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Das Problem mit den deutschen Pudelmützen

Kriege kosten Wahrheit, Geld und Leben

Von René Heilig *

Vor ein paar Tagen versammelten sich in Berlin und anderenorts Hunderttausende, um den Tag der deutschen Einheit zu feiern. Bier, Bühnen, bunte Luftballons. Verhält sich so eine Nation, die im Kriege steht?

Die Terroranschläge vom 11. September 2011 zwangen Deutschland in die Bündnissolidarität. So heißt es - fern der Wahrheit. Und noch immer führen deutsche Soldaten Krieg: In Afghanistan kämpfen sie gegen Taliban und Aufständische. In Deutschland dagegen sind Bürokratie und Ignoranz die größten Feinde.

Zehn Jahre - so lange haben die beide Kriege, die Deutschland im vergangenen Jahrhundert vom Zaun gebrochen hat, nicht gedauert. Er wolle, so hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder im Herbst 2001 verkündet, keine abstrakten Diskussionen über die Frage führen, ob sechs Monate ausreichen, um Afghanistan zu stabilisieren. Es handele sich um ein von den Aufgaben, vom Einsatzort und von der Zeit her begrenztes Mandat.

Ohne den Druck, der von Schröder und seinem Grünen-Außenminister Joseph Fischer ausgeübt wurde, ohne die Verknüpfung des Einsatzbeschlusses mit der Vertrauensfrage hätte die rot-grüne Koalition wohl keine eigene Mehrheit dafür zustande gebracht. Am 16. November 2001 beschloss der Bundestag die deutsche Beteiligung an der US-geführten Antiterror-Operation Enduring Freedom (OEF). Rund 100 Elitesoldaten des KSK-Kontingents wurden nach Afghanistan befohlen. Schon die Landung des Vorauskommandos verzögerte sich. Die Witterung und die schadhafte Landebahn in Bagram waren jedoch nichts im Vergleich zu dem, was folgte.

Weniger strittig in Parlament und Öffentlichkeit war kurz darauf die Entsendung deutscher Truppen für die International Security Assistance Force (ISAF), die mit dem Mandat des UN-Sicherheitsrats die »vorläufigen Staatsorgane Afghanistans bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner Umgebung so unterstützen (sollte), dass sowohl die vorläufige afghanische Regierung als auch das Personal der Vereinten Nationen in einem sicheren Umfeld arbeiten können«.

Zehn Jahre später denkt man an Abzug aus Afghanistan. Nicht etwa, weil der Auftrag erfüllt ist, sondern weil er nicht zu erfüllen ist. Derweil feiert die Bürokratie im Verteidigungsministerium Urständ. Die Bundeswehr kann sich nämlich auch knausrig zeigen. Sie forderte einen Unteroffizier auf, seine Schulden zu begleichen. Das Bundesamt für Wehrverwaltung schrieb ihm freundlich: »Während Ihres Auslandseinsatzes in Feyzabad/Afghanistan bemerkten Sie das Fehlen eines Kampfhandschuhs.« Weiter heißt es: »Durch Ihr Verhalten ist dem Bund ein Schaden in Höhe von 7,17 Euro entstanden.«

Ein Einzelfall? Vor wenigen Tagen zeichnete die Wehrverwaltung die Änderungsgenehmigung zur Nutzung der Strickmütze ab. Schon lange klagten Soldaten über die »doofen« Pudel. Am 18. Dezember 2008 hatten sich die Beamten mit der Definition des Anforderungsgegenstandes vertraut gemacht. Die Strickmütze diene als Wechselmütze zur Feldmütze im Winter. Sie soll als Kälteschutz für den Kopf dienen, wobei auch die Ohren abgedeckt werden sollen. Jetzt endlich fand man sie, die passenden Mützen! Doch bevor die neuen an die Front kommen, müssen erst die alten aufgebraucht werden.

Dabei geht es um mehr als um Pudelmützen: Es fehlt an Munition, geschützten Fahrzeugen, Hubschraubern, Blutplasma ...

Kein Geld für Kriege? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat nachgerechnet, was der Afghanistan-Krieg der Bundeswehr bisher gekostet hat: 17 Milliarden Euro - dreimal soviel, wie die Bundesregierung zugeben möchte. Bis zum Jahresende 2014, wenn die deutschen Truppen abgezogen sein sollen, wird man laut DIW weitere fünf Milliarden Steuereuros verpulvert haben. Doch vor allem kosten Kriege Menschenleben. Bisher sind 52 deutsche Soldaten am Hindukusch »gefallen«. Wie viele Afghanen umkamen, taucht in der deutschen Bilanz ohnehin nicht auf.

