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"Das ist ausgeartet zum Karneval politischer Hochstapler"

Gespräch mit Mohamed Wakid. Über den verfassungsgebenden Prozeß in Ägypten, den Einfluß der Linken und die Stärke der Islamisten *


Mohamed Wakid ist als Vertreter der Revolutionären Sozialisten Führungsmitglied der überparteilichen Nationalen Front Ägyptens.

Ist den Kindern der Revolution die Revolution wieder abhanden gekommen oder haben sie sich Positionen für künftige Auseinandersetzungen erkämpft?

Die meisten Teilnehmer an der Revolution – ich würde lieber von einem Aufstand sprechen – waren nicht organisiert. Ungefähr 80 Prozent der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sind bis dahin politisch nicht in Erscheinung getreten. Politische Organisationsformen entstanden aus dem Augenblick heraus – in Verteidigung von Räumen, die von Regimeseite angegriffen wurden. Was während der Januar- und Februarereignisse spontan entstanden ist, muß nun weiterentwickelt werden, um im Kampf um die institutionelle Neugestaltung des Staates gegenüber den etablierten Kräften nicht auf verlorenem Posten zu stehen.

Wer sind die etablierten Kräfte, und welche gegenrevolutionäre Strategie verfolgen sie?

Der herrschende Block besteht aus vier Hauptkräften. Die erste ist das alte Regime, das gegenwärtig von der Armee, der alten Staatspartei, dem Sicherheitsapparat und der Polizei repräsentiert wird. Mubaraks »Nationaldemokratische Partei« ist zwar aufgelöst worden, doch wird sie bei den Wahlen in Gestalt »unabhängiger Kandidaten« massiv präsent sein. Die zweite Gruppe sind die ökonomisch Privilegierten, die Business-Community, die großen Kapitalisten also – ebenfalls eine zentrale Größe der Konterrevolution. Als dritte Formation treten die etablierten Kräfte der Opposition, die Liberalen und Moslembrüder in Erscheinung. Sie sind in einigen Punkten Alliierte der Regimekräfte, in anderen sind sie mit ihnen verfeindet. Als vierte Kraft agiert die Fünfte Kolonne der USA und Israels. Die Moslembrüder und die klassische Opposition – ich meine damit bürgerliche Liberale, die in ElBaradai ihre Galionsfigur gefunden haben – können mit den Kollaborateuren nicht kollaborieren, da sie sonst jeden Rückhalt in der Bevölkerung verlieren würden. Denn die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist strikt antiisraelisch eingestellt. Alle vier Kräfte, von denen jede ihre eigene Agenda hat, haben ein gemeinsames Interesse daran, daß die Mehrheit unorganisiert bleibt. Dabei kommt ihnen entgegen, daß sich der Parteibildungsprozeß von unten chaotisch entwickelt und zum Karneval politischer Hochstapler ausgeartet ist.

Ägypten unter Mubarak war neben Saudi-Arabien die wichtigste Bastion der arabischen Reaktion – aufs engste mit dem Imperialismus verbunden und auf einen Ausgleich mit dem zionistischen Staat eingeschworen. Gibt es bereits Anzeichen einer außenpolitischen Neuorientierung?

Wenn überhaupt, dann mehr auf der Ebene von Erklärungen. Der Militärrat und die ihm hörigen politischen Kräfte wollen ihren Aussagen zufolge ein starkes Ägypten Das würde für Israel tatsächlich eine Bedrohung darstellen. Ein starkes und vor allem unabhängiges Ägypten würde eine neue regionale Konstellation bewirken. Es würde mit dem Iran, der Türkei und den revolutionären unter den arabischen Staaten eine Allianz bilden, welche die Vorherrschaft des Westens und Israels ernsthaft herausfordern könnte. Die Türken haben Ägypten bereits unter Mubarak eine enge Kooperation angetragen. Das war jedoch in den Wind gesprochen, weil sich das Mubarak-Regime Israel völlig unterworfen hat. Zwei Tage nach dem Sturz des Diktators war der türkische Präsident in Ägypten, um erneut eine verstärkte Kooperation anzubieten und die Region neu zu ordnen. Doch ist Ägypten auf vielfältige Weise mit Saudi-Arabien verflochten und von diesem weitgehend abhängig. Das Königreich ist Kreditgeber, Absatzmarkt und Arbeitgeber. Ägypten kann Israel Probleme bereiten, aber sich gegenüber den Amerikanern und Saudis behaupten kann es noch nicht. Sollte Kairo das versuchen, würden die Ägypter über Nacht aus Saudi-Arabien hinausgeworfen werden.

