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Mursis Sieg

Ägyptischer Präsident versetzt den Chef des Obersten Militärrates und dessen Stellvertreter in den Ruhestand

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Mit der überraschenden Pensionierung des langjährigen Verteidigungsministers und Chefs des Obersten Militärrats (SCAF), Generalfeldmarschall Hussein Tantawi, hat der ägyptische Präsident Mohammed Mursi einen Sturm der Begeisterung bei seinen Anhänger und Teilen der ägyptischen Opposition ausgelöst. Anhänger der Muslimbruderschaft, der Mursi angehört, strömten am Sonntag abend auf den Tahrir-Platz und feierten den Präsidenten. Der hatte am Vormittag überraschend Tantawi und dessen Stellvertreter, Generalstabschef Sami Annan, in den Ruhestand versetzt. Tantawi hatte nach dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak den Obersten Militärrat geleitet, der 17 Monate lang die oberste Autorität in Ägypten war. Beide in den Ruhestand versetzten Militärs wurden zu Beratern des Präsidenten ernannt, was ihnen ein weiteres Einkommen sichert.

Die Entscheidung sei im Einvernehmen getroffen worden, sagte General Mohamed Al-Assar der Nachrichtenagentur Reuters. Ebenfalls in den Ruhestand versetzt wurden die Kommandeure der Marine, Luftwaffe und Luftverteidigung. Der bisherige Kommandeur der Marine, Generalleutnant Mohan Mameesh, wurde zum Vorsitzenden der Gesellschaft für den Suez-Kanal gemacht. Die Gebühren für die Nutzung der wirtschaftlich und militärstrategisch wichtigen Wasserstraße gehören zu den wichtigsten Einnahmequellen Ägyptens.

Mursi erklärte außerdem alle Sonderverfügungen des Obersten Militärrates für ungültig, mit denen sich die Generäle am 17. Juni weitgehende politische Befugnisse angeeignet hatten. Auch die Erklärung, daß der Präsident keine Entscheidungen in Sachen Militär treffen dürfe, wurde gestrichen. Das Militär darf demnach keine Sonderrechte in Sachen der Gesetzgebung, des Etats oder in anderen politischen Entscheidungen für sich beanspruchen.

Als Nachfolger Tantawis und neuen Verteidigungsminister ernannte der Präsident Abdel-Fattah Al-Sissi. Zu seinem eigenen Stellvertreter ernannte Mursi den Richter Mahmoud Mekki. Ägyptische Medien bezeichneten die Entscheidung Mursis als »revolutionär«. Die »Muslimbruderschaft ist offiziell an der Macht«, hieß es in der Zeitung Al Watan. Al-Masri Al-Youm schrieb: »Mursi greift nach der ganzen Macht«.

Er habe nicht vorgehabt, einzelnen Personen Unrecht zu tun oder der Institution des Militärs zu schaden, erklärte Mursi am späten Sonntag abend in der Al-Azhar-Moschee in Kairo. Ziel der Entscheidung sei gewesen, »Ägypten mit einer neuen Generation und neuem Blut in eine bessere Zukunft zu führen«.

Beobachter werten die Entscheidung Mursis als Sieg der ägyptischen Muslimbruderschaft über das Militär. Oppositionelle hatten sich nach dem »Türkischen Vorbild« von der Muslimbruderschaft dieses deutliche Zeichen gewünscht, um die allmächtige Rolle des Militärs einzudämmen. »Er ist ein starker Präsident, und er übt seine Autorität aus«, sagte Mourad Ali von der Partei für Gerechtigkeit und Freiheit, mit der die Muslimbruderschaft die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Ägypten für sich entscheiden konnten. Ohne die Zustimmung der USA, die das ägyptische Militär mit Milliardensummen jährlich unterstützt, dürfte Mursi diese Entscheidung nicht getroffen haben.

