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Sollen die Soldaten aus Afghanistan abgezogen werden?

"Absicherung im Rahmen des ISAF-Mandats ist notwendig" - "In Afghanistan wird ein Krieg um Interessen geführt" - Zwei Interviews

Das jüngste Attentat in Kunduz, bei dem u.a. drei Bundeswehrsoldaten getötet wurden, hat breite Diskussionen über den weiteren Verbleib der Truppen ausgelöst. In der Bevölkerung scheint es, wenn man Umfragen Glauben schenkt - eine große Mehrheit für den Abzug der NATO-Truppen zu geben. Für Verwirrung sorgt indessen auch die Tatsache, dass es sich in Afghanistan um mindestens zwei Mandate handelt: das Mandat "Operation Enduring Freedom" und das ISAF-Mandat. Können beide Mandate, wie es der erste Interviewpartner tut, tatsächlich eindeutig voneinander getrennt werden?
Im Folgenden dokumentieren wir Interviews mit Niels Annen, SPD-Bundestagsfraktion, und mit Farah Karimi, in Iran geborene Holländerin, die für die Grünlinke Partei achte Jahre im Parlament saß.



"Wir dürfen die Soldaten jetzt nicht abziehen"

SPD sieht in Afghanistan vor allem Abstimmungsprobleme mit den USA. Ein Gespräch mit Niels Annen *

Sie stellen die Beteiligung Deutschlands an der US-geführten Operation Enduring Freedom (OEF) in Afghanistan in Frage. Warum?

Zunächst möchte ich klarstellen, daß wir die Soldaten auch nach dem jüngsten Attentat nicht aus Afghanistan abziehen dürfen. Wir müssen unser Engagement für den Aufbau von Demokratie und zivilgesellschaftlichen Strukturen fortsetzen. Das schließt allerdings auch die Notwendigkeit einer militärischen Absicherung im Rahmen des ISAF-Mandats ein. Dagegen sind die konkreten Ziele der OEF in Afghanistan mit der Zerstörung der Al-Qaida-Ausbildungslager und dem Aufbau demokratischer Strukturen mittlerweile erreicht worden. Im weltweiten Maßstab läßt sich dieser Erfolg leider nicht konstatieren. Im Gegenteil: Die Art und Weise, wie vor allem die USA den Terror bekämpfen, läßt nicht nur bei mir zunehmend Zweifel an Sinn und Ergebnis der Kriegsführung aufkommen. Ich bin überzeugt, daß wir den Terrorismus nicht allein mit militärischen Mitteln bekämpfen können. Deshalb plädiere ich dafür, daß wir uns in Absprache mit unseren Bündnispartnern, mit der ­NATO und vor allem der UNO dafür entscheiden, das OEF-Mandat im Herbst auslaufen zu lassen.

Sie glauben, daß man ISAF und OEF klar trennen kann?

Ja. Aber leider muß ich feststellen, daß durch häufig unabgestimmte Aktivitäten und eine Vielzahl von Antiterroroperationen im Rahmen der OEF-Mission die Wiederaufbaubemühungen der ISAF-Schutztruppe empfindlich gestört werden. Das hat dazu geführt, daß mitunter auch die deutsche ISAF-Beteiligung von der afghanischen Bevölkerung mit der US-Kriegsführung identifiziert wird. Faktisch behindert die OEF inzwischen die unersetzliche Arbeit von ISAF.

ISAF und OEF haben aus Ihrer Sicht also nicht nur nichts miteinander zu tun, sondern schließen sich gegenseitig aus?

Das ISAF-Engagement setzt den Schwerpunkt auf die Schaffung zivilgesellschaftlicher Strukturen, zum Beispiel auf die Absicherung der Arbeit von Entwicklungshelfern oder den Aufbau eines afghanischen Bildungssystems. Die bereits erzielten – zum Teil gewaltigen – Fortschritte müssen aber weiterhin militärisch abgesichert werden. Denn nach wie vor treiben Talibankämpfer und andere Dschihadisten im Land ihr Unwesen. Innerhalb der ISAF werden zivile und militärische Maßnahmen aufeinander abgestimmt. Die Aktionen im Rahmen der OEF erfolgen dagegen oft ohne Absprache und machen das Erreichte leider wieder zunichte.

Die unter ISAF-Mandat fliegenden deutschen Tornados sollen ihre Aufklärungsergebnisse auch der OEF zur Verfügung stellen können. Warum haben Sie deren Entsendung zugestimmt?

Um das klarzustellen: Der »Tornado«-Einsatz findet im Rahmen des erweiterten ISAF-Mandats statt. Entscheidend ist doch, daß durch eine enge Abstimmung aller beteiligten Kräfte zivile Opfer im Kampf gegen Terroristen vermieden werden. Darin besteht der Sinn der »Tornado«-Aufklärungsflüge.

Wie will man das gewährleisten, wenn die Aufklärungsfotos auch den OEF-Truppen zugute kommen?

Es existiert kein Automatismus zur Weitergabe der Fotos. In bestimmten Situationen, etwa im Falle der Nothilfe, können die Bilder allerdings über Verbindungsoffiziere an die OEF weitergeleitet werden. Ich habe meine Zustimmung zur Entsendung der Flugzeuge mit der Erwartung verbunden, daß wir eine breite Diskussion über die deutsche Afghanistan-Mission führen. Auf Initiative des SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck wird es noch vor der Sommerpause eine Debatte in der SPD-Fraktion geben.