Unterhält Saudi-Arabien eine Fünfte Kolonne in Ägypten?

Die saudischen Stützpunkte in Ägypten werden von den Salafisten, das sind reaktionäre Islamisten, gebildet. Sie haben es sich vor allem zur Aufgabe gemacht, in der Bevölkerung Vorurteile gegen die Schiiten und damit gegen den Iran zu schüren. Das geschieht in Kampagneneinheit mit dem Fernsehsender Al-Dschasira. Dieser spielt seit Beginn der arabischen Revolte eine zunehmend negative Rolle. Nachrichten über Bahrain werden unterdrückt. Positiv wird nur über Revolutionen berichtet, an denen die Moslembrüder führend beteiligt sind und die von den Golfstaaten unterstützt werden. Der Sender folgt voll den Anforderungen, die vom Golfstaaten-Kooperationsrat an ihn gestellt werden: gegen den Iran, die Schiiten und die Aufständischen von Bahrain.

Inwiefern unterscheiden sich die Salafisten von den Moslembrüdern?

Die Moslembrüder sind eine politische Gruppe, die in vielen Fragen rechte Positionen bezieht, in anderen aber linke. Sie verfügen über einen relativ großen Spielraum für eine unabhängige Politik, die Saudis können nicht einfach über sie bestimmen. Die Salafisten hingegen sind deren Marionetten. Besonders deutlich wurde dies bei den Protestaktionen gegen den israelischen Überfall auf den Libanon 2006, die von den Moslembrüdern mitgetragen wurden. Wegen ihrer Unterstützung der Hisbollah wurden sie von den Salafisten als schiitische Agenten beschimpft. Die Salafisten verfügen über das größte religiöse Fernsehnetz der Welt – finanziert vom saudischen Geheimdienst. Sie kontrollieren rund 20 Fernsehstationen, die Revolutionäre vom Tahrir-Platz nicht einen einzigen. Die Medienkontrolle ist zwischen dem Regime und den Islamisten aufgeteilt, wobei die Moslembrüder nur über einen kleinen Anteil verfügen. Die salafistische Medienmacht geht noch auf das Mubarak-Regime zurück. Denn die saudi-arabisch inspirierten Islamisten waren für das Regime und deshalb auch gegen die Volkserhebung. Sie sprachen sich immer bloß für eine moralische Erneuerung aus. Das Regime ist gegangen, die Salafisten und ihr gigantischer Propagandaapparat aber sind geblieben.

Wie stellt sich das Kräfteverhältnis zwischen den beiden wichtigsten islamistischen Gruppieren dar?

Die Bruderschaft hat ungefähr 1,5 Millionen Mitglieder, ihr Einfluß erstreckt sich auf zwei- bis dreimal so viele Menschen. Die Salafisten haben mehr Mitglieder, aber außerhalb ihrer unmittelbaren Anhängerschaft kaum Gewicht. Im Wettbewerb mit ihnen verschiebt sich allerdings der gesellschaftliche Diskurs nach rechts. Vergleicht man die Islamisten mit den Linken, ergibt sich folgendes Bild: Die Linke ist zwar winzig, ihr geistiger Einfluß aber um ein Vielfaches größer. Die Moslembrüder sind zahlenmäßig viel stärker, ihre ideologische Einwirkung hält sich jedoch in Grenzen.

Die von den Salafisten ausgehende Wirkung sollte zwar nicht unterschätzt werden, da sie aber den Militärrat unterstützen, befinden sie sich in einem offenen Widerspruch zu dem im Lande vorherrschenden rebellischen Bewußtsein.

