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Mursi vor dem Aus

Ägypten: Proteste gegen Regierung ebben nicht ab. Armee stellt Ultimatum, Opposition ruft zum Generalstreik auf. Außenminister zurückgetreten

Von Sofian Philipp Naceur, Kairo *

Der anhaltende Machtkampf zwischen Regierungslager und Opposition in Ägypten verschärft sich. Die Massenproteste der Regierungsgegner, bei denen seit Sonntag Millionen Menschen gegen Staatspräsident Mohammed Mursi demonstrieren, haben die Armee auf den Plan gerufen. Am Montag nachmittag stellte die Militärführung »allen politischen Kräften«, ein Ultimatum. Schafften es Regierung und Opposi­tion innerhalb von 48 Stunden nicht, die Krise zu lösen und die »Forderungen des Volkes zu erfüllen«, werde die Armee einen Fahrplan für die politische Zukunft des Landes vorlegen. Mursi wies das Ultimatum in der Nacht zu Dienstag zunächst zurück. Am gestrigen Nachmittag traf sich der Präsident dennoch mit Armeechef und Verteidigungsminister General Abdel Fattah Al-Sisi, um »über die aktuellen politischen Entwicklungen zu beraten«.

Zwar betonte Armeesprecher Ahmed Ali, daß ein Putsch keine Option sei. Doch das Militär hält sich alle Optionen offen. Bereits nach der Revolution 2011, die den Autokraten Hosni Mubarak zum Sturz brachte, hatte die Armee die Macht übernommen. Der Oberste Militärrat (SCAF) bezeichnete das damals als vorübergehende politische Notwendigkeit, um die Stabilität Ägyptens zu garantieren. Faktisch war es jedoch ein versteckter Staatsstreich. Bis zu Mursis offizieller Übernahme des Präsidentenamtes im Juli 2012 regierte der SCAF mit harter Hand und schlug Demonstrationen und Streiks wiederholt mit Gewalt nieder. Trotzdem sind viele Menschen einer erneuten Machtübernahme der Streitkräfte nicht abgeneigt. Die Armeehubschrauber, die am Montag über den Tahrir-Platz flogen, wurden von vielen Demonstranten mit Jubel begrüßt. Zahlreiche Oppositionsparteien lehnen eine Machtübernahme der Armee jedoch strikt ab. Die »Front des 30. Juni«, ein Aktionskomitee aus Parteien, Gewerkschaften und Jugendgruppen, die für die Proteste mobilisiert hatten, rief derweil zu zivilem Ungehorsam und zum Generalstreik auf. Man werde die Demonstrationen erst beenden, wenn Mursi zurückgetreten sei.

Der Präsident hält an seinem Amt fest, mußte aber mit dem Rücktritt von Außenminister Mohammed Kamel Amr am Dienstag einen weiteren schweren Rückschlag hinnehmen. Der gemäßigte Technokrat ist bereits das sechste Kabinettsmitglied, das seit Montag sein Amt niedergelegt hat. Zudem erklärte das höchste Kassationsgericht die Ernennung des Generalstaatsanwalts Talaat Abdullah für ungültig. Mursis Macht bröckelt. Selbst die salafistische Partei »Das Licht«, ein politischer Verbündeter und Mehrheitsbeschaffer seiner Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), fordert inzwischen Neuwahlen, um einen »Bürgerkrieg« zu verhindern. Die Partei, die sich weder an Protesten gegen die Regierung noch Solidaritätskundgebungen für Mursi beteiligt hatte, hofft, der gemäßigt islamistischen FJP bei den nächsten Wahlen Stimmen abzujagen.

Der »Bürgerkrieg« droht mehr denn je. Die Mursi unterstützenden Muslimbrüder haben ihrerseits angekündigt, verstärkt auf die Straße zu gehen, was den Gewaltkreislauf weiter anheizen dürfte. Augenzeugen berichteten der Nachrichtenagentur Reuters bereits von »fortwährenden Schußwechseln« zwischen Regierungsanhängern und Gegnern in der Stadt Suez. Seit Sonntag sind bei den Protesten mindestens 16 Menschen ums Leben gekommen und 800 verletzt worden.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 3. Juli 2013


Generale spielen Sphinx

Krisensitzung in Kairo: Auf wessen Seite wird die Armee in Ägyptens Machtgefüge eingreifen?

