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Afghanistan: Zahl ziviler Opfer steigt

Dieses Jahr starben über 1000 Unbeteiligte *

Die Zahl ziviler Opfer im Afghanistankrieg ist laut einer Menschenrechtsorganisation unverändert hoch.

Zwischen Januar und Juni dieses Jahres seien am Hindukusch insgesamt 1074 Unbeteiligte getötet und mehr als 1500 weitere verletzt worden, heißt es in einem am Montag in Kabul veröffentlichten Bericht der Organisation »Afghanistan Rights Monitor« (ARM). [Siehe: ARM Mid-Year Report - externer Link!] Im selben Zeitraum des vergangenen Jahres seien es 1059 Tote gewesen.

Dem Bericht zufolge fielen 661 Zivilisten und damit mehr als 60 Prozent der Opfer Anschlägen und Angriffen der Taliban zum Opfer. 210 Menschen seien von den ausländischen Truppen getötet worden. Die übrigen Toten gingen auf das Konto afghanischer Sicherheitskräfte. ARM stützt sich bei seinen Angaben nach eigener Aussage auf Interviews mit betroffenen Familien und Behörden.

Die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hatte im Januar eine eigene Studie zu Opfern in dem Konflikt veröffentlicht. Demnach waren im Jahr 2009 insgesamt 2412 Zivilisten getötet worden.

Unterdessen arbeiten die afghanische und die US-Regierung laut einem Zeitungsbericht gemeinsam darauf hin, einige hochrangige Talibanführer von der Terrorliste der UNO streichen lassen. Um die Friedensgespräche mit islamistischen Aufständischen voranzubringen, sollten nach dem Willen des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai etwa 50 frühere Taliban von der UN-Terrorliste gestrichen werden, berichtete die »Washington Post«. Als offizielle Vorbedingungen formulierte die Kabuler Regierung bislang, dass die Aufständischen der Gewalt abschwören, die afghanische Verfassung anerkennen und ihre Kontakte zu internationalen Terrororganisationen abbrechen. Karsais Regierung dringe nun aber verstärkt auf die Streichung von Talibanführern von der UN-Liste, um den seit fast neun Jahren währenden Konflikt zwischen seiner Regierung und den Islamisten beizulegen, meldete die »Washington Post« unter Berufung auf einen hochrangigen afghanischen Regierungsvertreter. Die USA unterstützten Karsai bei diesen Bemühungen. Der USSondergesandte für Afghanistan und Pakistan, Richard Holbrooke, sei am Dienstag vergangener Woche nach New York gereist, um in Gesprächen mit UN-Vertretern diese von der Streichung der Talibanführer von der Terrorliste zu überzeugen.

Die UN fordern dem Bericht zufolge allerdings mehr Beweise, dass die Betroffenen der Gewalt tatsächlich abgeschworen haben. Die USA dringen auf eine Einigung noch vor der internationalen Afghanistan-Konferenz am 20. Juli in Kabul. Die Streichung einiger der gewalttätigsten Taliban wie etwa des obersten Talibanführers Mullah Mohammed Omar von der schwarzen Liste lehnt die USRegierung laut »Washington Post« jedoch ab.

* Aus: Neues Deutschland, 13. Juli 2010

CONFLICT KILLS, INJURES 14 CIVILIANS EVERYDAY

Kabul, 12 July 2010: Almost six civilian people were killed and eight were wounded each day in conflictrelatedincidents from 1 January to 30 June 2010, Afghanistan Rights Monitor (ARM) said today in amid‐year report on civilian casualties of war.

In total, at least 1,074 civilians were killed and over 1,500 were injured in armed violence in the first halfof this year; which indicates a slight – 1.3% ‐ increase in the reported number of civilian casualties of warcompared to the same period last year.

Over 60% of the recorded civilian deaths (661 individuals) are attributed to insurgent groups whoshowed little or no respect to the safety and protection of non‐combatants. Improvised ExplosiveDevices (IEDs) killed 282 civilians, more than any other war activity, followed by suicide attacks inwhich 127 civilian people lost their lives.