Müßte dabei nicht auch die Luftversorgung der Bundeswehr- und anderer Truppen ausgehend vom deutschen Militärstützpunkt im usbekischen Termez in Frage gestellt werden?

Dafür sehe ich keinen Anlaß. Wie sollte die Bundeswehr ihre Aufgaben, insbesondere auch im zivilen Bereich, erfüllen können, wenn man sie von der Versorgung abschneidet?

Usbekistans Präsident ist ein weltweit geächteter Diktator. Darf Deutschland mit so jemandem gemeinsame Sache machen?

Es gibt berechtigte Vorwürfe gegen das usbekische Regime. Mit der aktuellen Diskussion über das deutsche Afghanistan-Engagement hat dies aber nichts zu tun.

(Interview: Ralf Wurzbacher)

* Niels Annen ist Abge­ordneter der SPD-­Fraktion und Mitglied im Aus­wärtigen Ausschuß im Bundestag

Aus: junge Welt, 24. Mai 2007



Ist Bürgerkrieg unausweichlich?

Farah Karimi über bedrohliche Entwicklungen in Afghanistan **



Frage ND: Entspricht der schon dreimal angepasste Auftrag für die sogenannte Afghanistan-Schutztruppe ISAF aktuell eigentlich noch dem in der Praxis ausgeübten Mandat?

Farah Karimi: Der Charakter des Militäreinsatzes hat sich im Laufe der Jahre immer mehr verändert. Zudem: Der ISAF-Alltag im Norden ist etwas ganz anderes, als sich die ISAF-Arbeit im Süden darstellt. Bei einer Stärke von 20 000 Soldaten aus 37 Nationen kann man eigentlich auch nicht mehr von einer Schutztruppe sprechen. Das sind überzogene, nicht den Tatsachen entsprechende Erwartungen.

Wird die Sicherheitslage nicht Tag für Tag gefährlicher? Kann dies eventuell sogar den Ruf nach mehr Truppen zur Folge haben?

Die Lage hat sich zweifellos verschlechtert, auch in Kabul selber. Ich habe meine Zweifel, dass es klug wäre, noch mehr fremde Soldaten in dem umkämpften Land zu stationieren.

Die Niederlande sind mit derzeit rund 2200 Soldaten in die ISAF integriert. Wie wird in Ihrem Land über das ISAF-Mandat diskutiert?

Im August steht die parlamentarische Verlängerung des niederländischen ISAF-Auslandseinsatzes an. Die Stimmung hat sich gedreht. Ich glaube, die jetzt in der Regierungsverantwortung stehenden Sozialdemokraten lassen das Mandat auslaufen.

Wenn man versucht, maßgeblichen Volksgruppenführern ihre derzeitige Macht zu nehmen, besteht dann die Gefahr eines Bürgerkrieges wie in den 90er Jahren?

Ich habe trotz der massiven westlichen Präsenz die Angst, dass man in Afghanistan einem Bürgerkrieg näherrückt – Tag für Tag. Ja, die sogenannten »Warlords« sind Teil des politischen Systems geworden, ihre Position ist sogar stärker als vor fünf Jahren. Eine Machtbeschneidung ist daher gleichsam schwierig wie gefährlich und wird blutige Folgen haben.

Kann sich Afghanistan im Machtspiel zwischen Indien, Pakistan und Iran als ein demokratischer Staat behaupten? Ist solche Sichtweise nicht ein wenig naiv?

Nun, ob man zu einer Demokratie findet, das hat mit Afghanistan selbst zu tun; ob es eben gelingt, in einem Land, wo es kaum Demokraten gibt, eine Demokratie aufzubauen. Zur Zeit profitieren eher Terroristen, Extremisten und Clanführer von demokratischen Strukturen. In Afghanistan wird ein Krieg um Interessen geführt. Da sind die Nachbarländer dabei, aber auch die US-Amerikaner. Überall im Land ist man überzeugt, dass die Amerikaner nicht gekommen sind, um wieder zu gehen.

Bedeutet ein – gerade wieder diskutierter – Truppenabzug, dass Afghanistan mit einem reduzierten Aufbaukapital zu rechnen hat?

Natürlich würde es weniger werden, denn es gibt eine direkte Beziehung zwischen Militärpräsenz und der Bereitschaft, Entwicklungsgelder zu investieren.

Wie stark kann der Parlamentarismus sein, wenn Volksgruppen, Stammeskultur und Religion Einfluss einfordern und ausüben?

Es gibt in Afghanistan zwar ein Parlament, aber deshalb noch lange keinen Parlamentarismus. Die eigentlich demokratische Institution wird einfach instrumentalisiert, um die jeweiligen ethnischen und religiösen Belange zu vertreten und durchzusetzen.

(Fragen: Dieter Hanisch)

** Farah Karimi stammt aus dem Iran, floh Anfang der 80er Jahre nach Deutschland, siedelte in die Niederlande über, saß für die GroenLinks-Partei von 1998 bis 2006 im Parlament. Sie ist erst unlängst aus Afghanistan zurückgekommen, wo sie mehrere Monate lebte.

Aus: Neues Deutschland, 24. Mai 2007



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