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"Dann reißen wir ihnen die Augen aus"

Machtkampf in Ägypten eskaliert / Islamisten drohen offen mit Gewalt *

Im ägyptischen Machtkampf will niemand nachgeben. Die Islamisten drohen mit Gewalt. Die liberalen Parteien und Revolutionsaktivisten wehren sich mit Märschen und Blockaden.

Im Streit um die ägyptische Verfassung drohen die Islamisten ihren Gegnern nun immer offener mit Gewalt. Die säkularen Parteien und die sogenannte Revolutionsjugend richtet sich trotzdem auf einen Dauerprotest ein. Ein Sprecher der Sicherheitsbehörden sagte in der Hauptstadt Kairo, bei den Auseinandersetzungen rund um den Präsidentenpalast seien am Dienstag und in der Nacht zum Mittwoch 40 Polizisten und 18 Demonstranten verletzt worden. Am Mittwoch kehrte in dem Viertel nach Angaben lokaler Medien wieder Ruhe ein.

In den vergangenen Wochen waren lediglich in sozialen Netzwerken vereinzelt Aufrufe zum »Dschihad« gegen die politischen Gegner aufgetaucht.

Der Generalsekretär der Partei für Unversehrtheit und Entwicklung, Mohammed Abu Samra, sagte in der Nacht zum Mittwoch in einem Interview des Nachrichtensenders Al-Arabija: »Wenn sie sich gegen die Legitimität stellen, dann werden wir äußerte Gewalt anwenden«. Der für seine radikalen Ansichten bekannte Fernsehprediger Abdullah Badr sagte in einer Talkshow des ägyptischen Islam-Senders Al-Hafez, die Christen seien es, die den Protest gegen Präsident Mohammed Mursi anführten. »Und wenn ihm auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann reißen wir ihnen die Augen aus«, fügte er hinzu. Der islamistische Staatschef hatte den Präsidentenpalast in Kairo am Dienstag verlassen, nachdem sich Zehntausende von Demonstranten vor dem Gebäude versammelt hatten, die seinen Rücktritt forderten. Augenzeugen berichteten, abgesehen von einigen Graffiti habe es während der Proteste keine Sachbeschädigung gegeben. Mursis Gegner schrieben »Verschwinde, dieses Land ist unser Land« und »Deine Verfassung ist ungültig« an die Mauern, die den Palast umgeben.

Auch am Mittwoch versammelten sich bis zum Nachmittag wieder Hunderte Demonstranten auf dem zentralen Tahrir-Platz, wo die Gegner der Islamisten bereits seit rund zwei Wochen campieren.

Derweil wollen die Unterstützer Mursis dessen Gegner jetzt auf dem Weg über die Justiz ausschalten. Der von Mursi im November ernannte Generalstaatsanwalt Talaat Ibrahim Abdullah ordnete am Mittwoch Ermittlungen gegen Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei, gegen den früheren Generalsekretär der Arabischen Liga, Amre Mussa, sowie gegen andere führende Oppositionspolitiker an.

Grundlage für die Ermittlungen ist eine Anzeige des früheren Parlamentariers Mohammed al-Omda. Dieser hatte gegen die beiden Politiker sowie gegen den Vorsitzenden der Wafd-Partei, Sajjid al-Badawi, und den linken Aktivisten Hamdien Sabbahi Anzeige wegen »Aufstachelung der Bürger zum Umsturz« erstattet. Am Dienstag hatte der Generalstaatsanwalt bereits eine Anzeige wegen »Spionage für Israel« gegen die selben vier Politiker und den Vorsitzenden der Berufsgenossenschaft der Richter, Ahmed al-Sind, an die Staatsanwaltschaft des Staatssicherheitsgerichts weitergeleitet.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 06. Dezember 2012


"Wird das Volk entmachtet, kommt es zum Bürgerkrieg"

Ägyptens Präsident Mursi will islamistische Verfassung durchsetzen. Das provoziert Aufstand. Ein Gespräch mit Gabriele und Mamdouh Habashi **

Gabriele Habashi lebt in Kairo und hat in der Edition Steinbauer das Buch »Das neue Ägypten. Wege zur Demokratie« veröffentlicht (siehe jW vom 8. Oktober 2012). Ihr Mann Mamdouh Habashi ist außenpolitischer Sprecher der Ägyptischen Sozialistischen Partei


Ägyptens Präsident Mohammed Mursi hat seine Machtbefugnisse ausgeweitet und damit Massenproteste provoziert. Im Eiltempo hat er eine neue Verfassung ausarbeiten lassen. Was sind die wesentlichen Kritikpunkte, und welche Folgen hätte ihre Bestätigung in einem Referendum?

Gabriele Habashi: Seit fast zwei Jahren gibt es ein Tauziehen um die Erarbeitung einer neuen Verfassung. Es kam in mehreren Versuchen keine arbeitsfähige verfassunggebende Versammlung zustande, weil die vom Militärrat und später von den Muslimbrüdern ernannten Mitglieder dieser Versammlung mehrheitlich islamistisch orientiert waren, und daher säkular oder liberal ausgerichtete Wissenschaftler ihre Mitarbeit zurückzogen.