The number of civilians killed by US/NATO forces reduced considerably during the reporting periodlargely due to restrictions imposed on the use of air strikes. However, 210 civilians were killed byUS/NATO troops in the past six months. At least 108 civilian deaths were attributed to Afghan Government forces (police, army and militias) while 67 civilian people were killed by armed men associated with private security firms or armed criminal groups.In addition to deaths and injuries, conflict‐related insecurity had extensive adverse impacts on civilian communities all over the country, particularly in the southern provinces. Essential services such as health, education and humanitarian and development assistances were disrupted and blocked in large swathes of the country while predatory and abusive governance deprived many people from justice and opportunities.

The arrival of thousands of additional US/NATO forces into the country, and the desire to “disrupt,dismantle and defeat” the insurgents and their al Qaeda associates by military might, bodes ill tocivilian Afghans who have suffered the brunt of war casualties. The troop surge and the appointment of Gen. David Petraeus as the commander of all US/NATO forces has widely been interpreted as ‘the last push before exit’ which not only has emboldened the insurgents but has also encouraged Pakistan, Iran and other regional interventionist states to resurface and back proxies for a post‐US/NATO Afghanistan.

Because an alarming number of civilians have been killed, wounded and affected by IED attacks, ARM calls on the Afghan Government, US/NATO, insurgents and other key actors to stop, or at least reduce and control, their production and indiscriminate use. As conflict intensifies, the government and its foreign supporters must enhance activities to meet the needs of conflict‐affected communities. The UN and other aid agencies should be encouraged to reestablish presence in insecure areas ‐ where needs are paramount – and provide effective humanitarian and development assistance.ARM has also called on the regional states, particularly on Pakistan and Iran, to stop sheltering,supporting and using insurgent groups for illicit gains in Afghanistan. [Ends] For further information and to download a copy of ARM’s mid‐year report, please visit: www.arm.org.af

Quelle: Website von Afghanistan Rights Monitor (ARM), 12 July 2010; www.arm.org.af




Listenpolitik

Von Olaf Standke **

Der Auftrag erging von der jüngsten afghanischen Friedens-Dschirga Anfang Juni. Versöhnung und Verhandlung waren viel gebrauchte Worte auf der Ratsversammlung in Kabul, die nach einem Ausweg aus dem Desaster am Hindukusch suchte. Und dafür braucht man Partner, auch aus der Welt der Taliban. Um die zu finden, bemühen sich die afghanische und die US-amerikanische Regierung inzwischen darum, hochrangige Führer der Islamisten von der UN-Terrorliste streichen zu lassen. Vor allem Präsident Karsai greift nach neun Kriegsjahren und schwindener eigener Legitimation wie Macht nach jedem Strohhalm und drängt Washington, um so schnell wie möglich zu Gesprächen mit den Aufständischen zu kommen. Offizielle Vorbedingungen: Sie müssen der Gewalt abschwören, die Verfassung anerkennen und ihre Kontakte zu internationalen Terrororganisationen abbrechen.

Eine Einigung noch vor der internationalen Afghanistan-Konferenz nächste Woche käme auch der USA-Regierung recht, wie der Sondergesandte Holbrooke durchblicken ließ. Allerdings war man sich in Kabul und Washington lange nicht einig, wo denn die Grenze gezogen werden solle. Die Dschirga hatte selbst den obersten Talibanführer Mullah Mohammed Omar genannt, doch für die Obama-Regierung ist er ein rotes Tuch und soll auf der schwarzen UN-Liste bleiben. Auch auf der »Todesliste« der NATO? Denn Washington hat eine eigene Aufstellung von Zielpersonen, die ausgeschaltet, sprich festgenommen oder eben getötet werden sollen. Und das sind nicht selten jene, mit denen man eigentlich verhandeln müsste, um zu einem Waffenstillstand und mehr zu kommen.

** Aus: Neues Deutschland, 13. Juli 2010 (Kommentar)


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