Äthiopien: Die letzte Chance der Ultranationalisten
Die Zone zwischen Krieg und Frieden
Von Armin Köhli, Adigrat
Im Folgenden dokumentieren wir - mit Kürzungen - einen Hintergrundbericht aus der Schweizer Wochenzeitung WoZ vom 14. Februar 2002.
... Aiga besteht nur aus ein paar Häusern, aber es
liegt auf dem zweithöchsten Berg der Gegend und bietet einen
grossartigen Ausblick in alle Richtungen. Entsprechend hart umkämpft war
der Weiler. Das - momentan - äthiopische Aiga gehört zu jenem Teil des
äthiopisch-eritreischen Grenzgebietes, den Eritrea für sich beansprucht
und 1998 besetzte. Heute zielen noch einige äthiopische
Artilleriegeschütze in Richtung Eritrea. «Von hier oben, von Aiga, kamen
die eritreischen Soldaten zu uns ins Tal hinunter», erzählt der Kleinbauer
Yohanis Tesfaye.
Aiga gehört zum Irob-Distrikt, jener Gegend in Äthiopiens Norden, in der
sich die katholische Kirche zu verankern wusste. Die BewohnerInnen des
Irob verstehen sich als eigenes kleines Volk, als Irob. Vom nächsten
Städtchen, dem etwa 45 Kilometer entfernten Adigrat - voll mit Soldaten
und den deshalb unvermeidlichen Schummerbars - dauert die Fahrt knapp
zwei Stunden ins Zentrum des Irob. Die Piste führt vom etwa 2600 Meter
über Meer gelegenen Adigrat in einen Canyon hinunter und ist etwa bis zur
Hälfte des Weges von der äthiopischen Armee gut ausgebaut worden.
Danach wird sie sandig und steinig, und sie durchquert eine grandiose,
zerklüftete Gebirgslandschaft. Wo immer möglich, sind einige terrassierte
Felder angelegt (in den letzten drei Jahrzehnten gebaut mit Hilfe der
Schweizer Caritas). Auf einzelnen Flecken stehen riesige Kakteen so
dicht, dass sie schon fast einen kleinen Wald bilden. Etwa 80 000
Menschen leben hier und in den angrenzenden Landstrichen: Hirten mit
ihren kleinen Rinder-, Ziegen- und Schafherden, Kleinstbauern, die Gerste,
Mais, Hirse und Weizen anbauen. Doch der Hunger kehrt immer wieder in
den Irob zurück. Manche Dörfer sind nur durch stundenlange Fussmärsche
zu erreichen, zu anderen führen neuerdings für geländegängige Fahrzeuge
befahrbare Pisten - während des Krieges als militärische Zufahrtsstrassen
gebaut. Auch nach Aiga führt eine neue Piste.
Der Irob bildet nur einen kleinen Abschnitt der äthiopisch-eritreischen
Grenze. Äthiopien zählt es zu seinem Staatsgebiet, Eritrea hält den
nördlichen Teil für eritreisch, denn alte italienische Landkarten schanzten
ihn der seinerzeitigen italienischen Kolonie Eritrea zu.
Die äthiopische Armee rühmt sich, seit Kriegsende 140 000 Soldaten
demobilisiert zu haben, 75 000 mehr als in einem Abkommen mit der
Weltbank vereinbart. Doch Militärbeobachter der Unmee (United Nations
Mission in Ethiopia and Eritrea) erzählen in Adigrat freimütig, dass
Äthiopien lediglich alte, kranke und dienstunwillige Soldaten ausgemustert
habe, was die Kampfkraft der Armee nicht schmälere. Das Gleiche gelte
für die eritreische Seite: Dort seien Soldaten einfach zu Polizei und Miliz
versetzt worden. Immerhin, von ihren heutigen Stellungen aus sei keine der
beiden Armeen fähig, einen Krieg zu beginnen. Doch das könne sich
schon innerhalb einer Woche ändern. Die Lage ist so kurz vor dem für
Ende Februar erwarteten Entscheid der Grenzkommission sehr gespannt.
Bewaffnete Truppen der Unmee kontrollieren die entmilitarisierte
Sicherheitszone auf eritreischem Gebiet. Kleine Verstösse gegen das
Waffenstillstandsabkommen, Provokationen also, sind an der
Tagesordnung, berichten Unmee-Beobachter. Die gefährlichste denkbare
Entwicklung wäre der Einmarsch eritreischer Truppen in die
Sicherheitszone nach einer als ungerecht empfundenen Grenzziehung.
Seit Kriegsende gab es in der Sicherheitszone 162 Minenunfälle mit 69
Toten und 149 Schwerverletzten. In letzter Zeit seien gar wieder neue
Minen verlegt worden, berichtet ein Kommandant der Unmee, noch sei
nicht klar von wem. Doch grauenvoll seien nicht nur die Minen, ergänzt er:
«Im zentralen und im östlichen Sektor der Sicherheitszone liegen immer
noch Leichen, die keiner haben will. Noch mehr Tote kann keine Regierung
brauchen.»
