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Eingeschränkte Souveränität

Analyse. Israel und der Westen wollen freie Entscheidung Ägyptens über seine Außenpolitik verhindern

Von Knut Mellenthin *

Erinnert man sich noch an die Doktrin von der »eingeschränkten Souveränität«? Sie wird dem früheren KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew zugeschrieben, der damit die Militärintervention des Augusts 1968 in der Tschechoslowakei begründet haben soll. Was Breschnew wirklich wann und wo gesagt hat und ob dabei tatsächlich von »eingeschränkter Souveränität« die Rede war, ist in den dichten Nebelschwaden der antisozialistischen Propaganda nicht mehr genau und sicher auszumachen.

Jedenfalls ging es im Kern darum, daß einem Land das Recht abgesprochen wurde, autonom über seinen Austritt aus einem strategischen Bündnis zu bestimmen. Die Begründung lautete ungefähr, daß die weltpolitischen Folgen einer solchen Entscheidung zu schwerwiegend wären, um sie einem einzelnen Staat und seiner Bevölkerung zu überlassen. Es läßt sich manches zugunsten dieser Theorie anführen, aber vor allem sehr vieles dagegen. Sie negiert Demokratie und Selbstbestimmungsrecht – und sie hat letztlich auch dem Staatenblock des sogenannten real existierenden Sozialismus nicht gutgetan. Im Grunde stellt eine derartige Doktrin einen untauglichen Versuch dar, sich gegen den absehbaren Zusammenbruch zu stemmen.

»Ordentlicher Übergangsprozeß«

Es ist deshalb ganz natürlich, daß wir gegenwärtig angesichts des sich ausbreitenden Aufstands in den vom westlichen Imperialismus kontrollierten arabischen Staaten einen Rückgriff auf die Doktrin der »eingeschränkten Souveränität« erleben. Die zentrale Frage ist in diesem Moment und in den kommenden Wochen und Monaten, ob es Ägypten erlaubt werden darf, seine bisherige außenpolitische Orientierung zu überprüfen und auf demokratischer Grundlage neu zu bestimmen.

Das führt unvermeidlich weiter zur nächsten Frage: Dürfen die Ägypter eine Regierung bilden, an der Kräfte beteiligt sind, die dem Westen und ihrem nördlichen Nachbarn Israel gegenüber weniger devot eingestellt sind als das Mubarak-Regime, das seit 1981 mit terroristischen Mitteln jede Opposition unterdrückt hat? Oder würde der Westen eine solche Regierung ähnlich behandeln, nämlich brutal isolieren und aushungern, wie er es mit jener getan hat, die im Januar 2006 aus den Wahlen in den Palästinensergebieten hervorging? Würden die USA gar ihren Sturz inszenieren, wie sie es 1953 im Iran und 1973 in Chile getan oder 1961 in Kuba vergeblich versucht haben?

Hintergrund dieser Fragestellung ist, daß sich der Westen mit dem Folterregime von Mubarak und Suleiman nicht etwa nur jahrzehntelang opportunistisch arrangiert hat, sondern daß es genau dieser Terrorherrschaft bedurfte, um Ägypten auf einem außenpolitischen Kurs zu halten, der laut Umfragen von über 90 Prozent der Bevölkerung abgelehnt wird. Das erklärt die vehementen Einmischungsversuche westlicher Politiker, die jetzt vor »übereilten« Wahlen und überhaupt vor einer »allzu raschen« Demokratisierung warnen.

US-Präsident Barack Obama hat die Doktrin der eingeschränkten Souveränität am vorigen Sonntag in einem Gespräch mit dem weit rechts stehenden Sender Fox News in ebenso gefälliger wie unauffälliger Form vorgetragen: »Ich habe volles Vertrauen, daß wir, wenn sich Ägypten in einem ordentlichen Übergangsprozeß bewegt, eine Regierung bekommen werden, mit der wir als Partner zusammenarbeiten können.« Betrachtet man diese Formulierung genauer, so besagt sie eigentlich nur, daß die USA eine Entwicklung, die zu einer aus westlicher Sicht problematischen Regierung führt oder führen könnte, eben nicht als »ordentlich« anerkennen werden. Das ist vom Standpunkt des US-Imperialismus, der »globale Führerschaft« für sich beansprucht, eine ganz normale Betrachtungsweise. Die Frage ist wieder einmal, wie weit die USA zu gehen bereit sind, um ihre Ziele durchzusetzen. So weit wie in Chile 1973?