Noch finanzkräftigere Unterstützer haben Mursi und die Muslimbruderschaft indes in Doha (Katar). Das Scheichtum wird voraussichtlich noch vor dem islamischen Fest Eid Al-Fitr, mit dem der Fastenmonat Ramadan am kommenden Wochenende endet, 500 Millionen US-Dollar an die ägyptische Zentralbank überweisen, um die wirtschaftliche Lage des Landes zu stabilisieren. Darauf hatten sich der ägyptische Präsident Mohammed Mursi und der Emir von Katar, Hamad Bin Khalifa-Al-Thani, vor wenigen Tagen in Kairo geeinigt. Die Summe ist nach Angaben des ägyptischen Finanzministers Mumtaz Al-Saeed eine erste Anzahlung von insgesamt zwei Milliarden US-Dollar. Angeblich will auch Libyen die ägyptischen Finanzen stärken, wie es im Finanzministerium in Kairo hieß. Das Geld wird dringend gebraucht, um den öffentlichen Sektor zu finanzieren, Gehälter zu zahlen und um eine weitere Abwertung der ägyptischen Währung zu stoppen. Saudi-Arabien hatte bereits im Juni 430 Millionen US-Dollar überwiesen und für Öllieferungen einen Kredit von 750 Millionen US-Dollar eingeräumt. Seit Beginn des »Arabischen Frühlings« haben Katar und Saudi Arabien große Geldsummen eingesetzt, um die Entwicklungen in ihrem Interesse zu beeinflussen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 14. August 2012


Mursi im Alleingang

Ägyptens Präsident dehnt seine Befugnisse erheblich aus

Von Oliver Eberhardt **

Ägyptens Präsident Mursi hat einen Großteil der Militärführung pensioniert und durch Vertraute ersetzt. Außerdem erklärte er Dekrete des Obersten Militärrates für nichtig, die die Macht des Staatschefs beschnitten. Unklar ist, ob er dazu überhaupt befugt ist.

Der Schritt sorgte für Jubel bei Konservativen und Kritik von Juristen: Während Tausende aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft, der Präsident Mohamed Mursi nahe steht, im Kairoer Stadtzentrum am Montag Freudenfeiern veranstalteten, diskutierten Verfassungsrechtler die Frage, ob der Präsident überhaupt dazu befugt ist. Ägypten hat nach wie vor keine gültige Verfassung.

Die Ankündigung kam so überraschend, dass niemand bisher die Frage stellte, was der Präsident darf und was nicht; so überraschend, dass selbst Mitarbeiter des Präsidenten berichten, sie hätten erst in letzter Minute von den Veränderungen erfahren, wobei man allerdings bereits damit gerechnet habe, dass etwas bevor steht. Immer wieder habe sich Mursi am Wochenende mit Vertrauten, aber auch mit Regierungsmitgliedern und Angehörigen des Obersten Militärrates getroffen – sehr viel häufiger, als dies normalerweise der Fall ist. Dass allerdings Mursi am Ende die Militärführung feuert und die Militärführung dies hinnimmt, damit hatte niemand gerechnet.

Quellen im Umfeld von Feldmarschall Hussein Tantawi, bisher Verteidigungsminister und Vorsitzender des Obersten Militärrates, der nach der Absetzung von Hosni Mubarak Ägypten regierte, und sich nach der Wahl Mursis mit diesem einen Machtkampf lieferte, bestätigen, dass der Schritt abgesprochen gewesen sei. »Es ist deutlich geworden, dass das bisherige Modell keine Zukunft hat«, heißt es. Tantawi werde Mursi als Berater zur Verfügung stehen, und »gemeinsam mit ihm die dringenden Probleme des Landes angehen «.

Es ist gut möglich, dass darin tatsächlich die Ursache für die Umbesetzungen liegt: Ägypten steht vor der Staatspleite; internationale Geldgeber machen Finanzhilfen von einer Beilegung des Machtkampfes zwischen Präsident und Militärrat abhängig. Der finanzielle Engpass hat dabei nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die soziale Lage im Land, sondern auch auf die Sicherheit. Im August wurden die Löhne der Soldaten verspätet, und nur zum Teil ausgezahlt – und dies in einer Situation, in der viele Militärangehörige vor dem Hintergrund der Ermordung von 16 Soldaten auf Sinai ohnehin schon wütend auf die Regierung sind, die Hinweise auf einen Anschlag klein geredet hatte.

