens sein, nach einem Abzug weiterhin Milliarden von Dollar für afghanische Sicherheitskräfte zu Verfügung zu stellen. Die NATO-Bündnispartner noch weniger.

Außerdem gibt es erhebliche Zweifel, ob die afghanischen Sicherheitskräfte ohne Unterstützung der ISAF-Truppe für Stabilität im Lande sorgen können - trotz der regelmäßigen NATO-Erfolgsmeldungen. Afghanistan-Kenner, Vali Nasr:

Nasr (overvoice)
„Das Land hat noch gar nicht so lange Streitkräfte. Und Afghanistan ist nicht der Irak. Wenn die USA die Taliban nicht besiegen können, und wenn das Aufstandsbekämpfungskonzept es mit 30.000 zusätzlichen Soldaten nicht schafft, den Taliban das Rückgrat zu brechen, dann kann ich nicht sehen, wie das die ganz neuen, gerade aufgebauten afghanische Sicherheitskräfte schaffen können.“

Das Konzept zur Aufstandsbekämpfung hat in Afghanistan bisher nicht zum erhofften Erfolg geführt. Mit militärischen Mitteln allein kann der Konflikt aber nicht beendet werden. Die USA streben daher inzwischen eine politische Lösung an - unter Einbeziehung der Aufständischen. Seit einigen Wochen werden erste Gespräche mit den Taliban geführt. Glaubt man Außenministerin Clinton, bleibt den Aufständischen auch gar nichts anderes übrig:

O-Ton Clinton (overvoice)
„Mit einem toten Bin Laden und einer restlichen Al Qaida-Führung unter enormen Druck können die Taliban der Wahl nicht entfliehen, wollen sie Teil der afghanischen Zukunft sein, oder unerbittlich angegriffen werden. Mit ihnen zu reden, ist kein angenehmes Geschäft, aber ein notwendiges.“

Trotz der Gespräche - die Kommandoaktionen gegen die Taliban gehen weiter. Instrumente des Counterterrorism-Ansatzes. Mehrere hundert Führer der Aufständischen sind bei solchen Aktionen gefangenen genommen oder getötet worden. An ihre Stelle sind aber neue und vor allem junge Taliban getreten. Doch diese sind anders als ihre Vorgänger nicht kompromissbereit, sagt der pakistanische Afghanistan-Experte Ahmed Raschid:

O-Ton Raschid (overvoice)
„Die sind sehr viel radikalisierter. Viele waren in Koranschulen in Pakistan, viele haben enge Verbindungen zu Al Qaida. Einige waren sogar in Guantanamo, die sich den Taliban jetzt wieder angeschlossen haben. Dies ist eine Generation, die Kompromisse und Verhandlungen ganz und gar nicht als den Weg nach vorne ansieht.“

Ob die Bemühungen um eine politische Regelung letztlich erfolgreich sein werden, ist daher ungewiss. Sicher ist allerdings, dass trotz der US-Abzugsankündigung in den nächsten Jahren weiterhin ausländische Soldaten am Hindukusch stehen werden. Der bisherige ISAF-Sprecher Josef Blotz:

O-Ton Blotz
„Auch nach 2014 wird es ein - wenn auch deutlich kleineres - militärisches Beratungselement, vor allem der NATO, hier in Afghanistan geben müssen.“

Geben wird es aber auch Spezialkräfte, die Jagd auf Terroristen machen werden. Spätestens dann konzentrieren sich die USA auf Counterterrorism und nicht mehr auf Counterinsurgency - Terrorismusbekämpfung statt Aufstandsbekämpfung. Bei diesem erneuten Strategiewechsel wird General David Petraeus eine wichtige Rolle spielen. Der Vater des Counterinsurgency-Ansatzes wird in den nächsten Wochen das Kommando als ISAF-Befehlshaber abgeben. Afghanistan wird den Offizier jedoch weiter beschäftigen – als Chef des Geheimdienstes CIA. Und der bisherige CIA-Chef Panetta ist jetzt Verteidigungsminister. Ein Signal, dass Militär und Geheimdienste künftig noch enger im Kampf gegen den Terror zusammenarbeiten werden.

* Aus: NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien", 2. Juli 2011; www.ndrinfo.de


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zurück zur Homepage