Ein strategischer Frieden

Der US-Senat hat am 3. Februar einstimmig eine Resolution verabschiedet, die bereits klare Forderungen an Mubaraks Nachfolger enthält: »Es ist von lebenswichtiger Bedeutung, daß jede ägyptische Regierung fortfährt, ihre internationalen Verpflichtungen zu erfüllen. Dazu gehört die Einhaltung des ägyptisch-israelischen Friedensvertrags, der am 26. März 1979 unterzeichnet wurde, und die Freiheit der Schiffahrt durch den Suezkanal.« Darüber hinaus heißt es in der Resolution: Der Senat »drückt seine tiefe Besorgnis aus über alle Organisationen, einschließlich der Moslembruderschaft, die eine extremistische Ideologie unterstützen. Er fordert alle politischen Bewegungen und Parteien in Ägypten, einschließlich einer künftigen Übergangsregierung, auf, ihre Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit und zur Herrschaft des Rechts zu bekräftigen, zu gleichen Rechten für alle Individuen, zu rechenschaftspflichtigen Justizorganen, religiöser Toleranz und friedlichen Beziehungen zu Ägyptens Nachbarn.«

Gemeint ist trotz der scheinheiligen Pluralform selbstverständlich nur ein einziges Nachbarland: Israel. Der zionistische Staat hat die mehr als dreißigjährige, friedensvertraglich garantierte Ruhe an seiner Südgrenze genutzt, um seine Herrschaft über die besetzten Gebiete Gaza und Westbank so auszubauen und zu verfestigen, daß heute ein palästinensischer Staat nur noch illusorisch ist. In der gleichen Zeit haben die israelischen Streitkräfte größere und kleinere Überfälle auf den Libanon verübt, denen Tausende Zivilisten zum Opfer fielen und durch die bedeutende Teile der libanesischen Infrastruktur zerstört wurden. Der erste große militärische Vorstoß in den Libanon, die Operation Litani, begann am 14. März 1978. Rund ein halbes Jahr zuvor, im November 1977, war Präsident Anwar Al-Sadat überraschend nach Jerusalem gereist und hatte mit einer Rede vor der Knesset die Wende in der ägyptischen Außenpolitik angekündigt. Eine noch weitaus umfangreichere Offensive begann am 6. Juni 1982. Die israelischen Streitkräfte drangen bis Beirut vor, wo sie wochenlang des PLO-Hauptquartier von Yasser Arafat belagerten.

Kurz gesagt: Der sichere Friede mit Ägypten war eine wesentliche Voraussetzung für den gesteigerten Einsatz militärischer und repressiver Gewalt an anderen »Fronten«. Er war auch der unmittelbare Hintergrund für die explizite Annektion Ostjerusalems 1980 und der syrischen Golan-Höhen 1981.

Bollwerk Mubarak

Über die militärischen Folgen des Friedensvertrages schrieb Yossi Alpher am 31. Januar in der in den USA erscheinenden jüdischen Zeitschrift Forward: »Der vor rund drei Jahrzehnten geschlossene Friede mit Ägypten machte es den israelischen Streitkräften möglich, ihre Personalstärke und ihr Einsatzniveau im Süden radikal zu reduzieren, das Alter zu senken, in dem Reservisten nicht mehr zum Dienst herangezogen werden, und generell ihre Militärübungen für Panzerschlachten und großangelegte Offensiven herunterzufahren. Statt dessen konnte die Armee Taktiken für die Konfrontation mit Palästinenser­unruhen und für die Bewältigung von Guerilla­angriffen durch nicht-staatliche Akteure wie Hamas und Hisbollah entwickeln.«

Einen anderen Aspekt beleuchtete Leslie Susser am 1.Februar in einem Beitrag für die in den USA ansässige jüdische Nachrichtenagentur JTA: »Die strategische Bedeutung des Friedens mit Ägypten zeigte sich während mehrerer Krisen im vergangenen Jahrzehnt: Ohne diesen Frieden hätten die zweite palästinensische Intifada (2000–2005), der zweite Libanonkrieg (2006) und der Gazakrieg (2008–2009) leicht zum Auslöser für umfangreichere regionale Feindseligkeiten werden können.« – Mubarak habe »als Bollwerk gegen regionales Chaos gedient und war jahrzehntelang ein zentraler Pfeiler der amerikanischen Strategie gegen die vom Iran geführten radikalen Kräfte«. Deshalb, so der Autor, seien viele Israelis verbittert über die mangelnde Unterstützung Mubaraks durch den Westen in der gegenwärtigen Krise.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch ein Artikel von Ethan Bronner, der am 30. Januar in der New York Times zu lesen war: »Seit langem bestand die Sorge, daß die Volksstimmung in Ägypten antiisraelisch ist. Eli Schaked, ein früherer israelischer Botschafter in Kairo, schrieb in der Zeitung Yediot Aharonot: ›Die einzigen in Ägypten, die sich dem Frieden verpflichtet fühlen, sind die Leute in Mubaraks innerem Zirkel. Wenn der nächste Präsident keiner von ihnen ist, werden wir große Probleme kriegen.‹«