Was die Moslembrüder betrifft, halte ich einen Vergleich mit der Situation von 1954 für angemessen, als Nasser die Bruderschaft zerschlagen konnte. Nicht weil er ein Militärdespot war, sondern weil er wegen seines Antiimperialismus die Massen auf seiner Seite hatte. Gegenwärtig würde die Bruderschaft der Armee gern die Macht streitig machen, wagt die Kraftprobe aber nicht. Sie beteuert vielmehr, daß die Armee der einzige Garant der Sicherheit sei. Umgekehrt traut die Armee ihnen auch nicht. Sie spielt die Salafisten gegen sie aus, ohne daß sie diesen je erlauben würde, nach der Macht zu greifen. Die Salafisten sind eine an der Basis wirkende rechtsradikale Bewegung.

Vergleichbar mit den nationalistischen »Schwarzhundertern« und ihren antisemitischen Pogromen am Vorabend der russischen Revolution von 1905?

Vielleicht. Mit den Moslembrüdern kann man Gespräche führen, mit den Salafisten nicht. Sie sind auf Pogrome, vor allem gegen Christen, eingeschworen. Man könnte sie auch als die äußerste Reserve der Konterrevolution bzeichnen.

Sprechen die beiden islamistischen Strömungen unterschiedliche soziale Schichten an?

Die Moslembrüder stützen sich auf gebildete, aber ökonomisch benachteiligte, vor allem urban geprägte Schichten. In den Dörfern sind sie kaum verwurzelt – die werden von den Salafisten dominiert. Selbst bei Leuten, die ihnen nicht unbedingt wohlgesonnen sind, verfängt ihre auf rassistische und religiöse Vorurteile zielende Propaganda. Gegenwärtig sind die Christen und die Schiiten ihre Hauptfeinde, obwohl es in Ägypten so gut wie keine Schiiten gibt. Indem sie zum Kampf gegen Minderheiten trommeln, sabotieren die Salafisten ganz im Sinn ihrer saudi-arabischen Auftraggeber den Kampf gegen den Imperialismus. Sie könnten auch den Moslembrüdern Schwierigkeiten bereiten. Das politisch korrekte Europa könnte geneigt sein, von den Salafisten ausgelöste Pogrome dem politischen Islam insgesamt in Rechnung zu stellen.

Bei der Volksabstimmung über Verfassungsänderungen haben sich die etablierten gegen die revolutionären Kräfte durchgesetzt. Eine schwere Niederlage?

Das oppositionelle Lager, das für die Durchführung einer konstituierenden Versammlung vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen eintrat, erhielt 22 Prozent. Das herrschende Lager – Armee, Bruderschaft, Salafisten und Big Business– kam auf 78 Prozent. Viele fürchteten, daß die Armee noch mehrere Jahre an der Macht bleiben würde, sollte zuerst eine verfassungsgebende Versammlung durchgeführt und dann erst gewählt werden. Viele gaben ihr Ja zu den bescheidenen Verfassungsänderungen um der Stabilität willen. Sie meinten, Wahlen würden folgen und dann könne der wirtschaftliche Aufbau beginnen. Viele fürchteten auch, daß in einer neuen Verfassung der Scharia-Bezug wegfallen und die Christen das Land übernehmen könnten. Dabei geht es weniger um eine Frage der Religion als der Identität.

Die Islamisten, auch linke wie die Islamische Arbeiterpartei, werfen der Linken vor, nur deshalb gegen baldige Wahlen zu sein, weil sie sich keine guten Chancen ausrechnen. Außerdem könnte man ja auch nach den Wahlen eine neue Verfassung ausarbeiten.

Wer die Wahlen gewinnt, wird wenig Interesse an einer neuen Verfassung zeigen. Oder die Wahlsieger werden ihre Machtposition dazu nutzen, eine Verfassung nach ihren Vorstellungen auszuarbeiten. Wir meinen aber, daß, auch wenn die Demokraten die Wahlen gewinnen sollten, sie nicht dazu legitimiert wären, im Alleingang eine neue Verfassung zu verabschieden. Das kann nur eine verfassungsgebende Versammlung, an der alle gesellschaftlichen Gruppen, unabhängig davon, ob sie an den Wahlen teilgenommen haben oder nicht, teilhaben sollen: Die Kopten, Frauenorganisationen, Nichtregierungsorganisationen und Parteien. Die vier Strömungen– Islamisten, Liberale, Sozialisten und Nationalisten – müßten mehr oder weniger gleichberechtigt teilnehmen. Wir wollen eine Verfassung auf Konsensbasis, sie wollen eine Verfassung der Sieger.

