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Von Unterentwicklung gezeichnet

Die katholische Kirche im heutigen Äthiopien

In der "Herder Korrespondenz. Monatshefte für Gesellschaft und Religion" (59. Jg. Heft 4, April 2005, 208 - 212) hat Hans-Peter Hecking, der Leiter des Missio-Afrikareferates, soeben einen Artikel veröffentlicht über die Situation von Kirche und Staat in Äthiopien vor den Wahlen am 15. Mai 2005. Der Artikel wird demnächst auch erscheinen auf der Homepage von Missio (www.missio-aachen.de). Wir dokumentieren den Beitrag nachfolgend im Wortlaut.



Von Hans-Peter Hecking*

Mitte Mai wird in Äthiopien ein neues Parlament gewählt. Es werden die dritten „demokratischen“ Wahlen in der Geschichte des Vielvölkerstaates am Horn von Afrika sein, wo man stolz darauf ist, als einziges afrikanisches Land nie europäisches Kolonialgebiet gewesen zu sein. Seine historischen Wurzeln reichen zurück in die vorchristliche Zeit der axumitischen Hochkultur. Das gesellschaftliche und kulturelle Leben des an Einwohnern zweitgrößten afrikanischen Landes wird in weiten Teilen vom Christentum in seiner speziellen äthiopisch-orthodoxen Ausprägung bestimmt, das seit dem frühen 4. Jahrhundert dort beheimatet ist, wo auch heute noch die Uhren im Alltag der Menschen nach dem julianischen Kalender gehen und man deshalb in erst das Jahr 1997 schreibt.

Zur anstehenden Wahl sind kritische Hirtenworte der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche oder der Katholischen Kirche, deren „freundlich-distanziertes“ Verhältnis besonders durch Vorbehalte von orthodoxer Seite wegen (fehlgeschlagener) Latinisierungsversuche der Jesuiten im 17. Jahrhundert noch immer getrübt ist, eher nicht zu erwarten. Die äthiopisch-orthodoxe Kirche, die bis zum Sturz Haile Selassies 1974 Staatskirche war und der ca. 40 Prozent der Bevölkerung angehören, tritt weniger sozialengagiert in Erscheinung, sondern konzentriert sich mehr auf den binnenkirchlich-liturgischen Bereich.

Die in den äthiopisch-orthodoxen Ge’ez-Ritus (1 Erzdiözese, 2 Eparchien) und den lateinischen Ritus (5 Apostolische Vikariate, 2 Apostolische Präfekturen) aufgeteilte Katholische Kirche wird vor allem wegen ihres überproportional großen Engagements im sozial-karitativen und erzieherischen Bereich, in der Entwicklungsarbeit, der Gemeinwesenarbeit und der Gesundheitsfürsorge geschätzt. Doch als oberste Repräsentanten einer Minderheitenkirche, zu der nur etwas weniger als ein Prozent der Bevölkerung gehören, fehlt den Bischöfen offenbar meist der Mut zum öffentlichen sozialkritisch-prophetischen Diskurs.

Die Durchführung der Wahl in dem schlecht erschlossenen und wegen seiner geographischen Höhenlage gerne als das „Dach Afrikas“ bezeichneten Land ist vor allem eine große administrative und logistische Herausforderung, denn mehr als 50 Prozent der geschätzt 70 Millionen Einwohner können weder lesen noch schreiben und rund die Hälfte der Bevölkerung lebt weiter als einen Tagesmarsch (35 km) von der nächsten befahrbaren Straße entfernt. So wird es dauern, bis die Stimmen aus den 35.000 Wahllokalen in den fast 550 Wahlbezirken des riesigen Landes, das dreimal größer ist als Deutschland, ausgezählt sind. Das offizielle Wahlergebnis wird erst Anfang Juni, d. h. drei Wochen nach der Wahl veröffentlicht.

Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes - es zählt zu den weltweit ärmsten Staaten - und die Auseinandersetzung um demokratische Reformen standen bisher im Mittelpunkt des Wahlkampfes, in dem die Parteien um die Stimmen von rund 38 Millionen wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger kämpfen. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich die politischen Verhältnisse in Äthiopien durch die Wahl entscheidend ändern werden. Zu dominierend ist die Rolle der regierenden Parteienkoalition der Ethiopian Peoples Revolutionary Democratic Front (EPRDF) unter Premierminister Meles Zenawi, die 1991 das Ende des kommunistischen Derg-Regimes von Mengistu Haile Mariam herbeiführte und seitdem an der Macht ist.

Die politischen Verhältnisse werden sich nicht entscheidend ändern

Die politische Richtung innerhalb der EPRDF wird vor allem von der TPLF (Tigray People’s Liberation Front) bestimmt. Ihr wird von Kritikern in den südlicher gelegenen Landesteilen vorgeworfen, die ethnische Minderheit der Tigray zu begünstigen, der auch der Premierminister angehört. Die EPRDF hatte bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren 479 von 547 Parlamentssitzen errungen. Dem Oppositionsbündnis United Ethiopian Democratic Forces (UEDF), einer Vereinigung aus 14 Parteien, das derzeit über nur neun Sitze in der nationalen Volksvertretung verfügt, wird deshalb bei den anstehenden Wahlen nicht mehr als ein Achtungserfolg zugetraut.

Gleichwohl war es der UEDF im Vorfeld der Wahlkampagne gelungen, einigen politischen Druck auf die EPRDF auszuüben, indem sie mit einem Boykott der Wahlen drohte, falls die Regierungspartei sich einer Wahlrechtsreform widersetzte. Zwar gingen die zugebilligten Neuerungen der UEDF nicht weit genug, doch stimmte die Parlamentsmehrheit Mitte Januar immerhin 20 von 30 Änderungsvorschlägen der Opposition zum Wahlrecht zu.

Die UEDF wertete es als einen Triumph, dass den oppositionellen Parteien, die in der Vergangenheit regelmäßigen Einschüchterungsversuchen der Regierung ausgesetzt sahen, durch die Wahlrechtsnovelle das Versammlungs-, Bewegungs- und Demonstrationsrecht während des Wahlkampfes gesetzlich zugesichert wurde. Als besonderen Erfolg verbuchte die UEDF, dass den Nichtregierungsparteien ein größerer Zugang zu den staatlichen Medien zugebilligt wurde, vor allem zur staatseigenen, einzigen Fernsehanstalt des Landes.

Doch muss festgestellt werden, dass die EPRDF als einzige Partei auch jetzt noch mit 44 Prozent die meiste Wahlkampfsendezeit hat, während sich die oppositionellen Gruppierungen den verbleibenden Sendekuchen untereinander aufteilen müssen. Offenbar legt die Regierung Wert darauf, ihr als wenig demokratisch geltendes Image gegenüber der Weltöffentlichkeit aufzupolieren. Weil die bisherigen Wahlen in Äthiopien unter dem Makel litten, nicht frei und fair gewesen zu sein, kündigte die Regierung dieses Mal die Einladung ausländischer Beobachter an und sie stimmte dem Antrag der Opposition zu, durch die Berufung eines paritätisch besetzten Wahlkomitees für einen rechtmäßigen Ablauf der Wahl zu sorgen. Die EPRDF sicherte ferner zu, das Wahlgeheimnis zu garantieren und ging auf den Vorschlag der UEDF ein, die Nationale Wahlkommission um vier Mitglieder auf elf zu vergrößern.

Doch konnte man sich bisher nicht über die Zusammensetzung dieses Gremiums einigen, dem die Opposition eine zu große politische Nähe zur regierenden EPRDF vorwarf. Als Niederlage im Bemühen um die Änderung des geltenden Wahlsystems musste die Opposition die Weigerung der Regierung hinnehmen, das bestehende Mehrheitswahlrecht, das die Regierungspartei nach Auffassung der UEDF zu sehr begünstige, durch ein Verhältniswahlrecht zu ersetzen.