Doch die Veränderungen bedeuten auch, dass Ägypten nun wieder einen Schritt näher an autokratische Verhältnisse herangerückt ist. Mursi kann nun, mit einem von eigenen Vertrauten geführten Sicherheitsapparat und einem Parlament im Rücken, in dem »seine « Muslimbruderschaft, die Mehrheit hat, nahezu ungehindert regieren.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 14. August 2012


Wunder von Kairo

Präsident Mursi wagte die Machtprobe

Von Werner Pirker ***


Noch bei der Bestellung der neuen ägyptischen Regierung Anfang Juli sah alles nach ungebrochener Machtkontinuität aus. Der von Präsident Mohammed Mursi ernannte Premierminister Hirscham Kandil besetzte alle Sicherheitsressorts mit Vertrauten des Obersten Militärrates (SCAF). Doch hinter den Kulissen fand in den letzten Tagen offenbar eine Machtverschiebung statt, die in der vom Präsidenten verfügten Absetzung des SCAF-Vorsitzenden Mohammed Hussein Tantawi als Verteidigungsminister und Armeechef ihren spektakulären Höhepunkt fand. Zudem hob der Präsident die Verfassungszusätze auf, über die der Militärrat seine Vorherrschaft festzuschreiben gedachte.

Da stellt sich natürlich die Frage, woher Mursi die Macht bezieht, mit einem Paukenschlag den scheinbar allmächtigen Juntachef abzuservieren und die auf die Machterhaltung der Generäle gerichteten Verfassungsartikel für ungültig zu erklären. Schien es doch noch einen Tag zuvor so, als befände sich die materielle Macht ausschließlich in den Händen der Junta, während Präsident und Teile der Regierung nur die zivile Fassade einer Militärdiktatur abgeben würden. So war Feldmarschall Tantawi noch bevor der neue Präsident sein Amt angetreten hatte, vom Militärrat zum Verteidigungsminister ernannt worden. Seine Absetzung durch den Präsidenten war wie ein Staatsstreich oder besser: die Abwehr eines Staatsstreiches. Doch auch der neue Minister für Verteidigung, bis dahin Chef des militärischen Geheimdienstes, gehört dem Militärrat an.

Das läßt darauf schließen, daß der Präsident nicht alle Verbindungen zum SCAF kappen will, er sogar im Einklang mit Teilen der Militärhierarchie handelt. Mursi, der neben dem Armee- und dem Generalstabschef auch die Spitzen der Marine und der Luftwaffe absetzte, hat sich immerhin Befugnisse angeeignet, die der Militärrat für sich allein reserviert hatte. Das heißt, daß der eigentliche Umsturz innerhalb der Junta selbst stattgefunden haben muß. So ganz freiwillig dürfte die von den Generälen an sich selbst vorgenommene Machtamputation indes nicht erfolgt sein.

Ägypten erhält nach Israel die größte Militärhilfe aus den USA, weshalb seine Armee politisch weitgehend unter amerikanischem Kommando steht. Washington und Konsorten, die anfangs auf die arabischen Umbrüche äußerst unsicher reagierten, haben inzwischen die Kontrolle über das Geschehen wiedererlangt. Das ging nur im Zusammenwirken mit islamistischen Kräften. Die massive westliche Einflußnahme auf die Protestbewegungen in Libyen und Syrien bewirkte die konterrevolutionäre Wende des arabischen Aufruhrs. In Ägypten hingegen ist die revolutionäre Volksbewegung noch zu keinem Ende gekommen. Da die Junta sie auf Dauer nicht unterdrücken hätte können, empfahl sich auch am Nil der politische Islam als die für den Westen günstigste Option. Daraus läßt sich wohl Mursis wundersamer Machtzuwachs erklären.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 14. August 2012


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