Von Roland Etzel **


Die politische Krise in Ägypten hat sich am Dienstag weiter vertieft. Das Machtwort der Armee vom Montag wurde von dieser zwar bekräftigt, führte aber bislang zu keinerlei erkennbaren Bemühungen der rivalisierenden politischen Lager zur Entschärfung der explosiven Lage.

Das Ultimatum der ägyptischen Generale an die politischen Dauerkontrahenten, sich innerhalb von zwei Tagen aufeinander zu zu bewegen, hat sowohl die Opposition als auch die Präsidentschaft äußerlich unbeeindruckt gelassen. In maßgeblichen ägyptischen Medien sieht man sich aber in der Wahrnehmung bestätigt, dass die Verwarnung, die das Militär ausgesprochen hatte, zwar sowohl an Mursi als auch die Oppositionsführer gerichtet war. Allerdings vermeint man, in der »Gelben Karte« an den Präsidenten schon einen deutlichen Rotschimmer erblicken zu können.

Was die Drohung der Generale offensichtlich beschleunigt hat, ist auf jeden Fall ein weiterer Zerfall der politischen Strukturen. Immer mehr hohe und mittlere Amtsträger, die Präsident Mohammed Mursi im Verlaufe der vergangenen zwölf Monate gerade erst ernannt hatte, kündigen ihm die Gefolgschaft. In Kairo gaben sich abspringende Regierungsmitglieder die Klinke in Hand. Nach Verlautbarungen des Kairoer Kabinettsprechers reichten die Minister für Kommunikation, Tourismus, Umwelt und Justiz bereits am Montagabend gemeinsam bei Ministerpräsident Hischam Kandil ihren Rücktritt ein. Tourismusminister Hischam Sasu hatte seine Demission schon vergangene Woche angekündigt, nachdem Mursi einen islamistischen Hardliner zum Gouverneur der Touristenregion Luxor ernannt hatte.

In der Nacht zu Dienstag warf nun sogar Außenminister Mohammed Kamel Amr hin.

Auch an der juristischen Front – ohnehin ein Dauerkampffeld des Präsidenten – setzte es eine Niederlage für ihn. Wie dpa berichtet, erklärte das höchste Kassationsgericht Ägyptens die Ernennung von Talaat Abdullah zum Generalstaatsanwalt durch das Staatsoberhaupt für ungültig. Die Richter ordneten zudem die Rückkehr des im November entlassenen obersten Strafverfolgers Abdel Meguid Mahmud an.

Viel bleibt da nicht mehr an staatlicher Struktur, auf die sich ein Präsident gewöhnlich stützen kann. Das gilt insbesondere für die bewaffneten Kräfte. Die Polizei und noch mehr die Geheimpolizei sind aufgrund der noch gut erinnerlichen Brutalitäten während des Umsturzes 2011 so sehr diskreditiert, dass sich ihre jetzigen Kommandeure merklich zurückhalten. Die heutigen Jäger könnten morgen schon die Gejagten sein.

Die große Unbekannte aber ist Ägyptens Generalität. Einmal mehr zeigt sie sich als wahrhafte Sphinx. Einerseits hat sich die Armee in einer Weise zu Wort gemeldet, die in jedem anderen Land als Vorstufe zum Staatsstreich eingestuft worden wäre. Dort freilich weist man den Gedanken weit von sich, das Militär habe mit seinem Ultimatum an die zerstrittenen politischen Parteien einen Putsch vorbereitet. Ihr gehe es lediglich darum, die verschiedenen Lager zu einem Kompromiss zu führen, erklärte die Armeeführung am Montagabend laut dpa.

Ahmed Normalverbraucher wird diese Beteuerungen kaum überbewerten. Sehr gut erinnert man sich noch daran, wie Feldmarschall Mohammed Tantawi im Februar 2011 seinem einstigen Generalskollegen Husni Mubarak die Treue erst schwor und dann kündigte. Damals drohte die hohe Wertschätzung, die Militärführer in Ägypten traditionell besitzen, an der wachsenden Unbeliebtheit des Staatschefs zu scheitern.

Im Volk ist dieser Glaube an »die guten Militärs«, die – in der öffentlichen Wahrnehmung völlig unbeachtet – in Ägypten ganze Industriezweige lenken, ungebrochen. Und die derzeit recht schweigsamen Spitzen der Protestbewegung klammern sich nur zu gern an diesen Gedanken in der Hoffnung, der Zorn der Generale treffe erneut einen in Bedrängnis geratenen Präsidenten.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 3. Juli 2013


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