Hauptort des Irob ist Alitena, ein aus gemauerten Häusern bestehendes
Dörfchen, in einem Talkessel auf noch gut 1500 Metern über Meer
gelegen. Yohanis Tesfaye lebt in Alitena. «Vereinzelt kursierten damals
Gerüchte, dass etwas passieren könnte», erzählt er. Doch der Krieg kam
1998 wie ein Sturm über die Bauern, sie waren völlig unvorbereitet. Tesfaye
floh nach zwei, drei Wochen, als klar war, dass sich die Lage nicht so
schnell ändern würde, und der Druck der Besatzungstruppen zunahm.
«Wir verliessen Alitena überstürzt, wir haben alles hinter uns gelassen, die
Häuser unverschlossen, die Tiere in den Ställen. Nicht alle
Familienmitglieder konnten zusammenbleiben, wir wurden verstreut auf
viele Orte.» Tesfaye blieb während der ganzen Dauer des Krieges im nahe
gelegenen Ara'alo, die Flüchtlinge lebten dort in Höhlen und kleinen Zelten
des Uno-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR. Nach Kriegsende liefen sie
einfach los, zurück in den Irob. «Regierungsvertreter sagten uns: 'Eure
Dörfer sind jetzt wieder frei, aber nehmt euch in Acht vor den Minen
ausserhalb der Dörfer!'»
Das Leben hat sich im Irob wieder einigermassen normalisiert. Hin und
wieder bedient sogar ein Minibus das Tal, so weit er vorzudringen vermag.
In Alitena gab es ausser Diebstahl von Eigentum und sämtlichen Tieren
kaum Zerstörungen. Das italienische Hilfswerk Coopi hilft bei der
Instandstellung von beschädigten Häusern, und die US-amerikanische
staatliche Entwicklungsagentur USAid finanziert eine Reihe von
Wiederansiedlungsprojekten, um diesem Aussenposten der Christenheit
an der Grenze zu mehrheitlich islamischem Gebiet zu helfen. Die Irob
betreiben wieder Viehzucht und Ackerbau - wenn da nur nicht immer noch
die Minenfelder wären!
Die Bauern mussten wieder bei null beginnen. Über die lokale Verwaltung
erhielten die Familien Unterstützungsbeiträge der Weltbank, mit denen sie
sich Kühe, Ochsen, Ziegen, Schafe, Esel oder Bienen kaufen und Mobiliar
anschaffen konnten. Doch Vieh gab es nur noch in weit entfernten Städten
wie Mekele und Wukro zu kaufen. Dort zwar zu normalen Preisen, doch
einen Hirten zu engagieren, der die Tiere in den Irob brachte, oder gar der
Transport im Kleinlastwagen verschlang vergleichsweise horrende
Summen. Die Irob sind noch längst nicht beim kärglichen Lebensstandard
der Vorkriegszeit angekommen.
Im Irob hat jede Familie eritreische Verwandte, für die Familienbande
existierte keine Grenze. Seit nunmehr drei Jahren gibt es keinen Kontakt
mehr. Und wenn die Uno-Grenzkommission den umstrittenen nördlichen
Teil des Irob, also auch Alitena, Eritrea zusprechen würde? Tesfaye ist
ehrlich empört. «Alitena gehört zu Tigre! Die Eritreer haben es versucht,
sie werden Alitena nicht kriegen.» Tesfayes Wut ist echt. Wenn die
Grenzkommission nun aber doch ...? «Dann müssten wir hier weggehen.»
Genau so antwortet auch Abba Alema, der 73-jährige katholische Priester
von Alitena. Er sei als Letzter in Alitena geblieben, «schliesslich bin ich ja
verantwortlich für die Kirche». Dann hätten ihn eritreische Soldaten
gewaltsam weggeschafft, in ein informelles Lager in der Nähe der
eritreischen Stadt Senafe. Dort blieb er, «zusammen mit tausenden
anderen Flüchtlingen. Wir ernährten uns von dem, was die Umgebung
hergab, wir erhielten nur ganz vereinzelt Lebensmittelhilfe von aussen.»
Abba Alema vermutet, dass keine internationale Organisation etwas
wusste von dem Flüchtlingslager bei Senafe. Als sich die eritreische
Niederlage abzeichnete, flüchtete er und machte sich auf zurück nach
Alitena. «Alitena ist Tigre, nicht Eritrea. Wenn die Kommission wirklich
anders entscheiden würde, müssten wir gehen.» Für die Irob wäre es
fürchterlich, wenn der nördliche Irob Eritrea zugesprochen würde.
Solche Kleinigkeiten wie der genaue Grenzverlauf im Irob-Distrikt
interessieren im fernen Addis Abeba wenig. In der äthiopischen Hauptstadt
diskutiert man die «grossen» Fragen, hier braucht man die grossen Worte.
Die oppositionelle private Presse debattiert ganz offen, ob die äthiopische
Armee nicht den eritreischen Hafen Assab «zurückerobern» sollte.
