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Kairo ohne Kontrolle über den Sinai

Ägyptens neue Regierung steht vor ihrer ersten Belastungsprobe

Von Oliver Eberhardt *

Nach dem tödlichen Doppelanschlag am Nordrand des Sinai haben die ägyptischen Muslimbrüder und die radikalislamische Hamas nun Israel als Drahtzieher beschuldigt. Die Regierung Netanjahu wies die Behauptung umgehend zurück.

Nach dem Angriff auf einen Militärposten an der Grenze zu Israel steht Ägyptens neue Regierung vor ihrer ersten Belastungsprobe: Kairo hat die Kontrolle über den Sinai verloren, und muss nun handeln, wenn es eine Konfrontation mit Israel vermeiden will. Fast die gesamte Nacht zum Dienstag haben sie in Tel Aviv getagt, Vertreter der israelischen Sicherheitsdienste und ihre ägyptischen Kollegen, haben »nach Lösungen gesucht«, wie ein Sprecher der israelischen Regierung den Inhalt des Treffens umschreibt, und »dabei alles, absolut alles mit offenen Augen betrachtet, was uns verbindet«, wie das ägyptische Innenministerium kryptisch erklärt.

Die Lage ist heikel: In der Nacht zum Sonntag überfielen Attentäter einen ägyptischen Militärposten an der Grenze zu Israel, töteten 16 Soldaten, entwendeten gepanzerte Fahrzeuge und überquerten dann die Grenze zu Israel, wo sie von israelischen Kampfflugzeugen gestoppt wurden. Sieben der Attentäter hätten Sprengstoffgürtel getragen, so Israels Regierung am Dienstag.

In den ägyptischen Medien ist man sich einig: Ziel des Anschlags war es, einen Krieg mit Israel auszulösen, oder zumindest die Beziehungen zwischen beiden Staaten nachhaltig zu stören, und damit die gerade erst vor einigen Tagen in Kairo vereidigte Regierung von Premierminister Hischam Kantil zu destabilisieren. Denn sie ist radikalen Islamisten zu westlich, zu stark mit dem alten System verbunden. Im Kabinett sind nur drei Mitglieder der Muslimbruderschaft vertreten, aber dafür Mohammad Tantawi vom Obersten Militärrat als Verteidigungsminister und eine Vielzahl von Technokraten - eine Zusammensetzung, die Brücken zwischen den Lagern bauen, aber auch den Grundstein dafür legen soll, die drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme anzugehen.

Nun ist ein militärisches Problem hinzu gekommen: Erstmals mussten Vertreter des ägyptischen Innenministeriums eingestehen, dass die Zentralmacht die Kontrolle über den Sinai weitgehend verloren hat. Mindestens 15 Mal gab es in den vergangenen Monaten Sprengstoffanschläge auf eine israelisch-ägyptische Gaspipeline, mehrmals wurden Ausländer entführt. Bisher machte Kairo dafür Beduinen verantwortlich und sprach am Sonntag davon, die Attentäter seien aus dem Gazastreifen nach Ägypten gekommen. Nun wird offen bestätigt: In den Weiten des Sinai haben islamistische Gruppierungen einen sicheren Hafen gefunden und drohen von dort aus die Region zu destabilisieren.

Schuld daran, sagen Mitarbeiter des israelischen Außenministeriums, sei nicht ein mangelnder Handlungswille Kairos, auch wenn offiziell nach der Wahl des konservativ-islamischen Mohammed Mursi zum Präsidenten nicht auf Regierungsebene miteinander gesprochen wird. Das Hauptproblem sei der Friedensvertrag von Camp David. Darin ist genau festgelegt, wie viele Soldaten mit welcher Bewaffnung Ägypten auf der Halbinsel stationieren darf - und diese Regelungen, sagen beide Seiten, seien nicht mehr zeitgemäß.

»Früher waren es Armeen, die uns bedrohten, heute sind es militante Organisation. Dafür ist der Vertrag aber nicht gemacht«, heißt es aus Israels Außenministerium. Und das ägyptische Verteidigungsministerium bestätigt, dass man gern eine komplette Überarbeitung des militärischen Teils hätte: »Wir brauchen mehr Truppen und eine bessere Ausrüstung, um unsere Aufgaben erfüllen zu können.« Das Problem: So lange beide Regierungen nicht miteinander sprechen, ist eine offizielle Neuregelung nicht möglich.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 8. August 2012


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