Mamdouh Habashi: Das Verfassungsgericht wollte die letzte Verfassungsgebende Versammlung als ungültig erklären, Mursi ist dem zuvorgekommen und hat ihre Immunität erklärt, und innerhalb von 48 Stunden hat eben diese Versammlung im Schnellverfahren nun alle Artikel durchgewinkt.

Gabriele Habashi: Solch eine Verfassung kann keine Grundlage und kein Richtungsweiser für einen Staat sein, der Menschen verschiedener Konfessionen und Lebensausrichtungen umfaßt.

Mamdouh Habashi: Eine Verfassung soll einen Rahmen schaffen, in dem Gesetze ausgelegt und interpretiert werden. Die von Mursi im Amt bestätigte Verfassungsgebende Versammlung hat kaum anderes getan, als jedem bestehenden Artikel die Formel »so dies im Einklang mit Gottes Scharia ist« hinzuzusetzen. Abgesehen davon, daß eine ernsthafte Auseinandersetzung mit allen notwendigen Staatsanliegen und eine klare Definition für das Wesen des Staates fehlen, läßt eine derart elastische Formulierung jegliche Interpretation und undemokratische Handhabung zu und wird daher der Aufgabe einer Verfassung nicht gerecht. Sollte dieser Verfassungsentwurf bei dem Referendum tatsächlich angenommen werden – was durchaus möglich ist, mit legalen wie auch illegalen Mitteln, wird die neue Revolution an Kraft gewinnen.

Wird sich die Opposition am Referendum beteiligen?

Gabriele Habashi: Auch wenn ein Boykott des Referendums großer Bevölkerungsgruppen eine klare Antwort wäre, kann man davon ausgehen, daß die herrschende Macht eine Wahl gelten ließe, selbst bei geringer Wahlbeteiligung, daher macht es Sinn, wenn die Opposition zur Wahl geht und mit »Nein« stimmt.

Mamdouh Habashi: Im Augenblick läuft eine heftige Debatte unter den Widerständlern, die einen wollen boykottieren, die anderen wählen und Nein sagen. Diese Diskussion ist noch nicht entschieden und hält die Bevölkerung in Atem.

Welche Chancen gibt es, die Verfassung zu stoppen?

Mamdouh Habashi: Wir werden nichts unversucht lassen, die Legalisierung dieses lächerlichen Versuchs, den Staat an sich zu reißen, zu stoppen. Dies wird nur durch organisierten Aufstand gehen.

Aber die Opposition ist doch reichlich zerstritten, wie läßt sich das erreichen?

Gabriele Habashi: Opposition hieß vor der Revolution generell, Opposition zum Regime Mubarak. Verschiedene Gruppen hatten jedoch verschiedene politische und soziale bzw. gesamtgesellschaftliche Zielsetzungen. Erst nach der Revolution kamen diese Unterschiede zum Tragen.

Heute bedeutet Opposition wieder Gegnerschaft zum herrschenden Regime, dieses Mal sind das die Islamisten. Auch hier unterscheiden sich die verschiedenen Gruppen und Ausrichtungen. Nehmen wir die Linken. Es hat sehr viele verschiedene linke Parteiengründungen gegeben nach der Revolution 2011, da sich die Gruppen unterscheiden in ihrer Position zu Israel, zur Zusammenarbeit mit den Muslimbrüdern oder in ihrer Haltung zu Überbleibseln des alten Regimes.

Mamdouh Habashi: Mittlerweile haben die Linken erkannt, daß sie zusammenarbeiten müssen, um ein starkes Gegengewicht zu bilden, und daß sie ihre Unterschiede unter sich klären müssen.

Warnungen werden laut, Ägypten befinde sich auf dem Weg in einen Bürgerkrieg. Teilen Sie diese Befürchtung?

Mamdouh Habashi: Ja. Wenn die Islamisten ihren Kurs weiter durchziehen, werden politische Veränderungen nur mit einem blutigen Krieg auf den Straßen durchzusetzen sein.

Gabriele Habashi: Ich hatte anfangs die Befürchtung, es würde schon jetzt Bürgerkrieg geben, doch dann habe ich die Ägypter aller Gesellschaftsklassen und religiösen Ausrichtungen auf dem Tahrir-Platz in Kairo zusammenstehen sehen, wie zu Zeiten der Revolution, und ich habe Hoffnung geschöpft.

Mamdouh Habashi: Dennoch wird es am Ende nicht zu vermeiden sein, daß sich ein Bürgerkrieg entwickelt, wenn das Volk vollständig entmachtet wird. Es liegt an den Muslimbrüdern, wie weit sie gehen wollen.

Interview: Rüdiger Göbel

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 06. Dezember 2012


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