Die EPRDF-Regierung, die eine vage Doktrin der „revolutionären Demokratie“ als Alternative zur „liberalen Demokratie“ westlicher Prägung propagiert, konnte während der jüngsten Legislaturperiode einige Projekte realisieren, die möglicherweise zu einer nachhaltigen Entwicklung des Landes beitragen können. Dazu zählen vor allem infrastrukturelle Maßnahmen wie zum Beispiel der beachtliche Ausbau des geteerten Hauptstraßennetzes von der Hauptstadt Addis Abeba in unterschiedliche Landesteile, der mit finanzieller Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft, die 40 Prozent des äthiopischen Staatshaushaltes deckt, finanziert und von europäischen und asiatischen Firmen realisiert wurde.

Die Verbesserung der Verkehrswege trägt gewiss zu einer Erleichterung des inländischen Waren- und Handelsflusses bei und kann damit auch die Außenwirtschaft Äthiopiens positiv beeinflussen, deren Erlöse aus dem Hauptexportgut Kaffee der schwachen Weltmarktpreise wegen allerdings seit Jahren rückläufig sind. Der Neubau eines großen Zementwerkes in der Nähe von Mekele im Norden des Landes wird die Baukosten in der Region, bedingt durch früher hohe Transportkosten, reduzieren helfen.

Folgen des Bruderkrieges mit Eritrea

Der unübersehbare Bauboom in der Vier-Millionen-Stadt Addis Abeba, begünstigt durch eine Lockerung des gesetzlich festgeschriebenen Verbots privaten Grundbesitzes, hält an. Mammutprojekte wie der Neubau des Internationalen Flughafens von Addis Abeba und der mehrspurigen Schnellstraße um die Metropole sollen das Land für ausländische Investoren attraktiver machen und der „Hauptstadt Afrikas“, die Sitz der Afrikanischen Union (AU) und damit Gastgeberin diplomatischer Vertretungen aus aller Welt ist, ein zukunftsweisendes Gesicht geben.
Die Hauptstadt wirkt so noch mehr wie ein Magnet - insbesondere auf Jugendliche aus den rückständigen ländlichen Regionen des Landes. Sie finden freilich in Addis Abeba die erhoffte Arbeit meist nicht. Die jetzt bereits bei weitem größte Stadt des Landes wächst jährlich um rund acht Prozent und mit ihr auch die Elendshütten und die Zahl der Bettelnden in den Straßen der Innenstadt.

Die Reform des Schulbildungssystems, die nach der zehnten Klasse eine Differenzierung in einen zweijährigen, auf die Hochschulreife zielenden Zweig oder einen ebenso langen berufsbildenden Zweig vorsieht, wird von den Verantwortlichen in Schulen der Katholischen Kirche, die mit mehr als 225 Einrichtungen der größte private Schulträger in Äthiopien ist, als zu frühe Festlegung der Jugendlichen auf ihre spätere Berufswahl kritisiert. Die Gründung von Hochschulen und Universitäten in den unterschiedlichen Regionen des Landes führte zwar zu einer deutlichen Erhöhung der Studentenzahlen. Doch muss sich die Regierung damit abfinden, dass die Mehrzahl der Studierenden die eingeführten Studiengebühren auch nach Beendigung des Studiums nicht wird zurückzahlen können. Die Aussicht auf eine der Berufsausbildung oder dem Studium angemessene Stelle ist bei der nach wie vor hauptsächlich auf Subsistenz-Ackerbau, Kleinviehhaltung und Kleinhandel basierenden Volkswirtschaft und der ohnehin schon großen verdeckten Arbeitslosigkeit im Land, über deren genaue Höhe keine verlässlichen Zahlen vorliegen, eher gering.