Mit Geheimdienstchef Omar Suleiman als Nachfolger Mubaraks, so Bronner weiter, könne Israel beruhigt sein. Aber jeder andere Ausgang der politischen Krise in Ägypten könne bedeuten, daß Israel in der Region ganz ohne Verbündeten dastehe, da auch das Verhältnis des jordanischen Königs Abdullah II. zur Rechtsregierung von Benjamin Netanjahu frostig sei.

Status quo sichern

Zu möglichen Folgen einer außenpolitischen Neuorientierung in Kairo schreibt Bronner: »Für das israelische Militär würde ein ernsthafter Wechsel in Ägypten eine strategische Verschiebung der Planung bedeuten. Giora Eiland, ein ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater und führender Mitarbeiter am Institut für Nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv, meint: Selbst wenn Ägypten den Friedensvertrag nicht morgen oder in fünf Jahren kündigt, würde eine von der Moslembruderschaft dominierte Regierung bedeuten, daß man die Möglichkeit eines Krieges mit Ägypten nicht mehr ausschließen kann. ›Während der letzten 30 Jahre‹, sagt Eiland, ›konnten wir bei jeder militärischen Konfrontation, sei es im ersten oder im zweiten Libanonkrieg, oder seien es die Intifadas, immer darauf vertrauen, daß Ägypten nicht versuchen würde, militärisch einzugreifen.‹«

Die Lobreden aller maßgeblichen israelischen Politiker auf Mubarak sind vor diesem Hintergrund weitaus mehr als persönliche Loyalität gegenüber einem Partner und Freund, dem man vieles verdankt. Sie sind verbunden mit dem Wunsch, daß sich in Ägypten nichts Wesentliches ändern möge – und mit der Bereitschaft, dafür alle verfügbaren Mittel einzusetzen. Am 31. Januar meldete die Tageszeitung Haaretz, daß das israelische Außenministerium eine Direktive an rund ein Dutzend Botschaften in den USA, Kanada, Rußland und mehreren europäischen Staaten versandt habe. Inhalt: Die israelischen Diplomaten sollten den Regierungen ihrer Gastländer die Bedeutung der Aufrechterhaltung der »Stabilität« in Ägypten klarmachen und sie auffordern, ihre Kritik an Mubarak einzuschränken.

Inzwischen bestimmt diese Argumentation, nach anfänglicher Verwirrung und einem schnellen Wechsel widersprüchlicher Äußerungen, den Diskurs der westlichen Staaten. Wie weit das wirklich der israelischen Überzeugungskraft zuzuschreiben ist und wie weit schlicht eigene imperialistischen Interessen ausschlaggebend sind, sei dahingestellt. Sicher ist indessen, daß dieser Kurs wieder einmal in bewährter Propagandamanier als Eintreten für das Existenzrecht des bedrohten jüdischen Staates legimitiert werden soll.

Unterschlagene Vereinbarungen

Wir müssen davon ausgehen, daß die westliche Allianz jedem ägyptischen Politiker, der bei einer Neuordnung der Verhältnisse seines Landes eine Rolle spielen will, einen Schwur auf den Friedensvertrag mit Israel abverlangen wird. Daß die israelische Seite selbst dieses Abkommen aber vom ersten Tag an gebrochen hat und niemals ernst meinte, kommt in den westlichen Kommentaren nicht vor.

Tatsächlich besteht der am 26. März 1979 unterzeichnete Friedensvertrag aus zwei Teilen, von denen der eine in den meisten Darstellungen der Mainstreammedien völlig unterschlagen wird. Beide Teile waren zuvor im September 1978 unter amerikanischer Aufsicht und Moderation in Camp David ausgehandelt worden. Das eine Paket trägt den Titel »A Framework for the Conclusion of a Peace Treaty between Egypt and Israel« und enthält die Vereinbarungen, die das direkte Verhältnis zwischen den beiden Staaten betreffen. Darunter den Abzug der israelischen Streitkräfte von der Sinai-Halbinsel, die sie seit dem Juni-Krieg von 1967 besetzt hielten, und rigide, zeitlich nicht befristete Beschränkungen für die Stationierung ägyptischen Militärs in diesem Gebiet.

