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"Israel sollte Ägyptens Diktator nicht nachtrauern"

Der Volksaufstand in dem arabischen Land muß Anlaß sein, die bisherigen Feindbilder zu überdenken. Ein Gespräch mit Yossi Sarid


Yossi Sarid (70) war israelischer Bildungs- und Umweltminister. Von 1974 bis 2006 gehörte er dem Parlament seines Landes an. Von 1996 bis 2003 führte er die linkszionistische Meretz-Partei.

Was sagen Sie als israelischer Politiker zu den Massenprotesten in Ägypten und zum erzwungenen Rücktritt des ägyptischen Diktators Hosni Mubarak?

Bei uns in Israel sehen viele Menschen die arabische Welt als feindseligen Monolithen. Wir haben das Bild von Kundgebungen und Demonstrationen bärtiger Araber im Kopf, die zum Heiligen Krieg gegen den zionistischen Feind aufrufen.

Bei der Revolte in Ägypten ist das aber ganz anders – diese vor allem aus jungen Leuten bestehende Welt schlägt Israel gegenüber andere Töne an, denen wir auch zuhören sollten. Israel sollte Ägyptens Diktator Mubarak jedenfalls nicht nachtrauern.

Viele Politiker in Tel Aviv und ganz besonders die Vertreter der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sehen das ganz anders ...

Zu denen gehöre ich nicht. Ich erkenne durchaus die Rolle an, die Mubarak bei der Aufrechterhaltung der – wenn auch zerbrechlichen – Stabilität im Mittleren Osten gespielt hat. Trotzdem weine ich ihm keine Träne nach, weil ich der Meinung bin, daß die Ereignisse der vergangenen Wochen in Ägypten etwas Epochales sind. Sie stellen die früheren Gewißheiten in Frage und zwingen alle dazu, über sich selbst neu nachzudenken. Uns Israelis eingeschlossen.

Einige Kommentatoren haben den ägyptischen Volksaufstand als Sozialrevolte bezeichnet, die »aus dem Bauch« kommt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Nein, diese Sichtweise ist mir zu verkürzt. Es ist ja nicht nur demütigend, keine Arbeit zu haben und von umgerechnet zwei Dollar pro Tag leben zu müssen – demütigend ist es auch, das politische Leben nicht beeinflussen zu können, eine Wahlfälschung nach der anderen zu erleben und unter der Zensur leiden zu müssen. Gegen all das haben Millionen Ägypter jetzt rebelliert. Sie haben Demokratie gefordert – nicht Brot. Das ist von enormer Bedeutung, denn bisher galt der islamische Fundamentalismus als einzige Alternative zu den bisherigen Regimen. Und manch einer hat sogar gehofft, daß das so bleibt.

Wen meinen Sie damit?

Die Nostalgiker des »Clashs der Kulturen« und diejenigen, die das Schreckgespenst des Fundamentalismus bemühten, um den gegenwärtigen Status quo aufrechtzuerhalten.

Ist dieser Vorwurf auch an die Adresse Israels gerichtet?

Auf jeden Fall. Das Schreckensbild arabischer Menschenmassen, die sich von Fanatikern aufhetzen lassen und Flaggen mit dem Davidsstern verbrennen, hat dazu gedient, eine Wagenburgmentalität zu rechtfertigen. Es hat auch die Behauptung gerechtfertigt, den Arabern könne man unmöglich trauen.

Wie oft haben wir hören müssen, daß israelische Politiker auf Kritik an der Politik meines Landes entgegneten: »Wir verstehen Euch, aber Ihr solltet nicht vergessen, dass wir die einzigen Demokraten im Mittleren Osten sind!« Die Menschen auf dem Kairoer Tahrir-Platz haben uns jetzt aber gezeigt, daß wir keineswegs die einzigen sind – und das bringt diejenigen in Schwierigkeiten, die in Israel am Ruder sind. Damit wird nämlich ihre Doppelzüngigkeit bloßgestellt.

Wen meinen Sie konkret?

Netanjahu zum Beispiel. Der Ministerpräsident hat oft pathetisch erklärt, wahrer Frieden sei nur in der Demokratie möglich. Und jetzt, wo Ägypten als bevölkerungsreichstes arabisches Land genau diese Demokratie anstrebt, trauert Netanjahu dem Regime Mubaraks nach und hofft, daß die Macht für immer in den Händen der ägyptischen Streitkräfte bleibt.

Die im palästinensischen Gaza-Streifen regierende Hamas hat den Aufstand in Ägypten hingegen begrüßt ...

In Worten! Aber in Wirklichkeit fürchtet sie die Ansteckungsgefahr.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, 21. Februar 2011


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