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Verlorener Krieg

Jahresrückblick 2011. Heute: Afghanistan. Zehn Jahre kämpft die NATO am Hindukusch. Die Propaganda meldet Erfolge

Von Rainer Rupp *

Über hundert ausländische Delegationen, darunter 63 Außenminister, haben sich Anfang Dezember in Bonn zur zweiten Afghanistan-Konferenz ein Stelldichein gegeben. Die von Propaganda-Fanfaren begleitete Mammutshow sollte der Weltöffentlichkeit den durchschlagenden Erfolg des nunmehr 10 Jahre dauernden Krieges am Hindukusch vorgaukeln, der dort von der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft mit größter Brutalität im Namen von Demokratie und Menschenrechten geführt wird.

Aber das Vorhaben mißlang kläglich, denn Pakistan, das neben den USA der wichtigste »Spieler« in den tödlichen Auseinandersetzungen in der Region ist, war in Bonn gar nicht erst erschienen. Diese Tatsache ließ das Erfolgsgerede zur Farce werden.

Mit ihrem schweren Angriff auf zwei Grenzposten der pakistanischen Armee hatten die USA der pakistanischen Führung eine Lektion erteilen und auf den vom Westen vorgegebenen Afghanistan-Kurs zwingen wollen. Der läuft den pakistanischen Interessen jedoch diametral entgegen. Bei dem US-Angriff wurden zwei Dutzend pakistanische Soldaten getötet, und diesmal ist das bisher bodenlos scheinende Faß der pakistanischen Geduld gegenüber US-Provokationen übergelaufen. Neben dem Boykott der Bonner Konferenz und der Blockade des US-NATO-Nachschubs über den Khyber-Paß hat Pakistan durchgesetzt, daß die US-Amerikaner ihre Nachrichtendienstler aus Pakistan abziehen und die Luftwaffenbasis Schamsi in Belutschistan räumen mußten, von wo die CIA ihre mörderischen Drohneneinsätze geflogen hatte.

Die Reaktion Pakistans hat für Washington neben einer negativen symbolischen Bedeutung für die Zukunft Afghanistans auch eine taktische und strategische.

Symbolisch, weil Pakistan mit diesem Befreiungsschlag ein Stück seiner nationalen Souveränität wiedergewonnen hat. Islamabad hat deutlich gemacht, daß es in Afghanistan ohne Rücksicht auf den Westen verstärkt seinen eigenen Interessen nachzugehen gedenkt.

Taktisch, weil die Drohnenangriffe in Nord-Wasiristan, die ein wichtiges Element der US-Kriegsstrategie in Afghanistan waren, nun wegfallen.

Zusätzlich wird die Kriegsführung von USA und NATO im afghanischen Grenzgebiet dadurch erschwert, daß das pakistanische Militär inzwischen den Befehl hat, deren Flugobjekte beim Eindringen in den pakistanischen Luftraum zu vernichten.

Strategisch, weil durch die Sperrung des Khyber-Passes auf unbegrenzte Zeit die Zuverlässigkeit der Versorgung der US- und NATO-Truppen über den wichtigen »Südkorridor« und damit die Sicherheit der westlichen Truppen in Afghanistan in Frage gestellt wird.

Die Diskussion der Beziehungen zwischen USA und NATO einerseits sowie Pakistan andererseits ist deshalb so wichtig, weil ohne die Kooperation Islamabads eine politische Lösung im westlichen Sinn am Hindukusch nicht möglich ist. Daraus folgt, daß sich das politische Umfeld für die Erreichung der westlichen Ziele in Afghanistan, vornehmlich die Einrichtung einer stabilen Marionettenregierung in Kabul, zum Jahresende 2011 so schlecht darstellt wie noch nie zuvor in den letzten zehn Kriegsjahren.

Auch militärisch müssen USA und NATO auf 2011 als ein Jahr des Versagens zurückblicken, selbst wenn die Propaganda ständig von Fortschritten berichtet. Aber das tut sie inzwischen schon zehn Jahre lang. Tatsache ist jedoch, daß auch die nach immer neuen Fehlschlägen im Jahr 2009 eingeführte sogenannte Counter-Insurgency-Strategy (COIN)zur Aufstandsbekämpfung Anfang 2011 wieder rückgängig gemacht worden ist. Sie wurde damals von dem US-Oberbefehlshaber in Afghanistan, General McCrystal eingeführt. Der aber wurde bereits im Juni 2010 von Präsident Obama wegen Insubordination wieder gefeuert.