Der Kampf um die Ausgestaltung der Demokratie, ob sozial oder oligarchisch, ist also voll entbrannt. Die etablierten Kräfte nutzen ihren Startvorteil. Schlechte Aussichten für die Demokratie?

85 Prozent der Revolutionsteilnehmer sind auf unserer Seite. Aber wie läßt sich das auf der institutionellen Ebene verankern? Um eine Nichtregierungsorganisation ins Leben zu rufen, braucht man sechs bis acht Monate. Zur Gründung einer politischen Partei sind 5000 Gründungsmitglieder erforderlich, deren Namen in den zwei größten ägyptischen Zeitungen – gegen Bezahlung – veröffentlicht werden müssen, was für viele Parteiinitiativen unerschwinglich ist, obwohl sie über die notwendige Mitgliederzahl verfügen. Wie soll man es da mit den etablierten Kräften aufnehmen können? Zur Durchführung fairer Wahlen müßten diese undemokratischen Barrieren beseitigt werden. Und wenn dies, wie zu erwarten, nicht geschieht, meinen wir: Führt die Wahlen so schnell wie möglich durch, gewinnt sie. Gratulation. Aber leitet daraus nicht den Anspruch ab, eine euch genehme Verfassung zu verabschieden.

Sie gehören der Gruppe »Revolutionäre Sozialisten« an. Das ist eine Mitgliedsorganisation der Nationalen Front. Was sind Ihre wichtigsten Zielsetzungen in der gegenwärtigen Phase?

Die Festigung der Demokratie. Das erfordert die Erarbeitung einer Verfassung auf Konsensbasis. Wir sind für eine patriotische, unabhängige Außenpolitik und für soziale Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang treten wir für die uneingeschränkte Anerkennung des Streikrechts ein. Für Sicherheit: Das heißt, wir sind nicht für die Abschaffung der Polizei, sondern für deren Rückkehr auf der Grundlage eines Mandats, das auf der Anerkennung der Rechte des Volkes beruht. Und wir verlangen einen nationalen Dialog.

Arbeitet die Nationale Front mit den während des Aufstandes entstandenen Volkskomitees zusammen?

Es gibt da eine gewisse Arbeitsteilung. Die Volkskomitees sind vor allem auf lokaler Ebene tätig. Sie wollen lokale Machtpositionen erringen, um direkt im Interesse der Volksmassen tätig werden zu können. Wir agieren hingegen auf gesamtnationaler Ebene.Wir sind eine Front, die sich um bestimmte Ziele formiert hat, und bemühen uns, Mitglieder für unsere Organisationen zu gewinnen.

Für Islamisten ist es praktisch unmöglich, sich uns anzuschließen, weil wir für eine Demokratie ohne Diskriminierung eintreten. Wenn jemand dagegen ist, daß ein Kopte für das Präsidentenamt kandidiert, ist er bei uns fehl am Platz. Zu unseren Prinzipien gehört auch, daß die Macht vom Volk auszugehen hat. Das widerspricht dem Grundsatz, daß die Scharia die Grundlage der Verfassung sein muß.

In den vorherrschenden Darstellungen in Europa und Nordamerika heißt es, die arabische Revolution folge im wesentlichen der westlichen Demokratie- und Freiheitsagenda, der Antiimperialismus spiele somit keine oder nur eine untergeordnete Rolle.