Wie immer auch die Wahlen in Äthiopien im einzelnen ausgehen werden - auch die neue Regierung wird mit gravierenden innen- und außenpolitischen Herausforderungen konfrontiert sein. Zu diesen gehört gewiss die Klärung der noch offenen Grenzziehungsfragen mit dem nördlichen Nachbarn Eritrea nach dem blutigen „Bruderkrieg“ zwischen 1998 und 2000, der damals in der unwirtlichen Gebirgsregion Tigrays tobte und zu gewaltigen Zerstörungen vor allem in den äthiopischen Grenzstädten Zalambessa und Badme geführt hatte, zu Vertreibungen der Zivilbevölkerung und zu schätzungsweise 100.000 Toten auf beiden Seiten. Die geschlossene Grenze, die seitdem Familien und Angehörige desselben Volkes voneinander trennt, wird seit dem Friedensvertrag von Algier im Dezember 2000 von einer 3.800 Mann starken UN-Friedenstruppe gesichert, die eine 25 Kilometer breite Pufferzone auf eritreischem Gebiet absichert. Es läge an Äthiopien, über den eigenen Schatten zu springen und die von einer unabhängigen Grenzkommission im April 2002 festgesetzte Demarkationslinie endlich vollständig zu akzeptieren, damit um des Friedens willen wieder eine Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen möglich wird und man sich auf beiden Seiten der Grenze wieder verstärkt den wirklich drängenden Binnenproblemen widmen kann.

Die Katholischen Bischöfe von Eritrea und Äthiopien, die sich der geschlossenen Grenze wegen außerhalb ihrer Heimatländer zu ihren jährlichen Plenarversammlungen treffen müssen, ermahnten in gemeinsamen Erklärungen zum wiederholten Male ihre Regierungen, dem friedlichen Miteinander und der Versöhnung ihrer Völker Vorrang zu geben, und zitierten dabei die Worte Papst Johannes Paul II.: „Wenn wir nicht in Eintracht zusammen gehen, dann gehen wir getrennt in den Untergang“. Zu den schwerwiegenden Problemen, denen sich die Regierungen annehmen müssen, gehören die in immer kürzeren Abständen wiederkehrenden Nahrungsmittelengpässe infolge von anhaltenden Dürreperioden und die Bedrohung der Bevölkerung durch Krankheiten wie Malaria und HIV/AIDS.

Vor allem Kinder werden Opfer von AIDS

Nach der UNDP-Armutsskala rangiert Äthiopien auf Platz 171 von 175 Staaten. Drei Fünftel der äthiopischen Bevölkerung leiden an chronischer Unterernährung. Der „strukturelle Nahrungsmittelmangel“ vor allem in den nördlichen Landesteilen, bedingt durch inländische Verteilungsprobleme, Bevölkerungswachstum, unsachgemäßen Holzeinschlag, Bodenerosion und schlechte Niederschlagsverteilung, führt dazu, dass selbst in regenreichen Jahren etwa acht Millionen Menschen in Äthiopien von Nahrungsmittelhilfe über internationale Ernährungsprogramme abhängig sind, weil die inländische Lebensmittelproduktion nicht ausreicht, um den täglichen Bedarf zu sichern.
Die Ernährungslage verschärfte sich in den zurückliegenden Jahrzehnten durch periodisch wiederkehrende Dürreperioden und wechselnde Regierungen, die nicht in der Lage waren, angemessene Maßnahmen zu entwickeln, um die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. So kam es regelmäßig zu dramatischen Hungersnöten wie zum Beispiel in den Jahren 1972/73 und 1984/85 mit Hunderttausenden von Toten im Land. Der Versuch der Regierung, die Hungerkatastrophe Anfang der 1970-er Jahre zu ignorieren und vor der Weltöffentlichkeit geheim zu halten, war letztlich der Auslöser für den Sturz von Kaiser Haile Selassie im September 1974 durch das Militär.