* Aus: neues deutschland, 7. Oktober 2011


Dieser Krieg ist eine Katastrophe

Wolfgang Gehrcke über die Lage und Perspektiven am Hindukusch *

Am 7. Oktober 2001 begannen US-amerikanische Verbände die Invasion in Afghanistan. Die Bilanz nach zehn Kriegsjahren mit deutscher Beteiligung – die Bundeswehr stellt am Hindukusch das drittgrößte Truppenkontingent – ist verheerend, für die Menschen in Afghanistan wie für die Stabilität in der Region. Der Afghanistan-Krieg hat Deutschland nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in den vergangenen zehn Jahren 17 Milliarden Euro gekostet. Das ist drei Mal so viel wie die von der Bundesregierung offiziell veranschlagten 5,5 Milliarden Euro.

ND: Die Militäreinsätze von USA und NATO sollten Afghanistan angeblich »Frieden und Stabilität« bringen. Zehn Jahre nach Kriegsbeginn hat die UNO jedoch gerade erklärt, dass sich die Zahl der zivilen Opfer gegenüber dem Vorjahr erhöht und die Sicherheitslage im Lande weiter verschlechtert hätten.

Gehrcke: Es ist eine völlig gescheiterte Mission, wenn man auch nur einen Moment geglaubt hat, dass die genannten Ziele - Menschenrechte in Afghanistan zu etablieren und den Terrorismus zu besiegen - ernsthaft angestrebt wurden. Aus meiner Sicht ging es von Anfang darum, mit dem Zugriff auf Afghanistan die Vorherrschaft im zentralasiatischen Raum zu erreichen. Das hat sehr viele Menschen das Leben gekostet, die Opferzahlen schwanken zwischen 30 000 und 100 000. Dieser Krieg ist eine einzige Katastrophe, und die deutsche Teilhabe moralisch schändlich und politisch abzulehnen.

Auch weil die sogenannte Schutztruppe ISAF zuerst und vor allem eine Kampftruppe ist?

Da ist von Anfang an gelogen worden. Wie die Operation »Enduring Freedom« (OEF) ist auch ISAF ein Kampfeinsatz. Grüne und SPD versuchten immer, einen Unterschied zu suggerieren: hier das schlechte USA-Mandat zur Terroristenjagd, dort das gute der internationalen »Schutztruppe«. Das war Unsinn.

Hinzu kommt, dass die deutsche Kriegsbeteiligung praktisch per Losentscheid beschlossen wurde. Weil der damalige Bundeskanzler Schröder die Abstimmung zur OEF-Beteiligung mit einer Vertrauensfrage verknüpft hat, acht Grüne in Sachen Afghanistan nicht zustimmen wollten, dann aber die gewollte Regierung gestürzt wäre, wurde tatsächlich per Los entschieden, welche vier dieser acht Abgeordneten für eine Kriegsteilhabe votieren mussten.

Nun sollen die NATO-Truppen bis Ende 2014 abziehen. Doch fehlt nach wie vor die Strategie für eine nachhaltige politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Afghanistan.

Wenn man sich jetzt entscheiden würde, die Bundeswehr abzuziehen, und zwar sofort, wäre das ein deutliches Signal, dass der Krieg beendet wird. Das könnte Friedensverhandlungen fördern, bis hin zu einer Vereinbarung, die allen Afghanen Verfassungsrechte garantiert. Doch die Bundesregierung lügt und taktiert auch in dieser Frage. Abziehen will man bis Ende 2014 jene Verbände, die als Kampftruppen eingeordnet werden. Doch eine solche Unterscheidung ist heute einfach nicht mehr möglich. Im Grunde sagt die Bundesregierung: Wir wollen, dass die Bundeswehr reduziert auch über 2014 hinaus in Afghanistan bleibt.

Hat sich in der NATO-Strategie mit USA-Präsident Barack Obama Wesentliches geändert?

Insofern nicht, als dass man bei der verfehlten Politik geblieben ist, den Krieg mit einem massiven Militäreinsatz zu beenden. Angeblich habe man aber stärker als früher zivile Komponenten in die Kriegsführung einbezogen, womit sich auch die deutsche Seite gern rühmt. Tatsächlich ist es so, dass das Zivile militärischer geworden ist und nicht das Militärische ziviler. So gibt es immer mehr private Sicherheitsdienste, man geht von über 100 000 Mann aus. Und man hat die Strategie der gezielten Tötung von Taliban-Führern, etwa mit unbemannten bewaffneten Drohnen, zur Politik gemacht. Leider auch mit deutscher Beteiligung.

Ist denn Entwicklungs- und Wiederaufbauhilfe ohne militärischen Schutz in Afghanistan überhaupt möglich?