Während der Premierminister Meles Zenawi am 29. Januar in einer vom
Fernsehen direkt übertragenen Rede vor dem Parlament betonte, die
Äthiopier seien kriegsmüde und die Grenzkommission werde einen
gerechten Entscheid fällen, behaupten Oppositionelle das Gegenteil. Sie
werfen Zenawi gar vor, «mit den Eritreern gemeinsame Sache zu machen».
Ein Entscheid, der Äthiopien als Binnenland belasse, sei nicht akzeptabel
(obwohl ein Meereszugang für Äthiopien gar nicht zur Diskussion steht;
geregelt wird nur der Grenzverlauf zwischen Äthiopien und Eritrea). «Wir
leben seit Jahrzehnten mit Krieg. Ein Jahr mehr oder weniger, was heisst
das schon, wenn wir dafür Assab zurückbekommen», meint etwa Lullit
Michael, die Chefredaktorin der englischsprachigen Tageszeitung «The
Daily Monitor». Öffentlich kann die chauvinistische, von der traditionell
mächtigsten Bevölkerungsgruppe Äthiopiens, den AmharInnen, geprägte
Opposition solche Positionen allerdings nur indirekt vertreten. Deshalb
zitiert man die Stimmen von AuslandsäthiopierInnen, vor allem aus den
USA. Darunter sind auch solche, die schon 1991, nach dem Sturz
Mengistu Haile Mariams, die Selbständigkeit Eritreas ablehnten. Der
Entscheid der Grenzkommission scheint für längere Zeit die letzte
Möglichkeit für diese Kreise, die Unabhängigkeit oder zumindest das
Territorium Eritreas in Frage zu stellen. Entsprechend mobilisiert die
nationalistische Opposition. Für den Montag nach dem
Kommissionsentscheid haben die Äthiopische Demokratische Partei und
die Allamharische Volksorganisation eine Demonstration im Zentrum von
Addis Abeba angekündigt. Sollten die Proteste an Macht gewinnen, ist es
nicht schwer vorauszusehen, dass die autoritäre Regierung Zenawi mit
harten Massnahmen reagieren wird. Schon vor knapp einem Jahr hat
Zenawi die kriegerische Fraktion innerhalb seiner TPLF (Tigrinische
Volksbefreiungsfront) kaltgestellt. Absurderweise wird Zenawi erneut
repressive Mittel einsetzen müssen, um die KriegstreiberInnen der
Oppositionsparteien und der freien Presse zu bremsen.
Die Stadt Salambessa liegt an der Grenze zu Eritrea, etwa vierzig
Kilometer von Adigrat entfernt. Doch als Grenzstadt wird Salambessa so
bald nicht wieder funktionieren, die Grenze bleibt noch lange geschlossen.
Salambessa ist völlig zerstört, kein einziges Haus steht mehr, und das
einzige noch intakte Hausdach liegt auf dem Boden - die Hausmauern
existieren nicht mehr. Die 45-jährige Lemlem Teklu, die aussieht wie eine
Sechzigjährige, ist nach Salambessa zurückgekehrt. «Fünf Monate nach
der Befreiung, um hier ein wenig Geld zu verdienen. Meine Familie blieb in
Adigrat, mein Mann sucht dort nach Gelegenheitsarbeiten.» Teklu
übernachtet in einer Wellblechbude. Davor hat sie eine weitere Bude
eingerichtet: Wellblech und Zeltplanen umspannen eine Trägerkonstruktion
aus dünnen Stämmen. Darin stehen zwei kleine Tischchen, darum herum
gruppiert kleine Sitzbänke aus aufgeschichteten Steinen, belegt mit
Bahnen aus alten Getreidesäcken. Teklu kocht Tee auf einem kleinen
Holzkohlen-Rechaud. Ihre Teestube steht direkt am alten Zentrum
Salambessas, am Anfang einer ganzen Zeile von Buden entlang der
Hauptstrasse, die ebenfalls als Teelokale oder als Kioske dienen. «Früher
verkaufte ich Mehl auf dem Markt, heute kann ich bloss Tee kochen. Ich
verdiene 4 bis 5 Birr pro Tag (etwa 90 Rappen).» Davon kann sie - selbst
im entlegensten Äthiopien - nicht mehr als zwei, drei Brote kaufen. Die 15
Kilo Lebensmittelhilfe, die sie monatlich erhält, muss sie in Adigrat
abholen. Zu Fuss, natürlich. Meistens teilen sich ein paar Leute einen Esel
für den Transport.
In den Ruinen Salambessas leben heute etwa 100, 200 Menschen, die
anderen früheren BewohnerInnen blieben wie Teklus Familie als Flüchtlinge
in und um Adigrat. Salambessa ist eine Art äthiopische Landzunge in
eritreischem Gebiet - es ist gut möglich, dass das Land im Zuge einer
Grenzbegradigung Eritrea zugesprochen wird. Am gleichen Ort jedenfalls
wird Salambessa nicht auferstehen: Die Regierung plant den Wiederaufbau
etwa zehn Kilometer entfernt, am Fusse eines Berges. Da wird die Stadt
vor Angriffen geschützter sein.
Aus: WoZ, 14. Februar 2002
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