Auch die zukünftige Regierung wird den Erfolg ihrer Politik daran messen lassen müssen, inwieweit es ihr gelingt, Strategien zur dauerhaft ausreichenden Nahrungsmittelversorgung und zur Verhinderung von Hungerkatastrophen zu entwickeln und umzusetzen. Ein wichtiger Partner kann dabei die nationale Sozial- und Entwicklungskommission SADCO (Social and Development Commission) der Katholischen Kirche sein, deren Arbeit darauf zielt, zu einer integralen menschlichen Entwicklung an der Basis beizutragen, vor allem in den Bereichen Erziehung, Gesundheitsfürsorge, HIV/AIDS-Prävention, Familienplanung, Frauenförderung, Not- und Katastrophenhilfe, landwirtschaftlicher Entwicklungsarbeit, Trinkwasserversorgung sowie genossenschaftlicher Kleinkreditvergabe im bäuerlichen und handwerklichen Sektor. Ein besonderer Arbeitsschwerpunkt sieht SADCO derzeit in der Entwicklung und Umsetzung eines Programms zur Nahrungssicherung in den gefährdeten Dürregebieten unter Einbindung der vorhandenen landesweiten diözesanen Strukturen, um Hungersnöte in Zukunft verhindern zu helfen.
In Äthiopien stürben alle sechs Monate mehr Kinder an Malaria als der Tsunami in Südostasien an Todesopfern gefordert habe; täglich fielen in seinem Heimatland, so die provokative Aussage des Erzbischof von Addis Abeba, Souraphiel Berhaneyesus, bei einem Besuch in Dublin Anfang Februar, „sechs Flugzeugladungen Kinder“ vermeidbaren Krankheiten zum Opfer. Seit dem Ende der Hungerkatastrophe Mitte der achtziger Jahre seien in Äthiopien fast zehn Millionen Kinder an Malaria, Durchfall und ähnlichen Krankheiten gestorben.

HIV/AIDS ist jedoch inzwischen zum „Killer Nr. 1“ in Äthiopien geworden. Die Infektionsrate konnte zwar durch breitangelegte Aufklärungskampagnen über Medien, Militär und Mitarbeiter privater und öffentlicher Organisationen stabilisiert werden, jedoch, wie der Premierminister jüngst in einem Interview bekennen musste, auf einem hohen Niveau. Die Gesamtzahl der HIV-infizierten Menschen in Äthiopien wird nach einem im Januar vorgelegten Regierungsbericht mit 1,5 Millionen angegeben, davon sind mehr als 54 Prozent Frauen. Ursache dafür sind u.a. die unhygienischen Methoden der „Beschneidung“. Diesen tradierten, menschenverachtenden Praktiken der Genitalverstümmelung fallen in Äthiopien noch immer schätzungsweise 90 Prozent der Mädchen und jungen Frauen zum Opfer. Trotz riesiger Plakate an fast allen Ortseingängen im Land, die in meist drastischen Darstellungen die Ansteckungswege und Gefahren der Krankheit veranschaulichen, sind allein im vergangenen Jahr mehr als 115.000 Menschen an AIDS gestorben.

Ein bemerkenswerter Hirtenbrief der katholischen Bischöfe

Vor allem die Kinder sind Opfer der HIV/AIDS-Pandemie, wie ein Bericht des äthiopischen Gesundheitsministeriums vom Dezember vergangenen Jahres feststellt. Äthiopien ist nicht nur das Land mit der weltweit höchsten HIV-Infektionsrate unter Kindern. Auch die ohnehin enorm hohe Zahl von 4,6 Millionen Waisenkindern wird durch die AIDS-Pandemie in den kommenden Jahren noch dramatisch anwachsen. Dabei übersteigt jetzt schon vielfach die Zahl der jede Nacht in den Straßen Addis Abebas und anderer Städte ausgesetzten und in katholischen Waisenhäusern abgegebenen Findelkinder die Aufnahmekapazität und Finanzierungsmöglichkeit der von Schwesterngemeinschaften geleiteten Einrichtungen. Allein 2004, so die Regierungsauskunft, wurden 500.000 Kinder zu Waisen, weil ihre Eltern an AIDS gestorben sind. Inwieweit die Regierung nach den Wahlen in der Lage sein wird, Fortschritte in ihrer AIDS-Politik zu machen und den betroffenen Menschen, vor allem den Kindern, eine Zukunftsperspektive zu bieten, wird sich zeigen.

