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Die Rückkehr der "Revolution"

Schwere Zusammenstöße im Zentrum der ägyptischen Hauptstadt Kairo

Von Juliane Schumacher, Kairo *

Für den 8. Juli hatten Gruppen zu einer erneuten Großdemonstration in Kairo aufgerufen. Doch diese »Fortsetzung der Revolution« begann spontan viel früher: In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch (28./29. Juni) stieß die Polizei gewaltsam mit Familien von Opfern des Aufstands zusammen. In Solidarität mit ihnen strömten Tausende Menschen auf den zentralen Tahrir-Platz – und erkämpften ihn sich zurück. Aus allen größeren Städten Ägyptens wie Suez, Alexandria, Mahalla, Ismailiyya oder Port Said werden wieder Proteste vermeldet.

Die Familien waren anlässlich des Prozesses gegen Ex-Innenminister Habib al-Adli am vergangenen Sonntag angereist. Als dieser erneut verschoben wurde, blieben sie aus Protest in der Kairoer Innenstadt zu einem Sitzstreik. Und als sie am Dienstagabend nicht zu einer feierlichen Zeremonie für die Opfer der Revolution gelassen wurden, kam es zu einer ersten Auseinandersetzung mit der Polizei. Rasch versammelten sich Aktivisten, um die Familien zu unterstützen. Am Rande des Tahrir-Platzes brachen Tumulte aus. Gegen Mitternacht hatten sich dort mehrere tausend Menschen eingefunden. In einer der sieben Zufahrtsstraßen standen Polizisten und ein Wasserwerfer; angeblich verweigerten sie den Schusswaffeneinsatz gegen die Demonstranten.

Vor dem Campus der Amerikanischen Universität hingegen herrschte Krieg auf der Straße: Über Stunden flogen Steine, die Polizei schoss Tränengasgranaten in die Menge, Gaswolken zogen über den Platz. »Das ist der 28. Januar!« riefen Protestierende immer wieder. Auf einem der wenigen, rasch geschriebenen Schilder hieß es: »Ich komme zurück auf den Platz, weil ich keine Veränderung sehe.« Motorräder brachten Verletzte zu den Krankenwagen, die am anderen Ende warteten. Einige Getroffene waren ohnmächtig; die Polizei benutzte laut Augenzeugenberichten zum Teil seit 20 Jahren abgelaufenes und dadurch deutlich aggressiveres Gas. Andere erlitten Schuss- und Platzwunden von den Gummigeschossen oder direkt in die Menge geschossenen Tränengasgranaten. Das Gesundheitsministerium sprach am Mittwochmorgen noch von elf Verletzten, darunter eine Person in »ernstem Zustand«. Später wurde die Zahl auf 590 erhöht.

Als sich der Himmel hinter den Häuserzeilen um die Tahrir-Platz hell färbte, zog sich die Polizei schließlich zurück und überließ den Platz den Protestierenden. Der Boden war mit Steinen übersät. Eine Gruppe von Jugendlichen schützte einen Geldautomaten, damit niemand auf die Idee kam, ihn aufzubrechen. »Revolution!« riefen die Menschen. »Wir sind zurück auf dem Platz!«

»Der Premierminister soll kommen und sich uns anschließen«, forderte Alaa, ein bekannter Blogger in Ägypten. Doch Regierungschef Essam Sharaf schloss sich den Protesten nicht an. Stattdessen fährt die Regierung eine ähnliche Strategie wie Mubarak vor fünf Monaten. Noch in der Nacht ließ sie verlauten, auf dem Platz hätten sich bezahlte Schläger versammelt.

Das Militär, das seit dem Rücktritt des Präsidenten die Macht innehat und zeitweise die Rolle der Polizei übernimmt, war die ganze Nacht nicht zu sehen. Am Morgen veröffentlichte der Militärrat jedoch eine Erklärung und rief alle Ägypter auf, sich nicht den Unruhestiftern anzuschließen, die die Sicherheitslage des Landes gefährdeten. Um 9 Uhr verlas dann ein blasser Essam Sharaf eine Erklärung mit ähnlichem Inhalt im Staatsfernsehen. Die Polizei habe nie Gewalt gegen Demonstranten angewandt und werde dies auch in Zukunft unter keinen Umständen tun.

Die Innenstadt von Kairo gleicht derweil weiter einem Schlachtfeld. Die meisten Läden sind geschlossen. Die Polizei kehrte eine gute Stunde nach ihrem Rückzug zurück und lieferte sich vor dem Campus erneut Schlachten mit Protestierenden. Die Auseinandersetzungen weiteten sich in die umliegenden Straßen aus. Gegen Mittag dann zogen sich die Polizeikräfte zum Innenministerium zurück, wo nun ebenfalls protestiert wurde. Immer mehr Menschen strömten herbei, manche brachten Wasser, Essen und Verbandsmaterial mit, an zwei Stellen wurden wieder provisorische »Krankenstationen« eingerichtet. Der spontane Protest vom Abend zuvor beginnt sich zu organisieren. Es ist wieder »Revolution«.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Juni 2011


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