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Auf die Straße für und gegen Mursi

Ägypten erwartet Kundgebungen zum Amtsjubiläum des Staatschefs

Von Roland Etzel *

In Kairo versammelten sich am Freitag Anhänger und Gegner des ägyptischen Präsidenten Mursi zu neuen Demonstrationen. Die Wortführer der Opposition lehnen einen Dialog mit ihm ab.

»Ich will Präsident aller Ägypter sein!«, hatte Mohammed Mursi den erwartungsvoll versammelten Kairoern einst zugerufen, nachdem die Wahlkommission seinen deutlichen Sieg verkündet hatte. Das war am 30. Juni vor Jahresfrist, nachdem er seinen Amtseid abgelegt hatte. Gesagt haben das schon viele Staatsoberhäupter, und vielleicht hat Mursi sogar selbst daran geglaubt, dass er es sein kann. Gelungen ist es ihm auf jeden Fall nicht.

Nachdem es bereits am Mittwoch und gestern erneut leidenschaftliche Kundgebungen gegen Mursi in den Megastädten Alexandria und Kairo gegeben hatte – und einige auch für ihn –, spitzt sich jetzt alles auf den ersten Jahrestag der Amtsübernahme, den Sonntag, zu. Beide Lager scharen ihre Aktivisten hinter sich – ähnlich wie vor einem halben Jahr, als es um die neue, stark islamisch geprägte Verfassung ging. Bisher sind zwei Todesopfer als Folgen des Aufeinandertreffens beider Lager auf der Straße zu beklagen. Gemessen an der Gesamtzahl der Opfer politisch motivierter Gewalt der vergangenen zwei Jahre darf man das als glimpflich bezeichnen.

Das Gefährliche an der Situation ist momentan wohl ihre Ausweglosigkeit. Mursis öffentliche Reden der jüngsten Zeit schwanken in ihren Grundaussagen zwischen Drohen und Versöhnen, schon das ein Zeichen von Konzeptionslosigkeit und Schwäche. Seit dem international honorierten Erfolg bei der Vermittlung eines Waffenstillstandes zwischen Israel und den Palästinensern in Gaza im Herbst sinkt Mursis Stern. Die konträren Positionen zu einigen Kernpassagen der neuen Verfassung vermochte er nicht anzunähern. Von dem versprochenen »nachbereitenden Dialog« war bislang nichts zu hören. Der Konflikt flaute zwar ab, war aber nur scheinbar beendet und flammt bei jeder Gelegenheit wieder auf; zuletzt bei der Verkündung der Todesurteile gegen die vermeintlich Schuldigen des Massakers in einem Fußballstadion.

Aber auch die Opposition hat keine klare Strategie. So berechtigt ihre Forderungen nach demokratischen Freiheitsrechten erscheinen mögen, so wenig ist sie offenbar in der Lage, die von islamischen Lebensgrundsätzen geprägten Bevölkerungsmehrheit für ihre Vorstellungen zu gewinnen. Wohl deshalb vermeidet die Opposition die Formulierung politischer Ziele und zentriert ihre Kritik auf Mursi als Person. So forderte am Donnerstag der Friedensnobelpreisträger und Chef der oppositionellen Nationalen Rettungsfront, Mohamed el-Baradei, nach einer Rede Mursis an die Nation die Forderung nach einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl.

Mursi hatte laut AFP erneut einen »nationalen Dialog« versprochen und vor »Lähmung« und »Chaos« angesichts der »Polarisierung« im Land gewarnt. Auch räumte er ein, »viele Fehler« gemacht zu haben. Doch Baradei lehnte das Dialogangebot Mursis ab.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle hat sich besorgt über die Lage in Ägypten geäußert. Aus seiner Sicht, zitiert ihn AFP, handle es sich um eine »absolut wichtige Stunde der Bewährung« im politischen Wandel des Landes. Der Außenminister forderte alle Akteure und Parteien in Ägypten auf, jeglichen Gewaltausbruch zu verhindern. Ägypten brauche vor allem Reformen, damit die wirtschaftliche Lage sich bessere und die Menschen eine »echte Zukunftsperspektive« bekämen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 29. Juni 2013

Mursi ein Jahr an der Macht

Zwölf Monate – geprägt von Krisen und Gewalt

24. Juni 2012: Die Wahlkommission erklärt Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft zum Stichwahlsieger über den ehemaligen Ministerpräsident Ahmed Schafik. Am 30. Juni legt Mursi seinen Amtseid ab.

12. August: Mursi setzt Verfassungszusätze außer Kraft, mit denen seine Macht zugunsten des Militärs eingeschränkt wurde.

22. November: Dem Verfassungsgericht spricht Mursi die Kompetenz ab, über die Rechtmäßigkeit des von islamischen Parteien dominierten Verfassungskomitees zu entscheiden.

23./24. November: Die Empörung unter Mursis politischen Gegnern wächst. Hunderttausende gehen auf die Straße.

29. November: Im Eilverfahren zieht das Verfassungskomitee seinen Entwurf durch. Islamisches Recht soll Hauptquelle der Gesetzgebung sein. Die Massenproteste halten an.

25. Dezember: Laut Wahlkommission waren 63,8 Prozent der Wähler für die Verfassung.

25. Januar: Am zweiten Jahrestag des Beginns der Demonstrationen gegen Präsident Hosni Mubarak protestieren landesweit mindestens 500 000 Ägypter gegen Mursi.

26. Januar: 21 Personen werden wegen Beteiligung an Fußballkrawallen, bei denen im Februar 2012 in Port Said 74 Menschen starben, zum Tode verurteilt. Nach dem Urteil eskaliert in Port Said die Gewalt. Es gibt Dutzende Tote und Hunderte Verletzte.

11. Februar: Am zweiten Jahrestag des Rücktritts Mubaraks gehen mehr als zehntausend Ägypter auf die Straße. In mehreren Städten kommt es in den folgenden Wochen immer wieder zu gewalttätigen Protesten.

2. Juni: Das oberste Verfassungsgericht spricht dem Oberhaus des Parlaments die Legitimität ab. Auch die Verfassung sei unter nicht gesetzeskonformen Umständen zustande gekommen, heißt es.




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