Die katholische Kirche in Äthiopien jedenfalls ist bereit, die Regierung in ihrem Bemühen um eine friedliche Zukunftsgestaltung des Landes und eine ganzheitliche Entwicklung aller Bürgerinnen und Bürger ohne Unterschied zu unterstützen. In einem beachtenswerten programmatischen Pastoralbrief unter dem Titel „The Church we want to be“ haben die zehn katholischen Bischöfe bereits im Dezember 2002 das Selbstverständnis ihrer Kirche dargelegt und die ihr gestellten pastoralen Herausforderungen benannt. Dazu zählen sie u.a. die Auswirkungen der Globalisierung vor allem auf die Jugend des Landes. Die neue Generation fühle sich nicht mehr den traditionellen Werten ihrer Vorfahren verbunden und dadurch werde die kulturelle Kluft zwischen den Generationen immer größer. Die Bischöfe weisen zudem auf die Gefahren hin, die für ihr Land durch den „Virus des neo-liberalen Kapitalismus“ entstehen könnten. Er bewirke, dass in einem Kontext der “strukturellen Ungerechtigkeit“ nur noch materielle Produktion und Profit zählten, so dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden.

Die Bischöfe rufen in ihrem Schreiben die vielen tausend unversorgten Witwen und Waisen sowie die vertriebenen und arbeitslosen Menschen in Erinnerung, die der Krieg mit Eritrea zurückgelassen hat. Sie beklagen die negativen Auswirkungen der patriarchalischen Gesellschaften Äthiopiens, in denen die Frauen oft nur als „Bürger zweiter Klasse“ angesehen werden. Als besondere gesellschaftliche Übel prangern die Bischöfe die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung, die Zwangsverheiratung, den Mädchenhandel und die Benachteiligung von Witwen an. Die Bischöfe kritisieren, dass es nicht ausreiche, wenn die Politiker davon sprächen, die Jugend sei die Hoffnung für die Zukunft des Landes, wenn die Jugend keine Hoffnung habe, die Gegenwart zu meistern.
Selbstkritisch bemerken die Bischöfe, dass sie nicht immer von ihrem gesetzlich verbrieften Recht der Religionsfreiheit Gebrauch machten, um dadurch ihrer prophetischen Rolle deutlicher gerecht zu werden. Zum Wohle der Menschen in Äthiopien fühlen sie sich jedoch verpflichtet, in stärkerem Maße mit den anderen Konfessionen und Religionsgemeinschaften zusammenarbeiten. Dabei zeigen sie sich davon überzeugt, dass der Weg zur christlichen Einheit nicht über die gemeinsame Formulierung theologischer Lehrsätze führt, sondern sich am besten in der Zusammenarbeit realisieren lässt mit dem Ziel, gemeinsam auf die Probleme und Nöte der Armen zu antworten.

Zur Person:
Hans-Peter Hecking (geb. 1955), studierte Theologie und Politikwissenschaften. Ausbildung zum Pastoralreferenten in Trier. Seit 1983 arbeitet er bei Missio in Aachen, bis 1989 als Bildungsreferent, seit 1989 als Länderreferent für Asien und ab 1997 für Afrika. Seit Anfang 2002 Leiter des Afrikareferates bei Missio. Auf Einladung der südafrikanischen Bischofskonferenz war er 1999 als internationaler Wahlbeobachter in der Republik Südafrika. Er unternahm zahlreiche Recherche und Projektreisen in asiatische und afrikanische Länder, zuletzt im Herbst vergangenen Jahres nach Äthiopien.



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