Mit COIN wollte das Pentagon die »Herzen und Köpfe« der Afghanen gewinnen, indem eine große Zahl ziviler Opfer der US- und NATO-Angriffe vermieden werden sollte. Statt wie bisher bei Verdacht wahllos zu bombardieren, sollten jetzt zuerst gezielt Spezialtruppen zur Klärung der lokalen Sachverhalte geschickt werden. Entscheidend für den Erfolg von COIN wäre jedoch die Fähigkeit der US-Militäraufklärung gewesen, zwischen »bösen Taliban« und »guten Afghanen« zu unterscheiden. Da sie das nicht konnten, forderte die COIN immer mehr Opfer unter den US-Spezialtruppen. Da in den Augen der US-Militärführung der Wert eines einzigen US-Soldaten haushoch über dem von Dutzenden afghanischer Frauen und Kindern steht, wurde bereits Anfang 2011 die alte Vorgehensweise der Bombardierung auf Verdacht ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wieder aufgenommen.

Auch die von Obama bei seinem Amtsantritt befohlene Eskalation durch die Entsendung von über 30000 zusätzlichen US hat keine bleibende Wirkung hinterlassen. Ihren Auftrag konnten sie nur unzulänglich erfüllen. In kritischen Regionen sollten sie die Taliban stellen und besiegen, die eroberten Gebiete halten und säubern und so für den nachrückenden Verwaltungsapparat der afghanischen Marionettenregierung, samt Polizei und Militär, sichern. Aber die Taliban waren – anders als erwartet – keine Selbstmörder und stellten sich nicht dem aussichtslosen Kampf gegen den hoffnungslos überlegenen Feind. Sie wichen aus und tauchten ab.

Anfang 2012 soll nun wieder mit dem Abzug der 30000 zusätzlich entsandten US-Soldaten und weiteren Kampftruppen begonnen werden. Folglich dürften die Taliban nach bewährter Guerilla-Taktik in die frei gewordenen Räume nachrücken, die von den vom Westen eingesetzten Kabuler Marionetten nicht gehalten werden können.

Inzwischen ist selbst in Washington die Erkenntnis gereift, daß man in all den Jahren am Hindukusch keinen Schritt weiter gekommen ist. Im Gegenteil.

Aber nach Irak auch in Afghanistan vor der Weltöffentlichkeit als Verlierer dazustehen, würde für das Prestige bzw. für das Droh- und Einschüchterungspotential der USA und der NATO fatale Folgen haben. Deshalb läuft derzeit eine intensive Propagandakampagne, in der sich USA und NATO kurzerhand zum Sieger erklären, um so die geplanten Truppenreduzierungen zu rechtfertigen. Ganz in diesem Sinne erklärte Ex-CIA-Chef und Obamas neuer Kriegsminister Leon Panetta bei einem Truppenbesuch in Afghanistan am 14. Dezember: »Wir sind dabei zu gewinnen«. Auf die Frage bei der anschließenden Pressekonferenz, wo genau die USA siegreich seien, verwies er auf die inzwischen zahlenmäßig große afghanische Nationalarmee (ANA), die nach dem Teilabzug der US-Kampftruppen die Hauptlast der Kämpfe tragen soll. Mit fast 175000 Mann ist die zahlenmäßige Stärke der ANA in der Tat beeindruckend. Aber noch beeindruckender ist die Zahl der Deserteure. Nach NATO-Angaben vom 2. September dieses Jahres hatten sich allein in den davor liegenden sechs Monaten 25000 Mann der ANA in die Büsche geschlagen, doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor. Auch Ausbildung, Disziplin und Zuverlässigkeit lassen sehr zu wünschen übrig. Kein Wunder, daß das Marionettenregime, dessen Überlebenschancen mit jedem Abzug westlicher Soldaten geringer werden, alarmiert ist und die USA und NATO-Länder drängt, am Hindukusch weiter militärisch präsent zu bleiben.

* Aus: junge Welt, 20. Dezember 2011


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