Der Name des zweiten Teils der Camp-David-Vereinbarungen ist »A Framework for Peace in the Middle East«. Die Präambel des Friedensvertrags von 1979 enthält bereits im zweiten Satz ein ausdrückliches Bekenntnis zu diesem Teil der Vereinbarungen vom Vorjahr. Darüber hinaus steht in der Präambel, daß der Vertrag nicht nur zum Frieden zwischen den beiden Staaten, sondern auch zwischen Israel und all seinen Nachbarn führen solle. In diesem Sinn solle der Vertrag »ein wichtiger Schritt bei der Suche nach einem umfassenden Frieden in der Region und für das Erreichen einer Lösung des arabisch-israelischen Konflikts in all seinen Aspekten sein«.

Das Palästina-Problem

Ein zentraler Punkt dieses Konflikts war und ist das Schicksal der Palästinensergebiete, die Israel seit dem Juni-Krieg von 1967 besetzt hält und mittlerweile direkt oder indirekt annektiert hat. Genau mit diesem Problem beschäftigt sich der meist unterschlagene zweite Teil der Vereinbarungen von Camp David, das »Framework for Peace in the Middle East«. Im wesentlichen enthält er die Einigung auf »Übergangsmaßnahmen« in Gaza und auf der Westbank, die einen Zeitraum von fünf Jahren nicht überschreiten sollten. Als erster Schritt sollte in den besetzten Gebieten durch freie Wahlen eine »Selbstregierungsautorität« gebildet werden, die die israelische Militärverwaltung ablösen sollte. Anschließend sollten die israelischen Streitkräfte zurückgezogen werden. Diese Zusage war indessen durch die Bemerkung eingeschränkt, daß die Besatzungstruppen in nicht näher bezeichneten »Sicherheitszonen« stationiert werden sollten.

Überhaupt war dieser Teil des Friedensabkommens in den zentralen Streitfragen bewußt schwammig und doppeldeutig formuliert. Das Thema Ostjerusalem war aus den Verhandlungen in Camp David von vornherein völlig herausgehalten worden. Immerhin war aber verbindlich vereinbart worden, »so bald wie möglich, aber nicht später als im dritten Jahr nach dem Beginn der Übergangsperiode« Verhandlungen über den endgültigen Status Gazas und der Westbank aufzunehmen. Nicht ein einziger Teil des »Framework for Peace in the Middle East« wurde jedoch realisiert oder auch nur ernsthaft angepackt. Der Verhandlungspartner des ägyptischen Präsidenten Anwar Al-Sadat, der rechtsextreme israelische Regierungschef Menachem Begin, hatte niemals vor, die Bildung eines palästinensischen Staates zuzulassen, und wurde in dieser Haltung vom US-Präsidenten James Carter ausdrücklich unterstützt. Da die Verhandlungen in Camp David aber nicht direkt zwischen Sadat und Begin geführt wurden, ist ungewiß, ob sich der Ägypter wirklich völlig im klaren über die Intentionen der Gegenseite war.

Eindeutig ist jedoch, daß der Friedensvertrag von 1979 als eine Gesamtheit zu betrachten ist, die ernsthafte Verhandlungen über die Zukunft der besetzten Palästinensergebiete und darüber hinaus auch über eine umfassende Friedensperspektive für die Region einschloß. Ohne diese Voraussetzungen hätte Sadat den Vertrag nicht unterzeichnet. Das geht aus den detaillierten Berichten über den mehrtägigen dramatischen Verhandlungsverlauf in Camp David klar hervor.

Am ägyptischen Präsidenten blieb dennoch der sachlich begründete und durch den weiteren Verlauf der Ereignisse geschichtlich bestätigte Makel haften, einen Separatfrieden geschlossen zu haben, der langfristig hauptsächlich Israel nutzte, dessen wiederholte Aggressionen gegen den Libanon erleichterte und auf Kosten der Palästinenser ging. Die Arabische Liga schloß Ägypten aufgrund des Vertrages aus; alle arabischen und auch einige andere moslemische Staaten, darunter der Iran, brachen die diplomatischen Beziehungen mit Kairo ab. Erst 1989 erfolgte die Wiederaufnahme Ägyptens in die Liga. Inzwischen hält nur noch Iran am Abbruch der Beziehungen fest.