Nicht alle, aber ein großer Teil der Hilfsorganisationen sagt, sie würden besser ohne militärische Begleitung arbeiten, weil sie so Vereinbarungen mit den sogenannten Aufständischen treffen können. Indien zum Beispiel hat 3000 zivile Helfer in Afghanistan. Ich habe mit indischen Politikern gesprochen; sie lehnen eine Kooperation mit der NATO strikt ab, denn ohne Militär seien diese Helfer sicherer, mit Militär werden sie zu Zielen im Krieg. Zugleich sollte man nur da helfen, wo es die Afghanen wollen, auch das gehört zur Selbstbestimmung.

Insgesamt erscheint Afghanistan sehr schlecht vorbereitet für einen Frieden. Auch die Versöhnungsgespräche sind jetzt gescheitert, bevor sie überhaupt richtig begonnen haben.

Das Land lebt praktisch seit über 100 Jahren im Konflikt- und Kriegszustand. Ein Menschenleben zählt da wenig. Hinzu kommt die allgegenwärtige Korruption. Ein gesicherter Friede ist zwar der Wunsch vieler Afghanen, aber nicht ihr Alltag.

Dieser Friede muss hart erarbeitet werden, was mit Verhandlungen über einen Waffenstillstand beginnen sollte, natürlich mit den Taliban. Man kann ja schlecht alle Aufständischen und Oppositionellen töten. Wichtig sind auch internationale Partnerschaften für einen Friedensschluss. Ich denke, dass China eine wichtige Rolle spielen könnte, weil es nicht in den Krieg involviert ist. Auch müsste Iran einbezogen werden, führen doch die Schmuggelrouten der Drogenbarone durch das Land.

70 Prozent der Deutschen glauben laut Umfragen nicht mehr an einen Erfolg in Afghanistan, 44 Prozent sind für einen sofortigen Bundeswehr-Abzug und 42 Prozent sagen nach den Erfahrungen am Hindukusch, dass deutsche Soldaten künftig überhaupt nicht mehr ins Ausland geschickt werden sollten. Eine Forderung, die Sie sofort unterschreiben würden?

Ja. Das bestätigt die Erfahrungen, die die LINKE über Jahre gesammelt hat. Wobei sich eine Mehrheit der Bevölkerung nicht etwa gegen zivile Hilfsleistungen für Afghanistan wendet. Aber das alles muss politisch durchgesetzt werden. Das schlechteste Argument für den Verbleib der Bundeswehr in Afghanistan lautet: Wenn wir abziehen, gefährden wir die NATO. Die NATO interessiert mich nicht. Der LINKEN geht es zuerst um die Menschen, in Afghanistan wie in Deutschland.

Fakten

  • Am 7. Oktober 2001, vier Wochen nach den Terroranschlägen des 11. September, beginnen die USA ihren Krieg gegen Afghanistan, weil das Terrornetzwerk Al Qaida vor allem von dort aus die Attacken vorbereitet haben soll.
  • Die internationale Schutztruppe ISAF (International Security Assistance Force) wurde im Dezember 2001 vom UN-Sicherheitsrat beschlossen. Seit 2003 wird sie von der NATO geführt.
  • Die USA kommandieren zusätzlich ihre Militäroperation »Enduring Freedom«. Mit einem Bundestagsbeschluss wurde das deutsche Engagement dort im Juli 2010 beendet.
  • Ende 2010 waren rund 130 000 ISAF-Soldaten aus 48 Ländern stationiert. Größter Truppensteller sind die USA mit rund 100 000 Soldaten, Deutschland stellt etwa 5000. Die USA wollen ihr Kontingent bis Herbst 2012 um ein Drittel verkleinern. Bis Ende 2014 sollen alle ausländischen Kampftruppen abgezogen sein.
  • Die Stärke der afghanischen Armee wird mit rund 100 000 Mann angegeben. Die Zahl der gegnerischen Taliban-Rebellen schätzt die ISAF auf 36 000.
  • Der Krieg forderte nach Schätzungen der Friedensbewegung bisher 70  000 Todesopfer, darunter etwa die Hälfte Zivilisten. Allein zwischen Juni und August dieses Jahres starben 971 Menschen. Die Gewalt zwang 2011 landesweit über 130 000 Afghanen zum Verlassen ihrer Häuser. Die Bundeswehr ist u.a. für das Massaker von Kunduz (4.9. 2009) mit ca. 140 Toten verantwortlich.
  • Seit 2001 wurden mehr als 2500 ausländische Soldaten im Afghanistan-Einsatz getötet. Auch 52 Bundeswehrsoldaten verloren seitdem ihr Leben.
    dpa/nd


* Aus: neues deutschland, 7. Oktober 2011


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