Wenn die Abhängigkeit vom Imperialismus anhält, kann sich in diesem Land nichts zum Positiven verändern. Der Imperialismus ist bei uns kein außenpolitisches, sondern ein innenpolitisches Problem. Arabische Solidarität, Solidarität mit den Palästinensern ist nicht auf eine andere Nation bezogen, sondern auf Ägypten selbst. Die Verbindung zwischen den hiesigen Politikern und dem Imperialismus ist ungeheuer stark und muß deshalb gekappt werden. Das ist unsere Position und die der radikalen Linken. Die ägyptische Mainstream-Linke aber ist eine liberale Linke und scheut deshalb den antiimperialistischen Diskurs. Sie folgt dem Slogan: »Ägypten zuerst« und reagiert schon allen auf das Wort Palästina allergisch. Nicht nur unsere antiimperialistische, auch unsere Arbeiteragenda wird von ihnen abgelehnt. In Fragen Antiimperialismus wären eher die Islamisten unsere Verbündeten. Doch die verhalten sich, wie erwähnt, in anderen Fragen konträr zu unseren Standpunkten. Die Mehrheit der Linken ist auf den Säkularismus fixiert, sie sind daher keine Verbündeten im Kampf gegen den Imperialismus. Daß sie von den Islamisten bekämpft werden, ist nicht bloß deren Sektierertum geschuldet, sondern hat reale Gründe. Viele Linke glauben, daß die Islamisten nur im Bündnis mit dem Westen besiegt werden könnten. Auf der anderen Seite sind die Islamisten in gesellschaftspolitischen und auch in sozialen Fragen oft sehr reaktionär eingestellt, vor allem, was das Recht auf sozialen Widerstand betrifft. Das spielt dem Regime und damit auch dem Imperialismus in die Hände. Die Strategie der liberalen Linken, den Kampf um einen säkularen Staat an die erste Stelle zu rücken, aber ist nicht minder katastrophal.

Warum?

Deklariert man sich als Säkularer, wird man in einem Land wie Ägypten keinen Erfolg haben. Etwas anderes wäre es, würde man sagen, wir sind gegen die Islamisten, weil die einen religiösen Staat gründen wollen. Die Furcht vor den Islamisten ist die Glut aller Sammlungsbewegungen. Auch wir wollen nicht, daß die Religiösen die Kontrolle über den Verfassungsprozeß bekommen. Wir haben keine Angst davor, daß sie die Wahlen gewinnen und die Regierung stellen. Aber wir wollen eine Verfassung, die das Recht auf Widerstand enthält.

Soll das neue Ägypten den Friedensvertrag von Camp David (siehe Spalte) für null und nichtig erklären?

Selbst wir sagen nicht: Hebt das Camp-David-Abkommen als Ganzes auf. Wir zählen vielmehr Punkt für Punkt auf, welche negativen Auswirkungen der Vertrag auf Ägypten hat. Viele Menschen sind der Ansicht, daß ein Rücktritt von diesem Vertrag gleichbedeutend mit einem Krieg wäre. Niemand will einen neuen Krieg. Die ägyptische Unterwürfigkeit gegenüber Israel ist nicht allein dem Friedensvertrag von Camp David geschuldet. Als Ägypten 2007 die Grenze zum Gazastreifen geschlossen hat, behauptete das Regime, daß es laut Friedensvertrag dazu verpflichtet gewesen sei. Doch dem ist nicht so. Wir sind für ein schrittweises Vorgehen: Zuerst Israel boykottieren, alle anderen Verträge für ungültig erklären, und dann eine Allianz mit der Türkei und dem Iran gegen Israel bilden, die es unter Umständen ermöglicht, Camp David zu annullieren. Falsch wäre es dagegen zu sagen: Im Falle eines Wahlsieges würden wir Camp David aufkündigen. Sogar die Bruderschaft hat erklärt, daß sie, sollte sie an die Macht kommen, die bestehenden Verträge akzeptieren würde.

Überhaupt befindet sich die Moslembruderschaft in einem Dilemma. Akzeptieren sie Camp David, sind sie weg, verwerfen sie es, ebenso. Daher würden sie sich lieber von der Macht fernhalten, denn die einzige Möglichkeit, aus dem Friedensvertrag mit Israel herauszukommen, wäre eine breite Volksbewegung, die nicht nur Ägypten, sondern die ganze Region umfaßt. Die Bruderschaft aber hat eine reformistische Mentalität, sie wollen dem herrschenden Block angehören, ohne direkt zu herrschen.

Der Begriff »Nationale Front« hat heute in europäischen Ohren einen eher rechten Klang.

In arabischen Ohren nimmt national im Gegensatz zum Wort patriotisch, das auf Ägypten bezogen ist, die Bedeutung panarabisch an.

Das Abkommen von Camp David datiert vom 17.9.1978. Vermittelt durch US-Präsident James Carter, vereinbarten darin Israels Ministerpräsident Mena­chem Begin und Ägyptens Präsident Anwar Al-Sadat eine Normalisierung der Beziehungen beider Länder, was im Folgejahr zu einem bilateralen Friedensvertrag führte.

Interview: Werner Pirker in Kairo

* Aus: junge Welt, 21. Mai 2011


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