UN-Kritik am Friedensvertrag

Die Kritik am ägyptisch-israelischen Friedensvertrag wurde auch von der Sowjetunion und ihren Verbündeten sowie von der über 100 Staaten zählenden Gemeinschaft der Blockfreien geteilt. Das fand seinen Ausdruck in mehreren Beschlüssen der UN-Vollversammlung. So heißt es zum Beispiel in der Resolution 34/65 vom 29. November 1979, »daß die Gültigkeit von Vereinbarungen, die beanspruchen, das Palästina-Problem zu lösen, es erfordert, daß sie sich im Rahmen der Vereinten Nationen, ihrer Charta und ihrer Resolutionen befinden«. Das beinhalte die Beachtung der »unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volkes, einschließlich des Rechts auf Rückkehr und des Rechts auf nationale Unabhängigkeit und Souveränität in Palästina, unter Einbeziehung der PLO«. Die Vollversammlung vermerkte »mit Sorge«, daß der Friedensvertrag nicht diesen Grundsätzen entspreche, und lehnte alle Bestimmungen des Abkommens ab, in denen die Rechte der Palästinenser verletzt oder ignoriert würden.

Dieser reale Hintergrund wird bei der westlichen Forderung an die ägyptische Opposition, einen Schwur auf den Friedensvertrag von 1979 abzulegen, komplett ausgeblendet. Außer dem Führungskreis des Mubarak-Regimes gibt es in Ägypten keine politische Kraft, die sich ohne Opportunismus und Heuchelei einem derartigen Diktat unterwerfen könnte. Das ist kein spezifischer Standpunkt, der auf die Moslembruderschaft beschränkt wäre, sondern gilt auch für säkulare, bürgerlich-liberale Sektoren der Opposition gegen das Regime – und vermutlich sogar für den größten Teil der Streitkräfte.

Offene Diskussion steht an

Es geht dabei nicht um die Vorbereitung einer Kriegserklärung an Israel. Zur Kriegführung gegen Israel wäre das von den USA ausgerüstete und ausgebildete ägyptische Militär schon deshalb völlig ungeeignet, weil es ohne Nachschub aus den Vereinigten Staaten – den es in einer solchen Konfrontation selbstverständlich nicht erwarten könnte – nach wenigen Tagen zusammenbrechen würde. Was aber ansteht, ist zum allerersten Mal eine uneingeschränkt freie und offene Diskussion des Vertrages und eine Bilanzierung seiner Folgen für Ägypten selbst, aber auch für die Region insgesamt.

Vertreter der Moslembruderschaft haben darüber hinaus angekündigt, daß sie sich im Fall einer Regierungsbeteiligung für eine Volksabstimmung über den Friedensvertrag einsetzen wollen. Das praktische Ergebnis wird wahrscheinlich nicht die Kündigung des Abkommens, vielleicht aber das Abgehen von einigen Verpflichtungen sein. Zu diesen Punkten gehören auf jeden Fall die Vorschriften über eine weitgehende »Entmilitarisierung« der Sinai-Halbinsel, die ohne zeitliche Befristung, also in alle Ewigkeit, die Souveränität Ägyptens auf seinem eigenen Territorium beschränken. Man wird darüber hinaus wohl auch feststellen, daß zur weiteren Beteiligung an der Abriegelung und Aushungerung des Gaza-Gebietes absolut keine vertragliche Verpflichtung besteht.

Zweifelhaft ist ferner, ob ein Ägypten, das sich von der dreißigjährigen Tyrannei des Mubarak-Regimes befreit hätte, noch daran festhalten würde, als einziger arabischer Staat neben Jordanien diplomatische Beziehungen zu Israel zu haben, solange dieses nicht alle Eroberungen aus dem Juni-Krieg von 1967 aufgibt und die Bildung eines palästinensischen Staates akzeptiert. Ägypten muß sich nicht am Beispiel Irans orientieren, auch wenn israelische Politiker jetzt hochdramatisch diese angebliche Gefahr für das Überleben ihres Staates beschwören. Falls das kommende demokratische Ägypten in der Außenpolitik ähnliche Positionen bezieht wie die Türkei, wird das ausreichen, die Verhältnisse in der Region grundlegend zu verändern.

* Aus: junge Welt, 11. Februar 2011


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